Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Sich entziehen auf popliterarisch … Spiegel Belletristik-Bestseller (18/2023)

Engagement und Literatur kommen nicht voneinander los. Literatur drängt zur Rede, wie die Rede zur Literatur. Sie suchen Wirkung und Genuss in einem, Bedeutung und Entfesselung der Sprache zugleich. Auf diese Weise will die Literatur, und hierzu gehört Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman Noch wach?, die Welle schlagen, auf der sie mitzuschwimmen gedenkt, gibt sich den Wallungen der Intensitäten aber nun mit reinstem Gewissen hin. Derlei Beispiele gibt es einige: Pablo Neruda und Wladimir Majakowski in der Lyrik, Virginie Despentes in Das Leben des Vernon Subutex oder Liebes Arschloch im Roman, oder, etwas selbstreferenzieller Thomas Bernhard in beispielsweise Holzfällen. Gemächlicher, aber nichtsdestotrotz bis in die letzten Sprachwinkel politisiert ist Der Butt von Günter Grass oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll, mit der er 1974 die Machenschaften des Sensationsjournalismus an den Pranger gestellt hat:

Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.

Heinrich Böll aus: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“

Benjamin von Stuckrad-Barre nimmt in seinem neuesten Roman Noch wach? direkt Bezug auf Heinrich Bölls Text. In diesem geht es jedoch weniger um den Journalismus und das Geschäft desselbigen als um das Ambiente, in welchem dieser gegenwärtig oder üblicherweise stattfindet:

Mein Freund beschrieb indessen mit leuchtenden Augen die Hölle: Nicht jeder wird hier ein Büro haben, einen festen Schreibtisch. Das findet sich dann immer neu, PROJEKTBEZOGEN. Das da drüben werden ja eben keine Räume im eigentlichen Sinne, sondern Halbinnen-, Halbaußen-Kammern.
Er liebe ja Streit, sagte er immer. Auseinandersetzung! Wettstreit der Ideen! Flache Hierarchien! Widerworte! Diskurs! Konsens killt Innovation, wir müssen streitbar bleiben, und wenn alles zu glatt läuft: selbst die Gegenposition einnehmen!

Benjamin von Stuckrad-Barre aus: „Noch wach?“

Inhalt/Plot:

Der Freund des Ich-Erzählers, der dort spricht, besitzt einen Nachrichtensender, von dessen Dachausbau im Zentrum von Berlin im Zitat die Rede ist. Es geht um den modernsten Journalismus, und der modernste Journalismus benötigt Männer und Frauen von Format, die keine Chance auslassen, zu provozieren, zu stimulieren, zu inspirieren, um um sich greifende Diskurse und Kontroversen zu entfachen. Unter diesen befindet sich nun der Chefredakteur des Senders, der auf nahezu traumwandlerische Arten und Weisen die Visionen seines Chefs in die Tat umzusetzen versteht:

Man müsse es in dieser Klarheit ja auch einfach mal sagen. Eine der wenigen Stimmen, die sich noch traue, GEGEN DEN ZEITGEIST anzusenden, da sei es doch völlig klar, dass nach irgendwas gesucht werde, um ihm zu schaden. Der Chefredakteur sei nun mal UNBEQUEM, er POLARISIERE und mache sich mit jeder Sendung unbeliebt bei den Mächtigen, und deshalb müsse man solche Anwürfe immer sehr genau auf ihren wahren Absender und dessen Motivation hin überprüfen. Das sei ein ABGEKARTETES SPIEL.

Der markante Chefredakteur, auf den der Senderbesitzer und Freund des Ich-Erzählers so stolz ist, verkörpert den typischen, unbeirrbaren Machtmenschen, der gerne und oft über Leichen zu gehen bereit ist, um die Quoten seines Senders hochzujagen, den also nichts beirren kann, für den wie für den Sendebesitzer nur der Erfolg zählt und diesem selbstredend alles unterordnet. Die Vorteile, der Erfolgshunger, die Skrupellosigkeit, die Vehemenz und Hartnäckigkeit haben ihren Preis. Das wusste der Freund des Ich-Erzählers von Anfang an. Es war ein Pakt mit dem Teufel, den dieser bewusst und mit offenen Augen eingegangen ist:

Ich erinnerte mich an die Phase vor seiner Chefwerdung, mein Freund hatte ursprünglich einen ganz anderen für den Posten vorgesehen, einen vernünftigen, klugen Mann, aber dann tendierte er doch zu diesem Typen, fast täglich rief er mich damals an, um diese Entscheidung zu diskutieren. Bis ich irgendwann feststellte: Du glaubst einfach, dass man für diese Position ein Arschloch sein muss. Er stritt das auch gar nicht ab, und bald darauf war der Chefredakteur benannt.

Stuckrad-Barres Noch wach? handelt nun von dem langsamen Loslösungsprozess des Ich-Erzählers von seinem besten Freund. „Mein Freund“ kommt als Wendung 165 mal, „Freund“ in den verschiedensten Zusammensetzungen sogar 350 mal vor. Es wimmelt sozusagen von Freunden in dem Text. Keine bedruckte Seite ohne sie. Die wortreich besungene Freundschaft bedeutet dem Ich-Erzähler also sehr viel: Er, der Künstler/Schriftsteller und selbsternannter Dummschwätzer, und sein bester Freund, der Senderbesitzer, der mit Elon Musk diniert, mit Rupert Murdoch ein Schwätzchen hält und ansonsten sowieso ein Mann von Welt ist.  Was sie aber wirklich verbindet, ist tiefgehende Männer- und Schützengrabenromantik:

Szenen einer Freundschaft, nein, Freundschaft fasste es nicht, es waren – Szenen einer Liebe: […] Los Angeles, unser nächtliches Wasserballmatch mit Zitronen im Chateau-Pool, das nach Stunden mit einem präzise leistungsabbildenden endet / Nächtliche Begehung meiner neuen Wohnung, als mein Leben gerade sehr unübersichtlich geworden war, es gibt noch keine Lampen dort, gibt noch gar nichts, aber er hat eine Taschenlampe dabei und kann mich ein bisschen beruhigen. Dann Kartonpizza essen auf dem Boden, bei Kerzenschein, dazu auf Repeat Woodkids Mollversion von »Happy« aus seinem Telefon / Die spätsommerliche Bootsfahrt, eine seiner ersten mit Bootsführerschein, plötzlich geht uns das Benzin aus und wir müssen zurückschwimmen, lachend, durchgängig lachend […]

Die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen ihnen wird jedoch durch den Chefredakteur empfindlich gestört und auf eine harte Probe gestellt. Dieser vergreift sich nämlich an den Frauen, insbesondere den Praktikantinnen im Sender und zwar vor aller Augen. Nach und nach dringt dies an die Öffentlichkeit. Die betroffenen Frauen schütten zunehmend ihr Herz beim Ich-Erzähler aus, insbesondere die letzte im Bunde, Sophia, die auch im Laufe des Textes beschließt, sich zu wehren, sich die Behandlung nicht gefallen zu lassen, und danach strebt, den Chefredakteur öffentlich bloßzustellen. Der Ich-Erzähler fühlt sich schließlich genötigt, seinem Freund das unprofessionelle Verhalten des Chefredakteurs mitzuteilen. Ein Auf-und-Ab zwischen Los Angeles und Berlin, zwischen Winter und Sommer, zwischen „Nein“ im Privaten, „Ja“ im Öffentlichen beginnt:

»Ein bissl Geld, ein bissl Sex, ein bissl Tragik … und ein bissl Perversion« – diese ewiggültige, von Helmut Dietl einst essentialisierte »ideale Mischung« an Zutaten einer vielversprechenden Geschichte war hier zweifelsohne gegeben. Ausweislich des Berichterstattungsfeuerwerks gab es in der FÜHRUNGSETAGE des Senders, und ich liebte diese Formulierung: UNDICHTE STELLEN.

Von einem Journalisten-Thriller bleibt Noch wach? jedoch weit entfernt. Im Gegensatz zu Michael Crichtons Enthüllung oder John Grisham Romanen wie Der Klient oder Die Firma zielt Stuckrad-Barre nicht auf Spannung ab. Der Plot dient lediglich als Aufhänger für eine Trauer- und Enttäuschungsverarbeitung. Freundschaft, so die Fabel der Geschicht‘, hat einen schweren Stand, wenn’s um ökonomische und öffentliche und personalpolitische Interessen geht, dies auch zwischen sich im Grunde doch gegenseitig ewige Bruderschaft schwörende gestandene Männer:

Er lachte, er lachte so richtig befreit auf, streichelte mir mit der rechten Hand über den Kopf, zog ihn kurz zu sich auf die Brust, gab mir einen Kuss in den Nacken, sagte, dass er mich liebte, und ließ derweil ganz elegant defensiv noch zwei, drei andere von sich selbst, von diesen lächerlichen Autos, DIESER WEITE DER AMERIKANISCHEN FREEWAYS (auch wenn es ein Highway war – GESCHENKT!), vom Leben und, ach, einfach allem begeisterte Führungskräfte an uns vorbeihupen. […]

Stil/Sprache/Form:

Außergewöhnlich für erfolgreiche Gegenwartsliteratur, schreibt Stuckrad-Barre keinen filmreifen Text. Sein Text ist und bleibt der geschriebenen Sprache, zum Hören, zum Lesen gemacht, treu. Er beschreibt, inszeniert die erlebte und nacherzählte Wirklichkeit und trotzt ihr an manchen Stellen, den eigenen Plattitüden entgegen, auf der Textebene sich vermittelnden Wortwitz ab:  

Mein Freund ließ die peinliche Pause nicht zu lang werden und referierte leichthin, als hätte er auf meinen Kaffeemaschinensuch-Einwand lange gewartet, irgendwelche ganz neuen Hirnforschungsergebnisse, aus denen folge, dass WIR in Zukunft ALLE, wenn ich das richtig verstand, in so einer Art technikpervertiertem, hirnkommunistischen Glasparkhaus die besten Denkergebnisse erzielen würden. Das war wirklich Steve Jobs NEXT LEVEL SHIT […]

Das Pendeln zwischen Los Angeles/Hollywood und Berlin spiegelt sich formalästhetisch im unbeständigen Denglisch und unzuverlässigen Engleutsch wider. Name-Dropping, soweit das Auge reicht, Anspielungen auf Pop-Literatur, wie es zum guten Ton des einstigen Pop-Literatur-Inaugurierten gehört, und vor allem viele verschiedene Varianten eigenwilliger Determinativkomposita, die gar nicht lang genug sein können:

Stecknadelfallhörbarkeitsausmaße
laserzielfernrohrgenaue Charaktervermisstenanzeigen
Krawallkrawattenteufelgipfeltreffen

Mehr Beispiele

Krisenbeschwichtigungsgelall Glühbirnengirlanden Fanmeilenausgelassenheit Organigrammheuchelei Gesichtsausdrucksernst Datensammelmonopolkrake POSTRATIONALISIERENDEN Extremblödsinn

Hier gehen mit Stuckrad-Barre sprichwörtlich die Pferde durch, und der Text erhält so eine gewisse verzweifelte Wucht, dem Verdruss über die Welt, über die Enttäuschung über den Freund adäquaten Ausdruck verleihen zu wollen. Im Gegensatz jedoch zum eingangs erwähnten Thomas Bernhard bleiben diese Wortschöpfungen bei Stuckrad-Barre Interjektionen. Sie kommen plötzlich. Sie entladen sich augenblicklich. Ihnen geht keine von langer Hand komponierte Vorbereitung wie bei Bernhard voraus, der erst nach mehreren Seiten in Holzfällen – Eine Erregung über die Ibsensche Wildente räsonierenden Denkprozesse sich völlig entlädt:

Jetzt geben sie sich den Anschein, für die Künstler ihr künstlerisches Abendessen zu geben und geben es in Wahrheit doch nur ihrer eigenen Erbärmlichkeit, geben es zwar, wie sie vorgeben, dem Schauspieler, der sich als Burgschauspieler überall feiern läßt, wie alle Burgschauspieler sich immer und überall und in den hintersten Winkeln dieser Stadt feiern lassen, dem erfolgreichen, applausüberschütteten Wildentenhauptdarsteller, dem Ekdal, und geben es doch nur sich selbst, geben es den Eingeladenen und geben es tatsächlich wie immer nur sich selbst, dachte ich auf dem Ohrensessel.

Thomas Bernhard aus: „Holzfällen“

Stuckrad-Barre verwendet ähnliche Stilmittel, nur weniger dynamisiert. Er scheut die Wiederholung, sucht sein Glück in Leseprozess unterbrechenden Referenzen und Wortfabrikationen, was sich auch darin zeigt, dass er das Zusammensetzen der Komposita nicht zu inszenieren versteht. Er zieht sie stattdessen kurzerhand aus dem Hut und bildet sie teilweise mittels generisch und KI-gemäß einfach und beliebigerweise aneinandergereihte, Füllwörter enthaltende Bindestrichkonstruktionen:

Liebt-mich/Liebt-mich-nicht-Gänseblümchenblütenzerrupfen
Schmidt-Show-Witzeschreiberkombüsentrakt
Ich-habe-mich-instrumentalisieren-lassen-Trulla

Mehr Beispiele

Lila-metallic-Lakers-Jacke Out-of-Body-Experience Libyen-Lybien-Libyen-Lybien E-Roller-Fahrer-Blick Romeo-und-Julia-Stuss HOP-ON/HOP-OFF-Stadtrundfahrtskapitänen Social-Media-Stellungskriegsritual Take-away-Fraß-Schachteln Livingthedream-metime-powerfulfriend-amazing-connection-lowcarb-selfcare-gorgeous-nicetomeetyou-Soufflé

Um eine Wutrede handelt es sich bei Noch wach? von Stuckrad-Barre also nicht. Der Stil kalkuliert seine Effekte nach vorhersehbarem Muster. Er spult sie nüchtern ab und wirkt deshalb äußerst und bewusst kontrolliert, fast unbeteiligt. Verzweiflung schimmert nirgendwo durch. Intensität ebenfalls nicht. Der Ich-Erzähler, das zeigt der Erzähljargon, wurde in etwas hineingezogen, das ihn anwidert, aber nichts angeht, wiewohl er in der „Pink-Tank“ und Drogenselbsthilfegruppe sogar bereitwillig zugibt, etwas ähnliches am eigenen Leibe erlebt zu haben. Von der Schreibweise her gesehen stellt sich der Eindruck nach und nach ein, dass Noch wach? eine Art erzwungene und zu lang geratene Zeugenaussage vor Gericht darstellt:

CUT! Na, noch wach?, begrüßte ich [den mit vollkommen lächerlicher Extremsportbrille bestückten Chefredakteur] mit einem Nicken – und fing direkt an, nach Rückflügen zu suchen, ich musste da weg. Und zwar nicht über Los (Angeles), sondern direkt ins Gefängnis: nach Berlin.

Stuckrad-Barre durchbricht ironisch die Narration. Sehr bewusst setzt er Kalauer ein, die nur als Phrase und Persiflage auf sich selbst fungieren und somit den Status des eigenen Erzählens direkt unterminieren und aushebeln. Im Zitat wandelt der Ich-Erzähler beispielsweise den Befehl aus dem Spiel Monopoly „gehen Sie direkt in das Gefängnis, gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 4000 Geldeinheiten ein“ ab und spielt mit Los aus Los Angeles, um deutlich werden zu lassen, dass er nur sehr widerwillig zu all dem Stellung bezieht, lieber einen Schenkelklopfer zum Besten gibt und eigentlich im Grunde von all dem nur in Ruhe gelassen werden möchte.

Kommunikativ-literarische Einbettung:

Vom Setting, Hollywood, und seiner ironischen Erzählweise und zutiefst distanzierten Schreibstil ähnelt Noch wach? sehr Quentin Tarantinos Roman Es war einmal in Amerika. Im Gegensatz jedoch zu Tarantino, der aufgrund seiner Regisseurtätigkeit sehr Drehbuch orientiert schreibt und verfährt, bleibt Stuckrad-Barre durchweg innertextlich. Er bearbeitet die Sprache. Die Attitüde jedoch ist dieselbe, das geht bis tief in den Schreib- und Beschreibstil hinein:

Auf dem Stuhl neben ihr wartet Rebekkah, die üppige, hübsche Kostümbildnerin mit den hochtoupierten Haaren, auf den Regisseur, um mit ihm über Ricks Kostüm zu sprechen. Hätte sie Zöpfe, würde ihr Outfit ihr in einem Wednesday-Addams-Ähnlichkeitswettbewerb mindestens den dritten Platz einbringen. Über dem Wednesday-Addams-Outfit trägt sie eine schwarze Motorradlederjacke im Stil von Marlon Brando in Der Wilde.

Quentin Tarantino aus: „Es war einmal in Hollywood“

Wo Tarantino nur aus purer Provokationslust gegen das aktuelle und für das Hollywood der 1970er Jahre schreibt, thematisiert Stuckrad-Barres die Problematik von Kunst und Engagement im gesamtgesellschaftlichen Sinne. Engagement interessiert Tarantino nicht. Er schreibt aus Jux und Tollerei heraus, so despektierlich wie nur möglich. Stuckrad-Barre dagegen setzt sich bewusst in die Tradition von Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum, indem er beispielsweise wie Böll den Sperrsatz verwendet, um tagesaktuelle Zeitungsaufmacher zu imitieren. Bei Böll liest sich das so:

Schon am Samstagmorgen am Bahnhof der Stadt, die immer noch saisongemäß fröhlich war, völlig zerknittert und elend, schon auf dem Bahnsteig die ZEITUNG und wieder mit Katharina auf dem Titel, diesmal, wie sie in Begleitung eines Kriminalbeamten die Treppe des Präsidiums herunterkam. MÖRDERBRAUT IMMER NOCH VERSTOCKT! KEIN HINWEIS AUF GÖTTENS VERBLEIB! POLIZEI IN GROSS-ALARM.

Heinrich Böll aus: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“

Der Schreibstil Bölls bleibt genauso irritiert und distanziert zu den Vorgängen wie der von Stuckrad-Barre. Das Reportagenhafte wird unterbrochen, indem Schlagzeilen in den Text verwoben und hineinmontiert werden. Offenkundig hat weder die Erzählinstanz bei Böll noch die bei Stuckrad-Barre  etwas mit den verpönten Machenschaften des Journalismus und seinem Ambiente zu tun. Sie stellen es bloß dar. Sie fügen nichts hinzu. Sie wollen die Wahrheit, nichts als die Wahrheit:

Und die tiefere Bedeutung habe ich eben jetzt erst verstanden – damals habe ich Realität verwechselt mit Wahrheit. Aber von Wahrheit war da ja gar nicht die Rede, sondern von Realität. Und die Realität ist das, was wir danach erlebt haben. Es geht alles genauso weiter. Realität also im Sinne von: Du weißt doch, wie das läuft, SEI MAL REALISTISCH, SCHÄTZCHEN.

Böll und Stuckrad-Barres Text unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt. Die Erzählinstanz bei Böll bleibt verborgen, auktorial, schwebt über den Dingen. Bei Stuckrad-Barre gibt es das erzählende, reflektierende, stellungnehmende Ich konkret im Text. Es verwundert hier sehr, dass der Ich-Erzähler nicht direkt seinen Freund anspricht, ihn nicht seine Meinung geigt, ihn seine Enttäuschung nicht spüren lässt wie ein Émile Zola in seiner Wutrede J’accuse, die er direkt an den Präsidenten der französischen Republik richtete. Statt dessen spricht die Erzählinstanz die sexuell belästigte Frau an:

Nein, du glaubst nicht an Märchen und Barbie-Prinzen-Scheißdreck. Und du willst auch auf jeden Fall sehr PROFESSIONELL sein, und Grenzen sind wichtig und so. Aber das hier ist nicht so, wie es von außen vielleicht aussieht, dieses Klischee: Deutlich älterer Chef KÜMMERT SICH um die junge hübsche Auszubildende, knick-knack, haha. Null. Ihr habt etwas ganz Besonderes. Was die anderen für Geschichten über ihn erzählen, das ist egal, die kennen ihn eben einfach nicht richtig. Du hast ihn erkannt und er dich. Ihr müsst euch dafür nicht rechtfertigen.

Stuckrad-Barres Text greift nicht den Chefredakteur, noch den besten Freund des Ich-Erzählers an. Der Text schreibt gegen eine Welt, in der Figuren wie sie existieren, in der er sich mit solchen seiner Meinung nach Belanglosigkeiten abgeben muss. Der klar benannte Sehnsuchtsort bleibt der Appartementkomplex Chateau Marmot, 47 mal erwähnt, in Hollywood, wo er unter seines Gleichen am Pool beim Lesen die Seele baumeln lassen kann. In diesem Sinne trifft Adornos Verdikt gegen die von Jean-Paul Sartre angepriesene engagierte Literatur auf Noch wach? von Stuckrad-Barre zu. In seinem Aufsatz Engagement schreibt jener:

In Deutschland läuft vielfach das Engagement auf Geblök hinaus, auf das, was alle sagen, oder wenigstens latent alle gern hören möchten. Im Begriff des »message«, der Botschaft von Kunst selbst, auch der politisch radikalen, steckt schon das weltfreundliche Moment; im Gestus des Anredens heimliches Einverständnis mit den Angeredeten, die doch allein dadurch noch aus der Verblendung zu reißen wären, daß man dies Einverständnis aufsagt.

Theodor W. Adorno aus: „Engagement“ (Noten zur Literatur III)

Es ist Stuckrad-Barres Text zugutezuhalten, dass er daraus keinen Hehl macht. Sehr ehrlich entzieht er sich und lässt seltsamerweise nicht mal eine Leere zurück.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 30. Mai 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Anlässlich der Bezugnahme durch Stuckrad-Barre gibt es den Lesebericht für Heinrich Bölls Roman Ansichten eines Clowns.
Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

6 Antworten auf „Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?““

  1. Das ist wieder einmal eine tolle Rezension. Besonders beeindruckt mich bei allen bisherigen Rezensionen, die ich von dir gelesen habe, die Einbettung des Geschehens auf mehreren Ebenen in den großen Zusammenhang nicht nur der aktuellen Literaturszene, sondern auch älterer Romane und philosophischer Texte. Ich frage mich, wie du das zeitlich alles auf die Reihe kriegst zumal die Details teilweise auf akribisch genaues Lesen verweisen. Dazu gehört in den vorliegenden Ausführungen die Feststellung, dass 350 mal „freund“ vorkommt. Hast du das wirklich gezählt?

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Vielen Dank!! Es ist tatsächlich ein etwas aufwendiges Hobby. Ich greife bei den Lesebesprechungen auf meine jahrzehntelangen Querbeetlektüren zurück, an die ich mich während des Lesens spontan erinnere und von denen ich Notizen in den jeweiligen Büchern finde. Manchmal muss ich die betreffenden Bücher auch wieder lesen, da ich viel mehr vergessen habe, als mir stets bewusst ist 🙂 In Sachen Analyse helfen digitale Versionen sehr, wo ich keine digitale Version zur Verfügung habe, gehe ich statistisch vor, d.h. ich teile die Gesamtzahl der Seiten durch 5, zähle jeweils 2 Seiten, überspringe bis zum nächsten Fünftel, zähle wieder 2 Seiten, und mittle danach. Das Ergebnis trifft meist sehr gut zu (ich überprüfe das Ergebnis aber nur bei digitalen Versionen). Wie du also zurecht vermutet hast, meine Liebe zu den jeweiligen Romanen reicht selten so tief, dass ich die Wörter jeder Seite nachzähle. Bei Büchern, die mir sehr viel wert sind, oder ans Herz gewachsen sind, gebe ich seit neuestem eine detaillierte Inhaltsangabe, die tatsächlich lange anzufertigen dauert. Nochmals vielen Danke für das Feedback!! Es freut mich, dass die Rezensionen informativ bleiben! Viele Grüße!

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