Völlig absorbiert hat mich in den letzten beiden Wochen Friedrich Hölderlins Werk. Ich blätterte in seinen Gedichten und theoretischen Versuchen, in seinen Briefen, Fragmenten, in den verschiedenen Versionen seines Romans Hyperion und Dramas Tod des Empedokles wie in seinen Übersetzungen von Sophokles‘ Antigone und Ödipus der Tyrann. In meinem Lesebericht habe ich bereits ausführlich über Hyperion berichtet und Hölderlins Versuch, mittels enthusiastische Stilistik und poetische Lebensbejahung über alle Unterschiede hinwegzutrösten, andeutungsweise untersucht. In Tod des Empedokles schlägt er einen dramatischeren, tragischeren Ton an, der nichtsdestotrotz der Bewegung und der Lebendigkeit das Wort redet:
Vergehn? ist doch
Friedrich Hölderlin aus: “Tod des Empedokles”
Das Bleiben gleich dem Strome, den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heil’ge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du, den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle!
Frägst du, wohin? die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern und er endet nicht.
In diesem Sinne lässt sich Hölderlins Werk stets neu entdecken, und so überkam mich beim Lesen von Hölderlins Worten auch das Gefühl wie bei Malina von Ingeborg Bachmann, dass ich all dies zum ersten Mal lese, obwohl das nachweislich nicht stimmt (wie ich an den Notizen im Buch feststelle), das Gefühl bleibt aber bestehen. Hölderlins Worte leuchten und flirren zu stark, um sich in Erinnerung adäquat aufspeichern zu lassen.
Im weiteren die Bücher, die ich in den letzten beiden Wochen gekauft, weitergelesen oder ausgelesen habe.
Gekauft:
Halldór Laxness: Am Gletscher – auf Goodreads wurde ich auf dieses Buch aufmerksam. Dort hieß es in einer Rezension, dass der Stil so gut gewesen sei, dass der unverständliche Inhalt Nebensache wurde. Das ließ mich aufmerken, und ich wurde mit einem besonderen Leseereignis beschenkt. Von Anfang an zog mich das Buch in seinen nüchternen mystischen humorvollen Bann. Rhythmus, fugenartiges Ineinandergehen der Dialoge, Andeutungen, Querverweise erzeugen ein dichtes Gewebe von einer kleinen Gemeinde im Westen von Island am Snæfellsgletscher.
Die Berge rechts vom Weg sind oben schwarz. Einzelne Schneewehen; auf den Hängen verdorrtes Gras; das große Wiesenmoorgelände zwischen Gebirge und Strand kaffeebraun. Doch ein sonderbar heller Glanz auf Flüssen und Seen begleitet den Reisenden, wenn auch der Himmel bedeckt und der Zweck seiner Reise vielleicht wenig erfreulich ist. Um diese Zeit steht die Sonne hoch, und die Nächte werden nicht so dunkel, daß es der Rede wert wäre; doch noch sind sie nicht ganz hell. Die Schafe scheinen mir noch ziemlich schwerfällig, wie sie da im Wiesenmoor nach etwas suchen; doch bald wird es für sie besser werden.
Halldór Laxness aus: “Am Gletscher”
Laxness lakonischer Stil vermittelt eine lyrische Unaufgeregtheit, die im diametralen Gegensatz zu Hölderlins hymnischen Emphasen steht, aber dasselbe bewirkt: Lebensfreude am Detail, in der Ruhe und Stille der Besonnenheit eines gelebten und fröhlichen Lebens. Statt attischer Euphorie gibt es isländischen Humor. Ein Lesebericht von Am Gletscher wird diese Woche noch folgen. Ein kürzerer Leseeindruck findet sich hier.
Simone de Beauvoir: Die Zeremonien des Abschieds – immer wieder fallen mir Stellen aus dem Buch von Simone de Beauvoir ein, in welchem sie die letzten Jahre mit Jean-Paul Sartre bis zu seinem Tod beschreibt und das ich vor vielen Jahren als Leihexemplar las. Es finden sich Gespräche und Notizen, Eintragungen und einprägsame Szenen zwischen den beiden:
JPS: Ja, aber ich habe immer nur durchschnittliche Schmerzen gehabt.
Simone de Beauvoir aus: “Die Zeremonien des Abschieds”
SdeB: Sie haben grässliche Zahnschmerzen gehabt. Ich erinnere mich an ein Mal, da hat Cau, der damals Ihr Sekretär war, mich angerufen und gesagt: «Er fängt gleich an zu schreien!» Weil Sie an Ihrem Tisch saßen und grauenhaft litten.
JPS: Ja.
SdeB: Und wir sind sofort zum Zahnarzt gegangen. Ich erinnere mich auch an entsetzliche Zahnschmerzen in Italien, die Sie mit Yoga bezwingen wollten. Sie sagten: Es genügt, ihn zu isolieren, dann ist der Schmerz da, aber nichts weiter als der Schmerz, und das verbreitet sich nicht im übrigen Körper.
JPS: Tatsächlich hatte ich die Vorstellung, dass man den Schmerz gewissermaßen unterdrücken könnte, indem man ihn an die Subjektivität anglich.
Der Existenzialismus leugnet jede Form körperlicher Determiniertheit. Sartre und Beauvoir besprechen die Widersprüche und Hoffnungen, die Utopie und die Schranken dieser Lebensauffassung mit erstaunlicher Gelassenheit, Freundlichkeit und Vertrautheit. Ich wollte einige Zitate in meiner Lesebesprechung von Annie Ernaux‘ Das Ereignis verwenden. Dazu kam es jedoch nicht.
Gelesen:
Friedrich Hölderlin: Hyperion – diesen Roman lese ich in einigen Abständen immer wieder. Eine Lesebesprechung findet sich hier. Sie wird diesem vielschichtigen Roman nicht wirklich gerecht und beleuchtet nur Hölderlins Auffassung von den Widersprüchen, die er im Pathos gleich eines Hephaistos, nur als Wortschmied, zu verschmelzen versucht, eine literarische Alchimie, die ein besonderes Licht auf Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus wirft, von dem ich nächstens mehr zu berichten gedenke und das ganz im Ton von Hyperions Aufruf steht, treu seinem eigenen Stern zu folgen:
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen!
Friedrich Hölderlin aus: “Hyperion”
Hyperions Geliebte heißt Diotima, und so bot es sich an, Platons Symposium als nächstes zu lesen.
Platon: Symposium – ein vielzitierter und vielbesprochener Dialog von Platon, der zur mittleren Schaffensphase gehört, und im Eros eine eigene Logik am Werke sieht. In Diotimas Rede finden sich erste Ansätze einer nicht binären Logik, die heute nicht-aristotelische Logik heißt, und dem Satz des Widerspruchs nur eine eingeschränkte Gültigkeit attestiert:
Halte es also nicht für notwendig, dass das Nichtschöne hässlich und das Nichtgute schlecht und böse sein müsse! So nimm denn auch vom Eros, wenn du selber zugestehst, dass er nicht gut und nicht schön sei, deshalb um nichts mehr an, dass er hässlich und schlecht sein müsse, sondern nur, dass er ein Mittleres zwischen beiden sei, sprach sie
Platon: “Das Gastmahl”
Hier lässt sich an systemtheoretische Versuche der Neuzeit anschließen, bspw. durch Alfred Korzybski oder Gotthard Günther, aristotelische Syllogismen in multi-perspektivische Aufschreibsysteme aufzuheben, welche die typischen Paradoxien des klassischen Denkens, bspw. Zenos Paradoxien (Achill und die Schildkröte), entschärfen und zugunsten von Beschreibungen und vielschichtigen Erinnerungstypen ergänzen. Das Entweder-Oder wird zu einem Weder-Noch und öffnet hierdurch mitunter Horizonte.
Spiegel Belletristik Bestseller-Liste (KW 44):
Im Folgenden die Liste selbst, reformattiert, und mit Links versehen, bei denen bereits ein Lesebericht vorliegt:
- Nur noch einmal und für immer – Colleen Hoover
- Zur See – Dörte Hansen
- Einsame Nacht – Charlotte Link
- Blutbuch – Kim de L‘Horizon
- Eine Frage der Chemie – Bonnie Garmus
- Nachmittage – Ferdinand von Schirach
- Die Haushälterin – Joy Fielding
- Drachenbanner – Rebecca Gablé
- Lügen über meine Mutter – Daniela Dröscher
- Sisi – Karen Duve
- Ian McEwan – Lektionen
- Kummer aller Art – Mariana Leky
- Fairy Tale – Stephen King
- Achtsam morden im Hier und Jetzt – Karsten Dusse
- Violeta – Isabel Allende
- Stay away from Gretchen – Susanne Abel
- Robert Menasse – Die Erweiterung
- Geschichten aus der Heimat – Dmitry Glukhovsky
- Ein Sommer in Niendorf – Heinz Strunk
- Ich bin dein Schicksal – Kira Licht
Es liegen zum Lesen bereit McEwan Lektionen, Hansens Zur See, aber ich denke, ich werde mich mit Robert Menasses Die Erweiterung befassen. Ich bin aber offen für andere Vorschläge aus dieser Liste, dir mir möglicherweise entgangen sind.
Angenehme Spätherbstwochen wünsche ich und bedanke mich im Vorhinein für jedwede Kommentare, Vorschläge, Anmerkungen und sonstige Wortmeldungen. Viele Grüße!
Am Gletscher ist eines meiner Lieblingsbücher. Selten so fasziniert gelesen und so viel gelacht!
Ich freue mich auf deine Besprechung 🤗
Liebe Abendgrüße vom Lu
Ging mir genauso. Ich fand’s toll und werde noch andere Bücher von ihm lesen. Ich suche mal auf deinem Blog, ob du was dazu geschrieben hast. Fände ich sehr interessant!! Viele Grüße und guten Start ins Wochenende!
Über Laxness wirst du nicht direkt was finden, ich erwähnte ihn nur hier mal. Aber vielleicht interessiert dich das ja hier auch:
https://finbarsgift.wordpress.com/2017/05/10/buecher-lesen-frage-und-antwortspiel/
Ich mag, wie Du über Hölderlin schreibst. Mir geht es ähnlich, Faszination des Sich-Entziehenden.
Hölderlin hat mich stets so in seinen Bann gezogen, es ist verrückt. Seine Worte hallen, rollen, kugeln nach. Sie verändern die Art, wie ich wahrnehme, rieche, schmecke, höre. Ich übertreibe nicht. Die Synästhesie bei Hölderlin ist verrückt. Ja, das Sich-Entziehen und doch Kommunizieren, diese Bewegung. Ich entdecke immer wieder etwas Neues! Herzliche Grüße und vielen Dank für deinen Kommentar!!
Die Booktuberin Andrea Wintermädchen begeistert sich ja sehr für Laxness’ “Fischkonzert”. Ich hab die “Islandglocke” auf der Wunschliste, das soll eventuell ein bisschen zugänglicher sein. Bin gespannt auf den Autor.
Vielen Dank für den Tipp. Ich werde da gleich mal reinschauen und auch die Werke mir besorgen, die du angibst. Ich war von “Am Gletscher” mehr als nur überzeugt. Ein schönes Leseerlebnis. Einen guten Start ins Wochenende wünsche ich!!
Danke, den wünsche ich dir auch!
Hölderlin, schön von Dir von ihm zu hören. Ich habe mich in der Corona-Zeit gleich zweimal intensiver mit ihm befasst und über ihn, wenn man so will, eine schöne Freundschaft geschlossen. Vielleicht auch mal ein Kriterium: Hat eine/r meiner Lieblingsautor/innen mir Freund*innen beschert?
Das ist ein wirklich gutes Kriterium. Ich denke, dass das gar nicht so selten passiert – bei mir mit Hesse, Peter Weiss, Ayn Rand, Virginia Woolf usw … mit Sicherheit 🙂 Ich bereite einen theoretischen Text mit Hölderlin vor, oder den Tod des Empedokles, aber mein Kopf dampft noch 🙂 zum Glück ist’s kühl draußen. Hölderlin ist sehr inspirierend. Freut mich, dass er zu einer Freundschaft geführt hat. Viele Grüße!!
sich mit der #kultfigur und #rätselfigur Hölderlin zu befassen erscheint nach wie vor wichtig, relevant sowie bedeutend zu sein_
ich bin da noch nicht wirklich sehr weit oder tief vorgedrungen: da auf den „vaterländisch“ interpretierten Hölderlin, der von den Nazis missbraucht wurde, die Hölderlin-Bändchen im Tornister der Wehrmachtssoldaten deponierten, folgte nach 1968 die durch Pierre Bertaux und Peter Weiss befeuerte #Rezeption Hölderlins als waschechter Jakobiner und Revolutionär.
Welches mich nach wie vor auch ein bisschen abschreckend irritiert.
Und das „göttliche Feuer“, das im Dichter loderte, ließ bei fast allen Exegeten die nötige Distanz zum Objekt der Verehrung dahinschmelzen. Ich schwitze stark von der Wärme des entfachten Feuers und suche eher Abkühlung und Ruhe als noch mehr Aufregungen und Revolution //
Diese „ins Maßlose gesteigerte Ehrfurcht vor Hölderlin“ hatte schon der selbst dem Pathos nicht abgeneigte Adorno als „Betrug“ am Dichter bezeichnet.
Hänge immer noch im «Jargon der Eigentlichkeit», wo so kaum eine:r sich mit wirklich mit Einklinken, Reinhängen und Beteiligen mag, trotz aller Freiheit und Freiwilligkeit
seit Monaten _ damit es zum Abschluss und einem Ende kommt_ und nicht noch länger in der #Pipeline hängt
Danke für den Kommentar! Hölderlin begleitet meine eigenen Studien von Anfang an. Ich mühe mich immer wieder mit ihm ab, mehr aus spekulativer, mythischer Sprachrichtung als politisch. Politisch lesen lässt sich ja alles, verbrämen, instrumentalisieren auch. Wie aber ein Dichter patriotisch sein soll, der Folgendes schreibt, habe ich nie verstanden:
“So kam ich unter die Deutschen. Ich foderte nicht viel und war
gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der
heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der
Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten –
Wie anders ging es mir!
Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und
selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes
göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der
heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der
Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und
harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes –
das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.”
So steht’s im “Hyperion”. Ich versuche dem Lyrismus auf die Spur zu kommen, dessen, was das Dichterische, Verdichtende, den Erfahrungsgehalt in Hölderlins Schriften auszeichnet.
Zum “Jargon der Eigentlichkeit” könnte ich etwas schreiben. Wollte ich schon länger, habe es zweimal gelesen, jedes Mal wieder unergiebig gefunden. Ich werfe mal wieder einen Blick hinein. Adorno argumentiert sprachherrschaftlich – Hölderlin sprachmystisch. Zum “Jargon der Eigentlichkeit” gehört selbstredend das Kapitel in der “Negativen Dialektik” zum “Ontologischen Bedürfnis”, aber eigentlich der gesamte erste Teil “Verhältnis zur Ontologie”. Der in sich gebrochene Sprachherrschaftsanspruch gehört zu den seltsamsten Blüten seiner Spätphilosophie. Ich habe in meinem Blogbeitrag “Skoteinos” ein wenig davon zu berichten versucht.
Viele Grüße und ich würde mich über Austausch freuen!
Alexander