Christian Kracht: „Eurotrash“

Ein Buch für niemandem und keinen. (Spiegel Belletristik-Bestseller 11/2021)

Folgt man den Ausführungen Francois Lyotard in „Das postmoderne Wissen“ befinden wir uns in einer Zeit nach dem Ende großer Erzählungen, d.h. in der nur noch sich selbst transparente, oder untote Erzählungen hin und her geistern, kleine Erzählungen voller verwobener und irrelevant gewordener Details existieren können. Mischt man dazu noch Walter Benjamins „Erfahrung und Armut“ in die These, würzt sie mit der Schweiz, dem Nationalsozialismus, Demenz und Familienproblematik, sexuellen Missbrauch und Sadomasochismus, und garniert dieses Gebräu mit Anekdoten aus dem Spiegel-Magazin der letzten sieben Jahrzehnte, so erhält man, schüttelt und rüttelt man nur genug, den neuen Roman von Christian Kracht: „Eurotrash“, der auch von einer künstlichen Intelligenz geschrieben werden hätte können [siehe hierfür Daniel Kehlmann: „Mein Algorithmus und ich“].

Eine vernichtende Kritik für diesen Kurzroman zu schreiben fällt genauso leicht, wie ihn über den grünen Klee zu loben. Beide, sowohl die lobhudelnde, entlastende, wie die anprangernde, politisierende Kritik missverstehen aber den Kommunikationsbeitrag von Christian Kracht grundlegend. Er hat keinen Roman vorgelegt, sondern eine Loseblattsammlung bestehend aus Assoziationen, die er ungefiltert mitteilt, als würde er seine Gedanken beim täglichen Google-News-Lesen in ein Diktiergerät sprechen. Was diesem Literaturbeitrag fehlt, ist mit anderen Worten der Beobachter, der sich beobachtet, während er andere beobachtet – um es systemtheoretisch mit den Worten Niklas Luhmanns zu sagen:

Jede Beobachtung muss ihre eigene Paradoxie entfalten, das heißt, durch eine hinreichend funktionierende Unterscheidung ersetzen. […] Dann lässt sich aber der »autologische« Rückschluss auf das eigene Beobachten nicht vermeiden.

Niklas Luhmann aus: Gesellschaft der Gesellschaft.

In der Literatur besteht diese Autologik darin, dass eine Erzählposition bewusst gewählt und den Leser als Rahmen zur Verfügung gestellt wird, innerhalb dessen sich das Erzählte abspielt, seine Grenzen findet und Gestaltungsspielräume erhält. Genauer gesagt: Es gibt ein implizit oder explizit gegebenes Gegenüber, das Verantwortung für das Gesprochene übernimmt. Just auf diese Setzung verzichtet Kracht komplett, und so nimmt es Wunder, dass er mit Thomas Bernhard verglichen wird. Dieser nämlich erzeugt ein sich reflektierendes, durchweg vorhandenes Ich, das all seine Worte begleitet:

Auch hier war nicht aufgeräumt worden, was denken sie sich, dachte ich, die, soviel ich weiß, wenig zu tun haben den ganzen Tag und nicht einmal das Badezimmer des Vaters aufräumen, nicht einmal, wenn er tot ist, es der Mühe wert finden, sein Badezimmer in Ordnung zu bringen, das Wort Pietät fiel mir ein, ich ließ es aber sofort wegen seiner Widerwärtigkeit fallen, ich schied es aus meinen Überlegungen ganz einfach aus, ich dachte nur, daß es unheimlich ist, sehen zu müssen, daß das väterliche Badezimmer schon fast zwei Tage nach dem Tod des Vaters noch nicht aufgeräumt ist, daß sie auch das vergessen haben, die sogenannte Trauer rechtfertigt sie aber, dachte ich.

Thomas Bernhard aus: Auslöschung – Ein Zerfall.

Auch in „Eurotrash“ geht es um Trauer, Verlust, um eine Familie, die vor dem Scherbenhaufen ihrer Vergangenheit steht, um einen verstorbenen Vater mit Nazi-Vergangenheit, um eine Mutter, die sich betrinkt, um Reichtum, Armut, Leere und Verzweiflung. Im Gegensatz jedoch zu Thomas Bernhard artikuliert sich kein erzählendes Ich.

Ich hatte das Gefühl, ich hätte mein Leben lang nur Plattitüden von mir gegeben. Nein, ich wusste, ich hatte mein Leben lang nur Plattitüden von mir gegeben. Niemals war irgendetwas, was ich sagte, auf irgendeine Weise relevant gewesen, nie konnte mein Gesprochenes es mit meinem Inneren aufnehmen.

Christian Kracht

Das erzählende Ich versteckt sich. Es sagt, es schweigt.

Nein, ich war nicht sprachlos. Ich schwieg einfach lieber, wie alle immer geschwiegen hatten in meiner Familie, wie alle lieber alles heruntergeschluckt und verborgen und geheimgehalten hatten, ein ganzes totes, blindes, grausames Jahrhundert lang.

Christian Kracht

Aber das versprachlichte Schweigen, d.h. das Zugeben, dass man schweigt, ist noch lange kein Reden. Genauso wenig lügt man, wenn man behauptet, alle lügen. Wer expliziert, dass er/sie nicht kommunizieren möchte, kommuniziert nicht. Er/Sie spricht lediglich ein Machtwort, um die Kommunikation zu beenden. Die Paradoxie wird nicht entparadoxiert, indem sie benannt wird, sondern indem sie Unterscheidungen ermöglicht, anbietet, die zu interessanten Beschreibungen taugen. Ein Zeichen für die gescheiterte Entparadoxalisierung ist es, dass eben jene in Krachts Text fehlen:

Die beiden [Vater und Mutter] hatten sich immer auf den länglichen dunklen Fisch geradezu gestürzt, dort am Küchentisch, unter den rot-weiß karierten Vorhängen. Es hatte etwas allzu Unanständiges, dieses Ausnehmen des Aals, das Ablutschen der Wirbelsäule, das chirurgische Entfernen, ja das Zuzeln der dunklen, schuppigen Haut. Es war immer ein zutiefst privater, intimer Moment gewesen, als habe es zwischen Vater und Mutter eine stille Übereinkunft gegeben, den Fisch als Objekt ihrer Begierde genau so zu sezieren und dann hinunterzuschlingen.“

Christian Kracht

Die Beschreibung wird durch die Bewertung des Beobachters zusammengehalten „es hatte etwas allzu Unanständiges“, ohne jedoch die Beobachtungsebene preiszugeben. Wer spricht hier von wo? Wieso ist Fisch essen „unanständig“? Was heißt „allzu“? Gibt es ein Maß für erträgliches und unerträgliches „Unanständiges“? Doch nur das Empfinden des Beobachters selbst, der jedoch hinter den „rot-weiß karierten Vorhängen“ versteckt bleibt und sich nicht zu erkennen gibt, obwohl er doch weiß, dass er einem „zutiefst privaten, intimen Moment“ beiwohnt und eben das Unanständige nicht in den essenden Eltern, vielleicht aber in seiner nicht zugegebenen Präsenz liegt. Der Erzähler streicht sich aus dem Bild und überlässt es so der vollkommenen Beliebigkeit. Ganz anders Thomas Bernhard in „Die Billigesser“:

Es hatte ihn [dem Erzähler] selbst am meisten erstaunt, dass er den wahren Wert der Billigesser so viele Jahre überhaupt nicht erkannt hatte, denn er war die ganzen Jahre, die er mit ihnen zusammen gewesen war, von ihrer allgemeinen Durchschnittlichkeit und sogenannten geistigen Wertlosigkeit (für ihn) überzeugt gewesen. Gerade diese ihre Durchschnittlichkeit und Unbedeutendheit und sogenannte geistige Wertlosigkeit hatten ihn aber angezogen gehabt.

Thomas Bernhard aus: Die Billigesser.

Der Erzähler schließt sich in die Situation, schimpft, flucht, und kritisiert wie ein Rohrspatz, ohne jedoch sich je aus den Augen zu verlieren. Er spricht. Er schimpft. Er schreibt. In „Eurotrash“ fehlt die Perspektive, das synthetisierende Ich, das sich seiner Zeit stellt, und so füllt sich die Leerstelle mit beliebigen Assoziationen, Anekdoten, Nachrichten, Markennamen und Meinungen:

Meine Güte, dieses Leben, was für ein perfides, elendes, kümmerliches Dramolett es doch war, dachte ich, während ich weiter an die Decke des Hotelzimmers starrte und sah, daß dies tatsächlich die ewige Wiederkunft war, unser Unvermögen, der Zeit einen Anfang zu setzen, aeternitas a parte ante […]

Er trug einen von diesen neonfarbenen Trainingsanzügen aus Lycra, aus denen auch Speedo-Badehosen gemacht werden, und darüber eine Fleecejacke, ebenfalls in Neonfarben, mit Streifen an der Seite, und vorne auf seinem Anzug stand Master Experience oder Terminator X oder so was.

Christian Kracht

Im konsequenten Unterlassen, die Erzählperspektive zu explizieren, fällt der Text aus allen Nähten, und was bleibt, ist ein bildungsbürgerliches Potpourri ohne Inhalt, Überzeugungskraft, ohne Empathie, Interesse, das mühelos von krokodilverseuchten Flüssen in Arusha zu einem isländischen Au-Pair-Mädchen springt, das gezwungen wird, ein SS-Mitglied mit Stacheldraht an ein Küchenstuhl zu fesseln, während dieses eine Tibet-Nazi-Mission plant, oder zur Beschreibung, wie der Erzähler auf der Suche nach Edelweiß auf einer Bergstation drei indischen Frauen 60,000 Franken vor die Füße schmeißt. Die Unentschiedenheit wird zur Tour de Force und lässt die/den Lesende/n ratlos und unbefriedigt zurück. Wenn alles Geschriebene Literatur ist, dann auch „Eurotrash“. Christian Kracht hat in diesem Sinne ein Buch für alle und jeden geschrieben, nämlich für niemanden und keinen, kein Buch, sondern ein nur künstlich ansetzendes und abrupt, unmotiviert endendes Assoziationskonglomerat.

4 Antworten auf „Christian Kracht: „Eurotrash““

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