Wegen Wintersmüdigkeit, Angeschlagenheit und einer allgemeinen Denkträgheit gibt es nicht viel zu berichten. Hauptsächlich beschäftigte ich mich in den letzten zwei Wochen mit Elfriede Jelineks Angabe der Person. Im Laufe der Lektüre kristallisierte sich heraus, dass vieles in Jelineks neuestem Roman auf Franz Kafkas Der Prozess verwies. Zu meinem Schrecken stellte ich aber fest, dass die Kafka-Lektüre nun schon Jahrzehnte zurückliegt und ich mich kaum noch an Details erinnerte. Nur schemenhaft geisterten die Szenen in meinem Gedächtnis herum. Erschwerend kam hinzu, dass in meinem Exemplar von Der Prozess gar keine Anstreichungen und Anmerkungen zu finden gewesen sind. Mir blieb also aus Konsistenzgründen gar nichts anderes übrig, als den Roman erneut zu lesen, um meinen Eindruck, dass dieser eng mit Jelineks neustem Roman verknüpft ist, auch am Text begründen zu können. Also las ich Der Prozess [Max Brod-Ausgabe] erneut, was, je genauer ich las, zu immer mehr Verwirrung Anlass gab, die nur kurz von narrativen Stellen wie dieser unterbrochen wurde:
An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K., trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro. Um sich wenigstens vor den unteren Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.
Franz Kafka aus: “Der Prozess”
Neben dem Duo Kafka-Jelinek beschäftigte ich mich literarisch noch mit Clemens J. Setz und theoretisch mit Niklas Luhmann und Helmut Schelsky, wobei letzterer ein ziemlich polemisches Buch Die Arbeit tun die anderen geschrieben hat, das eine wahrhafte Detailstudie in selbstbezogener Fremdbezichtigung ist.
Angefangen:
Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – ich hatte schon länger vor, etwas von Setz zu lesen, der im letzten Jahr den Georg-Büchner-Preis verliehen bekommen hat. Ich weiß über die Person Setz und seine Romane gar nichts und habe auch noch nie etwas von ihm zuvor gelesen oder gehört. Seitdem ich wieder angefangen habe, Romane zu lesen, also seit letztem Jahr, habe ich immer mal wieder in seine Romane hineingeschaut und sie als sehr sperrig empfunden. Nun, nach einem Drittel des Buches, kann ich diesen ersten Eindruck bestätigen:
In dem alten Haus in Raaba, in dem sie lebten, gab es einen Raum, der vollkommen leer war und den man unter normalen Umständen nicht betreten durfte. Auf dem Boden des Raums lag eine einzelne Ein-Schilling-Münze. Wenn man etwas falsch gemacht hatte – und das war anfangs mehrmals am Tag vorgekommen –, wurde man in diesen Raum geschickt und musste vor der Münze sitzen und sie ansehen und versuchen, zu begreifen, dass man im Prinzip nichts Besseres war als diese von niemandem mehr verwendete Währungseinheit auf staubigen Bodenbrettern eines Vorstadthauses.
Clemens J. Setz aus: “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”
Wie fast alle Vergleiche bei Setz läuft auch dieser für mich ins Leere. Mich bedrückt die Vorstellung nicht, eine alte Geldmünze auf wohlgemaserten Bodenbrettern anzuschauen, sehr wohl aber die Tatsache, dass ich von einer Gemeinschaft gezwungen werde, mich „freiwillig“ in Isolationshaft zu begeben. Das Detail, dass es sich um eine Ein-Schilling-Münze handelt und diese nicht mehr verwendet wird, fügt für mich dem Sektenalltag nichts hinzu, auch nicht, dass der Kerker „unter normalen Umständen nicht“ zu betreten ist und er sich in einem Vorstadthaus befindet. Die Akzentverschiebung der seelischen Grausamkeiten auf Nebensächlichkeiten irritiert mich bei Setz von Seite zu Seite. Der Text besteht momentan für mich aus einer losen Ansammlung von Ideen, die miteinander keine Einheit eingehen wollen. Bezeichnenderweise geht der vorige Absatz völlig unabhängig vom vorher Geschriebenen wie folgt weiter:
Die Gesellschaft hat dich aufgegeben, du bist jetzt hier, hier erreichen dich Chemtrails, subliminale Kaufbefehle und andere Crowd-Control-Mechanismen nicht mehr, du bist von der bewusstseinsverkleinernden Wirkung des städtischen Trinkwassers genauso befreit wie von den sphärischen Strömen der Elektrizität, die dein Eigenheim und deinen Körper umgeben und jenen, die die Patterns der Partikel zu lesen verstehen, alles über dich verraten, deine Stimmungen, deine politischen Ansichten, deine Sünden, dein Gefahrenpotenzial.
Die Bilder konfligieren auf jeder Seite miteinander, so dass ich oft nach dreißig oder vierzig Seiten Lesen völlig verwirrt bin und mich imaginativ und intellektuell außerstande sehe, weiterzulesen und mir auf die Worte und Vergleiche, die ich lese, einen Reim zu machen.
Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen – diese soziologische Studie untersucht die Rolle und die Funktion, die Intellektuelle in einer funktional-differenzierten Gesellschaft innehaben und ausüben. Das Buch erschien 1975 und formuliert seine Thesen äußerst gespitzt gegen diverse soziale Bewegungen. Mich interessiert an diesem Buch die Argumentationslogik und die syntagmatischen Versuche, der eigenen Kritik zu entgehen, sie also trotz Strukturähnlichkeit nicht auf sich zu beziehen. Bisher fehlt im Text Schelskys jedoch jedwede Selbstreflexion und Positions- und Funktionsbestimmung, bemerkt dennoch äußerst scharf:
Es wiederholt sich hier mit fast unglaublicher Naivität ein Verhältnis, das bereits einmal in der Entwicklung der Ideologiekritik geistesgeschichtlich durchgespielt worden ist: daß man die kritische Sonde der Oberprüfung des Bewußtseins auf seine unausgesagten Bedingungen und auf seine unausgesprochenen, zuweilen sogar unbewußten Ziele hin zwar auf »die anderen«, d.h. die mit den eigenen Handlungszielen nicht übereinstimmenden Menschen und Gruppen, anwendet, nicht aber auf sich selbst.
Helmut Schelsky aus: “Die Arbeit tun die anderen”
Ich lese das Buch in der Hoffnung, Hinweise auf irgendwelche Selbstreferenzen zu finden, wage aber die These, dass diese nicht zu finden sein werden. Schelskys Abhandlung bekommt dadurch bisweilen clowneske Züge des Abstrusen und Hilflosen.
Beendet:
Elfriede Jelinek: Angabe der Person – zur Erholung zwischen den ganzen Lesebemühungen griff ich zu Jelineks neuestem Roman. Die geistige Rosskur gelang. Jelinek bringt mich immer auf neue Gedanken und reißt meine Selbstgespräche aus drohenden Wortsackgassen:
Die einen sammeln, die andern werfen es [das Geschriebene] wieder weg, so geht das mit den Nachlässen, wenn sie weg sind, sind sie weg. Meine Gedanken sind ohnedies woanders, meist bei Tieren.
Elfriede Jelinek aus: “Angabe der Person”
In meiner Lesebesprechung habe ich versucht, den Roman als Gegenspieler zur von außen aufoktroyierten Biographie zu begreifen, als lebendige Instanz, Eineindeutigkeiten weder zu konstruieren noch stehen zu lassen, sondern das Leben als kommunikativen Prozess zu sehen.
Franz Kafka: Der Prozess – Kafkas Roman hat weder eine definierte Form, noch eine gesicherte Reihenfolge der Kapitel, noch einen klaren, die Textfragmente sortierenden und narrativ einbindenden Plot. Nach sehr aufmerksamer Lektüre blieb ich verwirrt zurück. Die herkömmlichen Deutungen, die ich dann nachrecherchierte, langten nicht hin, Ordnung in meine Leseeindrücke zu bringen:
Der Prozeß ist eben in ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann eines Tages nach Hause und findet auf seinem Tisch alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den schönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt worden, da sie in das neue Prozeßstadium nicht übertragen werden dürfen, es sind wertlose Fetzen. Dabei muß der Prozeß noch nicht verloren sein, durchaus nicht, wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme vor, man weiß bloß nichts mehr von dem Prozeß und wird auch nichts mehr von ihm erfahren.
Franz Kafka aus: “Der Prozess”
Meine These lautet, dass in Der Prozess im Grunde das Bekannt- und Publikwerden eines Autors beschrieben wird, der Prozess also der Diskurs, die Advokaten die Kritiker und das Gericht die öffentliche Meinung sind. Ich habe wenig Anhaltspunkte gefunden, die gegen diese Deutung sprechen. Vielleicht gelingt mir noch eine Besprechung dieses äußerst seltsamen Romans Ende dieser Woche. Ich arbeite zaghaft daran.
Spiegel Belletristik Bestseller-Liste (KW 47):
Im Folgenden die Liste selbst, reformattiert, und mit Links versehen, bei denen bereits ein Lesebericht vorliegt:
- Mimik – Sebastian Fitzek
- Zur See – Dörte Hansen
- Eine Frage der Chemie – Bonnie Garmus
- Transatlantik – Volker Kutscher
- Nur noch einmal und für immer – Colleen Hoover
- Einsame Nacht – Charlotte Link
- Nachmittage – Ferdinand von Schirach
- Blutbuch – Kim de L‘Horizon
- Kummer aller Art – Mariana Leky
- Tea Time – Ingrid Noll
- Komm zu nix – Tommy Jaud
- Der Untergang von Númenor – J.R.R. Tolkien
- Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt – Jonas Jonasson
- Drachenbanner – Rebecca Gablé
- Lektionen – Ian McEwan
- Die Heimkehr – John Grisham
- Alle Farben meines Lebens – Cecelia Ahern
- Die Haushälterin – Joy Fielding
- Violeta – Isabel Allende
- Stay away from Gretchen – Susanne Abel
Ich bin gerade der Belletristik Bestseller-Bücher müde geworden. Ian McEwan erfreut sich großer Beliebtheit. Es gibt einige Lesebesprechung dazu. Vielleicht schließe ich mich an. Zu Ferdinand von Schirachs Buch lässt sich noch sagen, dass Elfriede Jelinek in Angabe der Person seitenlang kein gutes Haar an ihm und seine Familie lässt, und zwar sehr explizit.
Angenehme Winterzeit und ersten Kerzenschein wünsche ich allen und bedanke mich im Vorhinein für jedwede Kommentare, Vorschläge, Anmerkungen und sonstige Wortmeldungen. Viele Grüße!
Wintermüdigkeit kann man auch ein wenig kultivieren mit schönem Tee und weihnachtsduftigem Gebäck. Gegen die Angeschlagenheit gute Besserung und wohltuende Lektüre.
Herzliche Grüße, Bettina
Ja, das ist sehr wahr. Wintermüdigkeit hat auch etwas Schönes. So wie Walter Benjamin die Langeweile als “Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet” bezeichnet, harrt das alte und neue Jahr seinem Abschluss und Beginn in ihr. Egal wie die Lektüren auch ausfallen mögen, gegen weihnachtsduftigem Gebäck hält keine marode Laune stand 🙂 Danke für den Tipp! Viele Grüße!
Ich lese viel und gerne, die verschiedensten Dinge, aber schon lange lese ich nichts mehr, was ich lesen sollte/müsste, mir aber nichts sagt oder aus vielfältigen möglichen Gründen nicht gefällt. Dies deswegen, weil ich den Eindruck habe, dass diese beiden Wochen, dir nicht sehr viel Lesefreude gebracht haben …
Ja, das stimmt, und ich möchte dir auch sehr zustimmen, aber oft haben sich Bücher doch noch entwickelt oder mir irgendetwas preisgegeben, im Kommunikationsakt, dass ich einfach nur in “schlimmsten Fällen” die Lektüre für gewöhnlich abbreche. Meist unterbreche ich sie nur. Aber ja, die Lesefreude insgesamt kam nicht auf – hat vielleicht auch mit dem wunderbaren “Am Gletscher” zu tun, das in mir noch prangt und scheint. Danke für die Aufmunterung und weiterhin schöne Adventszeit!! Viele Grüße!
O, es scheint mir nach deiner Schilderung, als habe ich mir mit dem Kennenlernen von Herrn Setz einen richtigen Brocken vorgenommen. Der Januar ist für ihn reserviert, nun bin ich gespannt, wohin mich das führen wird.
Wenn man schon Jelinek zur Erholung liest …
Ehrlich gesagt, jede Lektüre ist einzigartig. Ich mag “nerdige” Vergleiche leider nicht und seltsame, teilweise völlig fehlgeleitete naturwissenschaftliche oder IT-Metaphern, die mir etwas penälerhaft vorkommen und vielleicht, ich hoffe doch nicht, beeindrucken sollen, auch nicht. Der Stil scheint mir sehr auf den Effekt abzuzielen, sodass die Narration in meiner Lesart nicht abhebt. Ich versuche das Buch sehr konstruktiv zu lesen, versuche den Rhythmus, die Melodie, die Symbolik zu begreifen, mich darauf einzulassen. Ich finde aber nur Bruchstücke. Ja, Jelinek hat mir über die ersten 400 Seiten hinweg geholfen, nun stehe ich allein vor der Bleiwüste 😀 … Lesen ist ein Abenteuer, aber da du dich auch für ihn interessiert, bin ich nun etwas motivierter. Vielleicht ist ein 1000 Seiten-Roman nicht gut, um einen Autor kennenzulernen. Es gibt, glaube ich, auch Kürzeres. Viele Grüße und Danke fürs Vorbeischauen 🙂
Vorbei und rein schaue ich bei dir immer mit Vergnügen, Alexander.
Deine Antwort lässt bei mir die Erwartungsspannung noch weiter steigen. Mal sehen, was wir uns am Ende des Januar zu diesem Thema zu sagen haben.