Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes
Die Ballade des letzten Gastes … ein etwas anderer Erlenkönig

In Peter Handkes Die Ballade des letzten Gastes kehrt ein verlorener Sohn heim. Das Thema der Rückkehr, die Odyssee, die ihren Abschluss findet und einen Neuanfang erlaubt, verknüpft Handkes Text, der nicht als Roman ausgewiesen ist, mit Birgit Birnbachers Wovon wir leben und mit Thomas Hettches Sinkende Sterne, der ebenfalls explizit auf Homer eingeht. Handkes Ballade beginnt mit dem Motto:

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?
[bei Johann Heinrich Voß übersetzt als: „Wo entflieh ich alsdann?“]

Homer aus: „Odyssee“ [20/43]
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Lutz Seiler: „Kruso“

Kruso
Kruso von Lutz Seiler … Georg-Büchner-Preis 2023

Der poetische Wiedergänger von Christoph Hein heißt Lutz Seiler. Wo Hein nüchtern, karg, zurückhaltend schreibt, poetisiert Seiler, spielt mit der Sprache, experimentiert mit Phrasen und ornamental ausgeschmückten Prosastanzen. Beide verbindet das Thema: Die DDR. In seinem Roman-Debüt Kruso nimmt Seiler direkt Bezug auf Heins Der Tangospieler und moduliert, paraphrasiert, improvisiert über den angegebenen Rahmen und zwar lyrisch. Beide Protagonisten ziehen aus, um Ruhe zu finden, ziehen für einen Sommer auf die Insel Hiddensee, in eine Höhle und arbeiten dort in einer Gaststätte namens „Zum Klausner“:

Vom Schiff her zog sich eine gepflasterte Terrasse mit Tischen und Biergartenstühlen fast bis an den Steilhang heran. Die äußeren Reihen der Tische waren überdacht und ähnelten Futterkrippen für die Tiere des Waldes. Auf der Schiefertafel neben dem Eingang stand mit schwungvoller Schrift etwas geschrieben, aber Ed war noch zu weit entfernt. Links vom Eingang, über einem Schiebefenster des hölzernen Vorbaus, der zum Radkasten des Dampfers gehörte, hing eine kleine, steife Fahne mit der Aufschrift EIS. Rechts davon, in der Mitte des Vorbaus, war ein handgefertigtes Schild aufgeschraubt: ZUM KLAUSNER.

Lutz Seiler aus: „Kruso“
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Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Annette, ein Heldinnenepos
Annette, ein Heldinnenepos … Deutscher Buchpreis 2020

Im Zuge des explorierenden Lesens gehe ich, bislang, unregelmäßig die Buchpreistitel der letzten Jahren durch. Eine Übersicht der bereits gelesenen Titel findet sich hier. Nach Echtzeitalter von Tonio Schachinger, Blutbuch von Kim de l’Horizon und Antje Ravik Strubels Blaue Frau befinde ich mich nun im Jahr 2020: Anne Weber erhielt den Deutschen Buchpreis für Annette, ein Heldinnenepos:

Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.
Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf
diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch
Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Anne Weber aus: „Annette, ein Heldinnenepos“
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Charlotte Gneuß: „Gittersee“

Gittersee
Lebendig, frech und unübersichtlich … „aspekte“-Literaturpreis 2023

Gittersee von Charlotte Gneuß steht im Zusammenhang der DDR-Vergangenheitsbewältigung. Mit  Bettina Wilperts Herumtreiberinnen (2022) teilt es die Beschreibung der Jugend von in der DDR aufwachsenden Mädchen und die Sehnsucht nach den Sternen. Vergleichbar u.a. Jan Weiler in Der Markisenmann (2022) beschreibt Gneuß, wie die Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit das Privatleben der Betroffenen zerstört. Zusammen mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (2023) geht die Protagonistin auf die Suche nach der Familienvergangenheit, insbesondere ihres Opas Emil, und wie Hari Kunzru in Red Pill (2021) wird psychologisch differenziert beschrieben, wie die Akquise einer Minderjährigen für die IM-Tätigkeit gelingt. Im Gegensatz zu all den genannten Romanen bleibt Gneuß‘ Ton in Gittersee aber derb, humorvoll, lebendig und dreist und erinnert so an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Im Zentrum des Romans steht die sechzehnjährige Karin Köhler, die den Minenarbeiter Paul liebt:

Als Paul am Freitag mit seiner Schwalbe in den Hof geknattert war, hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt, das Kleid glattgestrichen und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert. Klar hatte ich Lust, aber die Kleine könnte jede Minute aufwachen, und dazu war heute Waschtag.

Charlotte Gneuß aus: „Gittersee“
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Niklas Luhmann: „Liebe als Passion“

Entdeckung der Poesie als innere Grenze der Prosa.

Interpretationsmodelle (6): Niklas Luhmann gilt trotz schmissiger Buchtitel wie Liebe als Passion oder Reden und Schweigen als sehr abstrakter Soziologie. Seine systemtheoretische Herangehensweise verunmöglicht einfache, selbstreferenzielle Urteile und verknüpft eher, als dass Fakten isoliert, gegeneinander ausgespielt und Wertparadoxien erstellt werden. Mit Luhmanns Theorie lässt sich keine Ideologie unterfüttern. Sie steht windschief zu herkömmlichen Binnendifferenzierungen und sieht in Meinungen, Urteilen eher den Ausgangspunkt zur Theorieentfaltung als ein wie auch immer anvisiertes Ziel. Verknüpfen, entfalten, verbinden, Zusammenklänge finden beschreibt sein Verfahren, das dennoch, wie eine Anekdote beweist, sehr reale Anfangsgründe besitzt:

[Auf die denkbar blödeste Frage, warum er so funktionalistisch und sachlich denke] antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert. Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.

Dirk Baecker et al aus: „Luhmann Lektüren“
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Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

Lichtspiel
Ein Phantomschmerzspiel … Spiegel Belletristik-Bestseller (November 2023)

Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:

Mama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.

Daniel Kehlmann aus: „Lichtspiel“
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Teresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“

Kochen im falschen Jahrhundert
Gesprächsabbruch unter fragwürdigen Bedingungen … Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2023.

Schreiben, um sich Luft zu machen, besitzt Tradition. Ein solches Schreiben nähert sich dem Genre des Pamphlets. Es wird geschimpft wie ein Rohrspatz. Es wird angegriffen. Es wird klar gestellt. Die Linie lässt sich von antiken Klassikern wie Ciceros Zweiter Philippischer Rede über Émile Zolas J’Accuse…! bis ins 20. Jahrhundert zu Valerie Solanas SCUMM Manifest und in die Gegenwart mit Virginie Despentes Liebes Arschloch ziehen. Teresa Präauer legt mit Kochen im falschen Jahrhundert eine ebensolche Polemik vor:

Seit ein paar Jahren war die Gastgeberin mit ihrem Partner zusammen, der wiederum mit seinem Smartphone zusammen war. Der Schweizer hatte eine Freundin, konnte aber auch gut alleine sein. Er könne Mixgetränke überhaupt nicht leiden, wiederholte dieser, den Crémant aus dem Elsass würdigend, und hob sein Glas. Santé!

Teresa Präauer aus: „Kochen im falschen Jahrhundert“
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Deutscher Buchpreis 2023: Mein Fazit.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lobt jedes Jahr zu Beginn der Frankfurter Buchmesse, dieses Jahr am 16. Oktober, den Buchpreis ‚Roman des Jahres‘ aus, um über die Ländergrenze hinaus Aufmerksamkeit für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu schaffen. Dieses Jahr standen auf der Shortlist die folgenden sechs Bücher, für die ich jeweils ein Zitat herausgesucht habe:

Buchpreis 2023

«Aber was ich noch sagen wollte: Wenn jetzt so viele Tiere sterben, kleine Tiere vor allem, also Insekten und Amphibien und Fische und kleines Meeresgetier, dann…», die Kamera suchte ihn, er blickte leer vor sich hin, «… dann verschwindet so das Gewirr, das Gewirk, das, das Dickicht, ja? Die Substanz, das Gewebe, also, dann fällt alles auseinander.» [Donato] schluckte und blickte in die Runde. «Alles auseinander.»

Ulrike Sterblich aus: „Drifter“
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Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Echtzeitalter
Impromptu-Erzählen …  … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Echtzeitalter von Tonio Schachinger gehört in die Kategorie des Jugendromans. Die Figuren gehen noch zur Schule. Sie arbeiten sich an Lehrern ab. Sie versuchen sich zu orientieren und geraten hierbei oft in die hilflosesten Formen der Verwirrungen. Echtzeitalter referenziert trotz seines modern klingenden Titels Romane wie Robert Musils Die Verwirrungen des Zögling Törleß und Robert Walsers Basta, einer Kurzerzählung aus Der Spaziergang und kleine Prosa. Die Stelle, die Schachinger in Echtzeitalter von Robert Walser zitiert, lautet:

Bei der Deutschmatura, wo Till damit rechnet, dem Dolinar zum letzten Showdown zu begegnen, hat irgendein anderer Lehrer Aufsicht. Es stehen drei Themen zur Auswahl: ein Kommentar zu den Grenzen des Tourismus, die Analyse einer Kolumne zum Thema Zeitverschwendung und eine Textanalyse zu Robert Walser. Sie haben dreihundert Minuten Zeit. Till hat noch nie von Robert Walser gehört. Er liest den ersten Satz: »Ich kam dann und dann zur Welt, wurde dort und dort erzogen, ging ordentlich zur Schule, bin das und das und heiße so oder so und denke nicht viel.«

Tonio Schachinger aus: „Echtzeitalter“
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Necati Öziri: „Vatermal“

Vatermal
Ein abgeschriebenes Selbst … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Der Schelmenroman als Erzählform entzieht sich im Grunde völlig der Kommunikation. Das, was geschrieben steht, soll schillern, soll irritieren, soll persiflieren, in jedem Falle aber Verwirrung stiften. Ob’s konstruktive sein muss, bleibt dahingestellt. Mit dem Aufstieg des Bildungsromans im 19. Jahrhundert verlor der Schelmenroman à la Der abenteuerliche Simplicissimus (1669) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seine Bedeutung, die er jedoch zur Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wiederfand. Werke wie Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) oder Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (1953) oder Günther Grass’ Die Blechtrommel (1956) trugen zu seiner Rehabilitation maßgeblich bei. Momentan befindet er sich wiederum stark im Trend. Zu den gegenwärtigen Formen gehören Romane wie Jan Faktors Trottel (Shortlist deutscher Buchpreis 2022), Tomer Gardis Eine runde Sache (Leipziger Buchpreis 2022) oder nun Necati Öziris Vatermal (Shortlist deutscher Buchpreis 2023):

Fast so schwierig, wie »Papa« zu sagen, ist es für mich hier, »ich« zu sagen. »Papa« klingt ausgesprochen falsch, »ich« löst schon vorher ein Stocken, einen Muskelkrampf in der Zunge aus. Ich werde es trotzdem tun. Auch wenn dieses »ich« immer ein anderer war. Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.

Necati Öziri aus: „Vatermal“
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