Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (ii: Form)

Elfriede Jelinek: "Die Kinder der Toten"
Sprache gegen den Strich gelesen …

Im ersten Teil der Lesebesprechung von Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten habe ich versucht, den Plot zu rekonstruieren mit dem Ergebnis, dass der Roman hauptsächlich von drei Figuren handelt, die untot durch ein steirisches Wildalpendorf geistern: die Studentin Gudrun Bichler, die sich wegen universitären Leistungsdrucks in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat; die pensionierte Sekretärin Karin Frenzel und der Ex-Leistungssportler Edgar Gstranz, die beide bei einem Autounfall ums Leben kommen. Diese sehr grobe Rahmenhandlung wird von einer ganzseitig gedruckten Schriftrolle, einer Mesusa, eingeleitet, auf der in Hebräisch steht:

Die Geister der Toten, die solang verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder begrüßen.

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”

Bei diesem Satz handelt es sich um kein Zitat. Jelinek hat ihn selbst für dieses Buch als Motto verfasst, der zudem den Handlungsbogen des Romans als Rachegeschichte festlegt. Die Kinder der Toten steht also nach eigenen Aussagen als Gespensterroman in der Tradition der gothic novel. Spuk, Gespenster, Untote, das Unheimliche tauchen durchweg wie das Ekelhafte und Abstoßende in dem Roman auf. Nur eben nicht nur als Handlung. Jelineks Roman sollte genau 666 gedruckte Seiten umfassen, was der Verlag Rowohlt druckseitig nicht hinbekommen hat, weshalb sich in der gebundenen und Taschenbuch-Ausgabe der Roman über 666 und eine halbe Seite erstreckt. Nach der geläufigen Bedeutung handelt es sich bei dieser Zahl um die des Tieres und kommt erstmals in der Offenbarung des Johannes vor:

Und es bringt alle dahin, die Kleinen und die Großen, und die Reichen und die Armen, und die Freien und die Sklaven, dass man ihnen ein Malzeichen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn gibt; und dass niemand kaufen oder verkaufen kann, als nur der, welcher das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres! Denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist 666.

Elberfelder Bibel aus: “Offenbarung des Johannes” (13,18)

Zudem bedankt sich Jelinek explizit bei dem Satanismusforscher Josef Dvorak für seine wertvollen Anregungen. All dies zusammengenommen lässt darauf schließen, dass nicht nur die Handlung, sondern das ganze Buch als materielles Objekt einer Geisterbeschwörung gleichkommt. Die Kinder der Toten spielt mit dem Thema des Unheimlichen auf allen Ebenen: der textlichen, der materiellen, aber auch, und dies soll im Folgenden untersucht werden, auf der formalästhetischen, also im Stil und der verwendeten Sprache. Mithin fällt eher der Sprache als Gudrun, Karin und Edgar die Rolle der Protagonistin im Roman zu. Ein weitverbreitetes Zitat von Jelinek lautet:

Ich skelettiere die Sprache, um ihr die Lüge auszutreiben. Ich versuche, die Sprache selbst zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, sozusagen die Wahrheit hinter sich selbst, wo sie versucht sich zu verstecken. Die Sprache lügt ja, wo man sie lässt.

Quelle unbekannt (2002)

Dieses Zitat wird in einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften und wissenschaftlichen Abhandlungen im In- und Ausland oft verwendet, aber so gut wie nie wird eine Quelle angeben, und wenn doch, dann eine falsche. Zur Auswahl stehen bspw. das Jahr 2002 (irgendein Interview), die Rede anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises oder gar die Heinrich-Heine-Preisrede, abgedruckt im Heine-Jahrbuch 2003. Um das Unheimliche direkt anzusprechen, all diese Quellen laufen ins Leere. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass dieser Satz so nicht in der Theater- und Heinrich-Heine-Preisrede vorhanden ist. Zu ihrem Roman Die Kinder der Toten passt dieses Zitat dennoch vorzüglich, als nicht vorhandenes Zitat sogar noch besser. In diesem Sinne wird die Sprache von den verschobenen, unterdrückten Bedeutungen heimgesucht. Lücken werden in das Netz der Grammatik und Semantik gerissen. Elfriede Jelinek lässt nämlich die Toten durch die Buchstaben hindurch in die Welt zurückwandern:

Dann geht es wieder, ich weiß aber nicht was. Ich widme diese Zeilen meinen Toten: Das hölzerne Getrappel des Mädels verschwindet hinter einer Mauer aus ERDE, man hört es kaum mehr, es ist schon halb verdaut. Und die ERDE steht mühsam, ächzend auf, in Übermenschengröße, ein Schacht aus ERDE kommt auf Gudrun zu, die in ihrem Totenkasten in die Grube hinabfährt, mit einem grauenhaften Dröhnen, Krachen, Brausen, Rauschen. In Aufruhr erbebt der Boden. Zwei Schallwellen kriechen aufeinander zu, richten sich, pfauchen einander an wie Schlangen, aber es entstehen keine Interferenzen und auch nichts Ähnliches; die eine Schwingung legt sich, wie eine Peitsche, zur Ruh.

Im Vordergrund steht das Unterirdische, Verdrängte, das sich erhebt, das rebelliert und durch die Toten hindurch wieder ins Diesseits gelangt. Gudrun trägt diese Sprache. Von ihr heißt es:

Von all den Wörtern, mit denen die Philosophiestudentin früher immer mit dem Handteller statt mit dem Schläger Federball gespielt hat, ist nichts übriggeblieben als diese stummerlnde Sprache einer Mutter, der ihre hirnlosen Kinder ins Hirn geschissen haben. Sprechen ist sinnlos. Und selbst wenn: Dieses Land ist soviel Wahrheit, dieses leckere, gut durchgebratene Engelsfleisch, einfach nicht gewöhnt.

Die Sinnlosigkeit des Sprechens, das Jenseits samt Engeln, und der Chronos, hier die Sprache als Mutter, der seine Kinder auffrisst, verweisen in Die Kinder der Toten auf das formalästhetische Projekt Jelineks, nämlich dem abendländischen Gewaltzusammenhang in der Sprache und ihren Setzungen nachzuspüren. Dieses Schreibvorhaben realisiert sich auf vielfältige Weise in dem Roman. Jelinek verbindet Kalauer, Reime, verknüpft Assoziationen, Allegorien und Metaphern, um den Leseakt zu stören. Oft tauchen Wörter in Zusammenhängen auf, mit denen nicht zu rechnen gewesen ist, bspw. im obigen Zitat vom „Handteller“, also davon, dass „etwas auf der Hand liegt“ zum „Schläger“, der „Federball“ spielt. Der Eindruck entsteht, dass Gudrun, die Philosophiestudentin, statt alle Wörter mit einem Federballschläger zurückprallen zu lassen, die Wörter aufgefangen, ernstgenommen, in sich hineingelassen hat, ohne sie nun wieder loswerden, zurückwerfen, zu können. Mit anderen Worten, Gudrun nahm die Sprache zu ernst und leidet unter ihr, fühlt ihren Geist besudelt, wird die Geister aber nicht mehr los, die sie selbst gerufen hat wie die Mutter die Kinder, die sie selbst zur Welt gebracht hat.

Das Problem der Lektüre entsteht dadurch, dass es geistiger Arbeit bedarf, die Bilder zu entschlüsseln, und dass diese Arbeit beim schnellen Lesen gar nicht geleistet werden kann. Mit anderen Worten, Jelineks Schreibweise untersagt flüchtiges, unaufmerksames Lesen und schreibt selbst:

[…] der Förster weiß: man erschrickt, wenn mans [das Betonbecken] das erste Mal sieht, er weiß nicht wieso, vielleicht weil es unglaublich tief zu sein scheint, ein dunkles, träges Wasser, möglicherweise liegt es daran, dass das Becken vor langer Zeit einmal verschüttet worden ist, man erkennt nicht, wie tief es in den Boden hineingeht, ein paar Meter mögens aber schon sein, und auf ebendiese Weise ist das verbrannte Bauernhaus daneben bis zu den Fenstern des ersten Stockwerks zugeschüttet, es sollte mich freuen, wenn Sie das beim ersten Mal begriffen haben, denn ich habe mir nicht viel Mühe mit der Beschreibung gegeben und auch nicht vor, sie zu wiederholen […]

Wer Jelineks Texte zu schnell liest, bekommt nicht viel mit. Statt zu schreiben, sie habe sich keine besondere Mühe gegeben, könnte sie aber auch behaupten, sie hat ins Detail hinein, fraktalistisch sozusagen, die Bedeutungsmannigfaltigkeiten versenkt, wie in dem angegebenen Zitat das Becken auch für das der Frau stehen könnte und das Wasser für das Fruchtwasser, aus welchem heraus die Landschaft die Kinder der Toten gebiert, die zurück ins Leben, durch den Geburtskanal ins Diesseits gelangen. Das Lesen kommt jedenfalls nicht von der Stelle. Je häufiger ein Absatz gelesen wird, desto mehr hält er bereit. Fast verschnörkelt, im Rokoko-Stil, in Fresken, Ziselierungen, im Stuck hinein werden Allegorien verarbeitet und nur notdürftig mit einigen, Verständnis erheischenden Füllwörtern, in den Lesefluss, der viele Untiefen, Unterströmungen und Strudel aufweist, eingebettet. Vom typischen, eingeübten Lesen bleibt so nicht mehr viel übrig. Es gilt auf der Oberfläche des Textes entlang nach Untiefen zu suchen, um sich dort dem Sprachsog von ineinander spielenden Bedeutungswirbeln zu überlassen. Auf diese Weise werden über Rückströmungen völlig neue Assoziationen erzeugt und retrograde Bewegungen erzwungen, die den Text erst zusammenschließen lassen.

Die arme verwirrte Mutter F. kreischt wie ein Gewinde, in das sich eine Schraube fräst, die in der Größe nicht paßt und das ganze Gebilde zu sprengen droht. Ein scharfer Wind springt durchs Fenster und zeitigt die Zeit, die, ertappt, sofort zitternd stehenbleibt. Dann ruckt der Streifen im Projektor, ein unheimlicher Zug nach vorn und rückwärts zugleich, wofür wird er sich entscheiden? Geht es weiter zurück oder zerreißts ihn? Hilfe! Der Ton ist zu laut. Beachten Sie unsere Ruhebestimmungen!

Übereinandergeschichtet ergibt sich ein handwerkliches, psychologisches und physiologisches Bild, das narrativ aus dem Rahmen fällt, mit Unzugehörigkeit irritiert. Jelineks Sprache entspricht der Schraube, die für die Hirnwindungen zu groß ausfällt. Die Sprache passt nicht. Sie verfehlt kunstvoll jeden Moment, in welchem etwas klar, verständlich werden könnte. An nur sehr ausgesuchten und wenigen Stellen im Text von Die Kinder der Toten lässt es sich ausharren, ausruhen, Luft holen. Zumeist nur in den Passagen, die von Gudruns Irrungen und Wirrungen handeln:

Als die junge Frau jetzt das Fenster öffnet, es geht recht schwer, der Riegel scheint ein wenig eingerostet zu sein, und sich hinauslehnt, da erfaßt sie der Vorgarten mit seinen von Äpfeln schweren Bäumen; der Saum des schweren Fichtenwaldes scheint sich, neidisch auf soviel Fruchtbarkeit, ein wenig vorgedrängt zu haben, als wollte er dem Zaun über die Schulter und Gudrun sowie den übrigen Gästen auch einmal ins Fenster hineinschauen.

Die malerische Situation jedoch wird zugleich gesprengt, indem Jelinek, statt genauer den Fichtenwald zu beschreiben, oder die Äpfel im Vorgarten, oder gar Gudruns Gefühl beim Anblick der schweren Bäume zu thematisieren, völlig abschweift, ins Kulturhistorische und Kulturindustrielle  ausufert, nur mit sehr loser struktureller Kopplung, nämlich dem Fichtenwald einen Einfall zu unterstellen, den auch andere haben. So schreibt sie weiter:

Mit solch kleinen wilden Einfällen kämpfen zur Zeit auch die Zillertaler Schürzenjäger und andre Popogruppen, jawohl, jene legendäre, mit tortigem Gesang werfende und in die dicke Haut von brutal verdroschenen Trommeln gehüllte Rotte behäbiger, ihrer Plattenfirma höriger Männer, deren übrige Kleidung ebenfalls merkwürdige Farben und Formen aufzuweisen hat, ja, das sind Menschen, die mit ihrer feuchten, nahrhaften Musikspucke in das Plattencover, die Hülle des siebenten Himmels, eingeschweißt werden wollten und hernach auch noch, resistent gegen Antibiotika, aus ihrem mit einem Milzbrand oder mit Backsteinblattern verseuchten Fleisch platzend, zum Frischluftkonzert riefen.

In dieser Passage wird ein anderes literarisches Stilmittel deutlich. Jelinek erzeugt in einem fort Neologismen, indem sie bekannte Wörter verfremdet und mit völlig neuen Assoziationen auflädt. So wird bspw. aus der „Popgruppe“ die „Popogruppe“, und aus dem „Freiluftkonzert“ das „Frischluftkonzert“ mit offensichtlichen Bedeutungsummantelungen. Von diesen Wörtern lassen sich auf jeder Seite des Buches viele Beispiel finden: „Fahrlebensmittel“ statt „Transportmittel“, „Verfälligkeitsdatum“ statt „Verfallsdatum“, „Sportwomöglichkeiten“ oder „beradschlagen“ oder „das war jetzt unter der Main/Gürtellinie“ und „Armatuhrenbrett“, um nur einige zu nennen. Das Lesen wird gnadenlos ausgebremst. Die Wörter ergeben auf den ersten Blick gar keinen Sinn. Sätze werden einfach abgebrochen. Wörter nicht ausgeschrieben. Abkürzungen eingeführt, ohne sie zu erklären. Jelinek setzt so wortgetreu um, was sich Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak von einem Text wünscht:

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.

Franz Kafka aus: “Briefe” (27.01.1904)

Sie setzt auch um, was Theodor W. Adorno in seiner philosophischen Schrift Negative Dialektik als Ziel der Reflexion setzt:

Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daß sie sich selbst zum Absoluten werde. Eine Idee ist umzufunktionieren, die vom Idealismus vermacht ward und mehr als jede andere von ihm verdorben, die des Unendlichen.

Theodor W. Adorno aus: “Negative Dialektik”

Bei Jelinek singt und lacht die Axt, die die Wucherung zurückkämpft. Die Schlacke in den Gedanken, die Klischees, eingeübten Phrasen werden unterlaufen, ausgehebelt. So, wie die Sprache in Die Kinder der Toten verwendet wird, lässt sie keine Phrasenbildung zu. Eineindeutigkeit wird schlichtweg vermieden. Die von Jelinek produzierten Textflächen verschlucken jeden Sinn und Bedeutung und geben Räume der Stille frei, vielleicht sogar solches eines kurzen relativen Moment des Friedens:

Ein letztes Gurgeln im Wasser, die Oberfläche schließt sich, die drei Blätter werden ohne Gegenwehr hinabgerissen, ein kurzes Röcheln, ein Trommelwirbel aus Flüssigkeit, der in der Mitte des Instruments zusammenläuft, dann ist alles verschwunden. Das Wasser glättet sich wieder, nachdem es kurz sein Gefieder geputzt hat. Nun ist es still, und wir begrüßen bitte den Wind, der sich erhoben hat.

Jelineks Schreibweise lässt sich nicht einsperren. Die Worte laufen wild. Die Sätze beginnen und enden, wie sie wollen. Nichts und niemand wird bevormundet, an die Hand genommen, irgendwo entlang oder herangeführt. Die Sätzen erzeugen geheime Zentren, die sich assoziativ, aber auch permutativ verbinden, in Zeitlichkeit auflösen und keine Aussage generieren, die nicht sofort wieder mit Distanznahme, Abstand, Negation unterlaufen wird. Jelineks Sprache schneidet Lücken ins dichte Gewebe des Vorstellungszusammenhangs, ohne diese wieder aufzufüllen. Sie betreibt in diesem Sinne keine negative Dialektik, aber eine negative Narration. Weiteres passendes Zitate von ihr selbst über ihren Stil lässt sich im Internet finden, wiederum ohne Quellenangaben:

Wenn man lange genug auf die Sprache einprügelt, gibt sie, manchmal widerwillig, aber doch, ihre eigene Wahrheit preis, und zwar eine Wahrheit, die ihr selber innewohnt, zu innerst wohnt.

Quelle unbekannt (2010)

Jelineks Werk erzeugt das Unheimliche. Sie spukt in der Literaturwelt herum, ohne sich zu materialisieren. Ihr Roman Die Kinder der Toten wurde bislang trotz des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 nur in fünf Sprachen übersetzt, und selbst in der Fachliteratur finden sich wenig Analysen, und falls doch, kommen sie zu dem Schluss, dass die Lektüre

aufgrund der von Jelinek vorgenommenen Mehrfachkodierung »zwangsläufig fehlschlagen« müsse; schließlich sei der »Kreis adäquater Leser« klein oder in letzter Konsequenz gar nicht vorhanden. [Opfermythos]

Sylvia Paulischin-Hovdar: “Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek”

Wie kaum ein anderer Roman beschützt und beschwört der von Jelinek den Zauber der Sprache und die Macht des Ausdrucks. Sie lässt sich nichts vorschreiben und schreibt nichts vor. Wie James Joyces Finneganes Wake sperrt sich Die Kinder der Toten vor jeder Vereinnahmung. Stil und Inhalt bilden eine in sich bewegte Form, die sich nicht stillstellen lässt, ohne dem Text selbst Gewalt antun zu müssen. Die Poesie vollständig in Prosa umgesetzt zu haben, ohne Poesie noch Prosa zu verfälschen, realisiert eine sprachliche Utopie der Kommunikation, die, solange gesprochen und geschrieben wird, nicht verschwinden kann. Dieser unverbrüchliche Kern der Sprache verwandelt überraschenderweise Verzweiflung in Hoffnung und Glück, wenigstens diese eine Freiheit auf ewig sicherzuhaben.

14 Antworten auf „Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (ii: Form)“

  1. Fassungslos stehe ich vor deinem Text, der mich hinreißt (sogar zu Jelinek) und zurückschrecken lässt vor so viel Tiefe. Was du zeigst, steht im Widerspruch zu allem, was ich mit Lesen verbinde (Verstehen, Genuss, Freude …) und weist zugleich auf alles, was ich von dem Einen, absoluten Buch erwarte.
    Um auch nur annähernd zu sehen, was du erkennst, müsste ich wohl ein Jahr lang ausschließlich mit diesem Buch verbringen. Es scheint für Besessene geschrieben, für Menschen, denen das Streben nach eindeutigen Einsichten oder klarem Verständnis förmlich zuwider ist (“Sie verfehlt kunstvoll jeden Moment, in welchem etwas klar, verständlich werden könnte.”).
    Ich bin so nicht, und darum gehört Elfriede Jelinek schon immer zu den Autorinnen, vor denen ich mich fürchte, über die ich aber “alles” lese, was mir unter die Augen kommt.
    Besonders, wenn es so geschrieben ist, wie deine beiden Texte hier über “Die Kinder der Toten”. Ich erwarte gespannt deinen nächsten dazu.

    1. Das freut mich so sehr, dass dir der Text gefallen hat. Ich habe mir sehr viel Mühe mit ihm gegeben. Um die Karten auf den Tisch zu legen, ich habe mir das Buch vor beinahe zwanzig Jahren gekauft, immer wieder hineingelesen, aber stets gewusst, es ist noch nicht die Zeit dafür. Vor drei Wochen war es dann so weit, und ich habe dieses Leseprojekt durchgezogen. Es war sehr anstrengend. Selten hat mich ein Text so viel Mühe gekostet. Manchmal musste ich die Seiten mehrmals lesen – aber je länger ich mich mit ihm auseinandersetzte, desto gewinnbringender wurde es für mich. Ich hoffe, das ist aus den Leseberichten herausgekommen. Ich plane eigentlich keinen dritten – vielleicht, nur ganz vielleicht, ein Vergleich und die Rolle Bachmanns und dem Romanprojekt “Todesarten” bei Jelinek. Das wäre aber eine ziemliche Aufgabe für so nebenbei 🙂 … ich werde aber alle wichtigen Romane von Jelinek im Laufe der Zeit besprechen, dafür ist der Blog ja ausgelegt. Vielen Dank nochmal für diese nette Nachricht. Sie motiviert mich sehr, mir auch weiterhin viel Mühe mit diesen Kurzberichten zu geben! Viele Grüße ins Wochenende hinein!

      1. “Wie kaum ein anderer Roman beschützt und beschwört der von Jelinek den Zauber der Sprache und die Macht des Ausdrucks.”

        Alle Werke Jelineks handeln von Sprache, man könnte fast meinen, sie bemühe sich, uns Sprache neu zugaenglich zu machen. Ich hatte seinerzeit ihr Sportstück (inzeniert vom leider verstorbenen Einar Schleef – sollte man angesichts der Bemühungen von Jelinek und etwa Bachmann das Wort “leider” streichen?) – gesehen, es dauerte fünf Stunden, was mich aber nicht davon abhielt, nochmals deswegen ins Wiener Burgtheater zu gehen. Was sie bestimmt auch antreibt, Theater als Ausdrucksmittel zu testen, ist, dass gesprochene Sprache anders ist, als gelesene , ferner dass der Chor in der szenischen Form viel mehr wirkt als im Buch (weswegen wir Aeschylus und Sophokles nicht voll geniessen), dass die Verwandtschaft von Rede und Gesang deutlich wird…
        Aber danke nichtsdesdotrotz für diese Besprechung. Bin gespannt auf weitere “Jelineks” 🙂
        P.S.: Frage an den Verfasser der Kritik: Was drückt Streeruwitz anders aus als Jelinek?

      2. Ich habe von Schleef noch nie etwas gesehen. Leider (hier, denke ich, bleibt es 🙂 … ich kann Jelineks Theaterstücke nicht mit der Prosa vergleichen, nicht so ohne Weiteres. Das Theater endet sofort in einer klaren Parade gegen und für einen gewissen Zug im Zeitgeist. Die Romane untergraben jedwedes Verständnis aus einem Sprachbezug heraus, den ich anstrengend finde, aber sehr zu schätzen weiß.

        Zur Frage: Streeruwitz muss ich wieder lesen und nochmals in Worte fassen, was ich noch denke, über sie zu wissen. Sie zerhackt die Sprache. Sie ist kurz. Ultrakurz. Poetische Miniaturen, und besitzt deshalb gar nichts Episches. Streeruwitz verschwindet, eher wie Bachmann, nur ohne das Verglühen, Schwärzen, das tiefe Empfinden. Streeruwitz gleitet dahin, wie eine Fata Morgana – als hätte sie versucht zu landen, es aber nicht geschafft, und die Mitteilung mitgenommen. Irgendwie so. Aber ich muss es nochmal lesen. Danke für die schöne Bemerkungen. Ich weiß das sehr zu schätzen!

Kommentar verfassen

%d Bloggern gefällt das: