Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Kaum ein Denker setzt so viel Hoffnung und Erwartung in die literarische, bürgerliche Öffentlichkeit wie Jürgen Habermas. Mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit räumte er 1962 dem räsonierenden Publikum die bedeutsame Stellung ein, zwischen Gesellschaft und Staat, also zwischen Bevölkerung und Regierung zu vermitteln. 60 Jahre später erscheint nun Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, in welchem er diese Rolle, die der literarisch und philosophisch sich bildenden und  Sachverstand sich aneignenden Räsonierenden erneut bestimmt. Noch immer gilt für sie:

Sie [eine Demokratietheorie] muss den prinzipiellen Bedeutungsgehalt der historisch vorgefundenen und bewährten, also hinreichend stabilen Verfassungsordnungen explizit machen und die rechtfertigenden Gründe erklären, die der faktisch ausgeübten Herrschaft im Bewusstsein ihrer Bürger tatsächlich legitimierende Kraft verschaffen und daher auch deren Beteiligung sichern können.

Jürgen Habermas aus: “Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit”
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Kalenderwoche 44-45. Lesebericht.

Völlig absorbiert hat mich in den letzten beiden Wochen Friedrich Hölderlins Werk. Ich blätterte in seinen Gedichten und theoretischen Versuchen, in seinen Briefen, Fragmenten, in den verschiedenen Versionen seines Romans Hyperion und Dramas Tod des Empedokles wie in seinen Übersetzungen von Sophokles‘ Antigone und Ödipus der Tyrann. In meinem Lesebericht habe ich bereits ausführlich über Hyperion berichtet und Hölderlins Versuch, mittels enthusiastische Stilistik und poetische Lebensbejahung über alle Unterschiede hinwegzutrösten, andeutungsweise untersucht. In Tod des Empedokles schlägt er einen dramatischeren, tragischeren Ton an, der nichtsdestotrotz der Bewegung und der Lebendigkeit das Wort redet:  

Vergehn? ist doch
Das Bleiben gleich dem Strome, den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heil’ge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du, den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle!
Frägst du, wohin? die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern und er endet nicht.

Friedrich Hölderlin aus: “Tod des Empedokles”
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Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“

Ein doppelzüngiger Bericht … Spiegel Belletristik-Bestseller (37/2022)

Was zeichnet eigentlich einen Roman aus? Ist er nur eine verschriftlichte lange Rede, ein transkribiertes Gespräch, ein überlanger Monolog einer einzelnen Person? Oder gehört zum Roman eine Art eigene Sprache, die dem Alltagsgespräch eine andere, nicht unbedingt neue, dennoch weitere Dimension verleiht? Diese Fragen werfen ein Licht auf das, was gemeinhin die Authentizität des Erzählens genannt wird. Daniela Dröschers neuer Roman Lügen über meine Mutter stellt mit dem Titel ebenfalls die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit in Abgrenzung zur Lüge und Fiktion. Der Roman beginnt zudem mit einem dazu passenden Zitat von Emily Dickinson:

»Sag Wahrheit ganz
doch sag sie schräg
Erfolg liegt im Umkreisen
Zu strahlend tagt der
Wahrheit Schock
Unserem Begreifen
Wie Blitz durch freundliche Erklärung
Gelindert wird
dem Kind
Muss Wahrheit sachte blenden
Sonst würde jeder blind.«

Emily Dickinson aus: “Sämtliche Gedichte” (Hrsg. G. Kübler, 1872, 1263, S. 998)
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Kalenderwoche 34/35. Lesebericht.

Viel Platon gelesen, mich mit Kummer aller Art von Mariana Leky amüsiert und Ferdinand von Schirach zur Kenntnis genommen. Die Mühe mit Platon hat sich jedenfalls gelohnt. Im Gegensatz zu den kürzeren Dialogen spannte Der Staat eine ganze Bandbreite an Problemen auf und bearbeitete sie über Hunderte von Seiten immer wieder aus mehreren Perspektiven aus. Hierdurch entstand ein sehr lebendiger Eindruck von Platons Metaphysik, der ich schriftlich noch diese Woche etwas nachgehen und nachspüren möchte. Die Zahlenmystik der Pythagoreer hat mich etwas abgehängt – die Verhältnisse von Rechtecken, von platonischen Zahlen, das Oblong sind mir ein Rätsel geblieben. Wahrscheinlich werde ich nach Der Staat nun auch noch einmal Lukrez Die Welt aus Atomen zur Hand nehmen. Warum ich aber plötzlich in die antike Philosophie gerutscht bin, weiß ich nicht. Lukrez schlägt jedenfalls einen viel fröhlicheren Ton an als der etwas resignative Platon:

Aber an keinem Teil dagegen kann und zu keiner
Zeit das stofflose Leere ertragen irgend etwas nur,
ohne, was seine Natur verlangt, ihm [dem Wasser] weiter zu weichen.
Darum muss auch alles hindurch durch das ruhige Leere
gleichschnell, obschon mit Gewichten die ungleich, erregt sich bewegen.

Lukrez aus: “De rerum natura – Welt aus Atomen”
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Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

Zwischen Hotelzimmern und Selbstflucht … Spiegel Belletristik-Bestseller (36/2022)

Der schmale Band Nachmittage zusammengestellt von Ferdinand von Schirach präsentiert sich im schlichten Cover: Ein Schwarzweiß-Bild, überbelichtet, auf dem ein einsames Ruderboot ohne Ruder und Ruderer im Nebel schwimmt, nur andeutungsweise in der Nähe eines Ufers, Gekräusel, das auf Schilf schließen lässt. Das Inhaltsverzeichnis bleibt ebenso schlicht. Die Kapitel heißen: „Eins“, „Zwei“ … bis „Sechsundzwanzig“, ausgeschriebene Zahlen. Die Zahl Sechsundzwanzig zieht ebenso keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Weder handelt es sich um eine Primzahl, noch um eine hochsymmetrische Zahl wie Vierundzwanzig oder eine Quadratzahl wie Fünfundzwanzig oder eine Kubikzahl wie Siebenundzwanzig. Sechsundzwanzig zählt lediglich die Buchstaben des lateinischen Alphabets, so dass Schirach die Kapitel seines Buches auch als ABC verstanden haben könnte. Enzyklopädisch, lexikalisch, scheinbar ohne spezifische Anordnung fasst er den Stand der Welt in abgeschlossenen, anders als bei Mariana Leky in Kummer aller Art nicht miteinander in Verbindung stehenden Kurztexten oder Berichten zusammen:

Natürlich, unser Leben ist absurd, weil der Tod es beendet. Wir müssen scheitern, es geht nicht anders. Aber es gibt noch die andere Wahrheit, die Wahrheit der Frau auf dem Wagen: Jetzt, dieser Moment, dieser Nachmittag, der nächste Morgen, der Blütenschimmer im Frühling, der Wind, der durch die Felder geht, die lautlose Schwüle im Hochsommer und das nasse Laub auf den Straßen im Herbst – das alles bedeutet nichts ohne den anderen Menschen. Wir stehen nackt in dieser Welt, die Erde ist ein kaum sichtbarer blassblauer Punkt im All, die Natur ist kalt und feindlich. Aber wir sind Menschen, wir teilen diese Einsamkeit, sie ist es, die uns verbindet. »Wir wissen voneinander«, hat sie gesagt.

Ferdinand von Schirach aus: “Nachmittage”
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Mariana Leky: „Kummer aller Art“

Ein literarischer Sommerurlaub … Spiegel Belletristik-Bestseller (35/2022)

Literarische Aphorismen und Aperçus gleiten schnell ab ins Belanglose. Das liegt an der Unverbindlichkeit des nicht gegebenen Zusammenhangs. Sie reihen sich. Sie müssen kein Ganzes ergeben. Sie beziehen sich auf einen unbekannten Alltag, auf Situationen und vereinzelte Erfahrungen, die als Versatzstücke in Bonmots herbeizitiert werden. Großangelegte Sammlungen wie die Aphorismen von Jean Paul Bemerkungen über uns närrische Menschen laden eher dazu ein, sie hier und da durchzublättern, als sie konsequent und akribisch von vorn nach hinten komplett durchzulesen. Das blitzartige Finden erlaubt dann diesen oder jenen Glückfund, gleich einem Gedankenblitz. Anders jedoch Mariana Lekys neuestes Buch mit dem Titel Kummer aller Art. Leky reiht zwar auch kleinere Geschichten einander, aber sie bewegen sich alle in einem spezifischen und dadurch sehr verbindlichen Kosmos:

Frau Wiese stand auf, mit lauter Mahnungen in den Haaren, setzte sie sich an den Küchentisch und starrte einäugig auf den Tropfen, der am Wasserhahn hing und sich trotz des ausgiebigen Starrens nicht bewegen wollte. Vermutlich weil er schlief. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte. Der Morgen war da. Ein ausgeruhter Bauarbeiter schmiss seinen Presslufthammer an und ein Vogel sein Lied. Letzte Phase: dumpfe Resignation. Frau Wiese lehnt den Kopf an die Hausflurwand, ich lehne meinen ans Treppengeländer. Wir sitzen da wie zwei windschiefe Eulen.

Mariana Leky aus: “Kummer aller Art”
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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Vom Krieg und anderen Schrecken … Spiegel Belletristik-Bestseller (33/2022)

Selten verirren sich Romane in die Bestsellerlisten, die auf Erklärungen, Begründungen, in sich geschlossene Erzähllogiken verzichten. Typischerweise läuft alles auf die Struktur des klassischen Kriminalromans hinaus: Es wird von einer Tat, einem Ereignis berichtet, und der Roman liefert dann Grund und Auflösung nach. So verstanden stellt der Roman nur einen sehr langen Text zum kurzen Aufmacher dar. Als Beispiel sei Jan Weilers Der Markisenmann genannt, in der nach und nach der Grund aufgerollt wird, weshalb der Vater seine Tochter seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, oder Susanne Abels Was ich dir nie gesagt habe, wo eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung auf eine Lüge, ein Stillschweigen, ein Geheimnis zurückgeführt wird. Ralf Rothmanns Roman Die Nacht unterm Schnee handelt ebenfalls von einer Familientragödie, aber diese stellt nur den Rahmen für ein sprachliches Unterfangen der besonderen Art dar:

Kein Laut in der Nacht, auch kein entfernter Geschützlärm, an dem sie sich orientieren konnte. Soweit sie sah, verschneites Ackerland, von braunen Panzerspuren durchfurcht, und manchmal, wenn sie die fiebrig heißen Lider schloss, war das Fallen der größeren Schneeflocken in ihrer Nähe zu hören, ein unendlich zartes Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand mit feuchten Fingerkuppen auf die Tischplatte klopft. Doch als wäre diese Stille lediglich ein Raum für den Unglauben derer gewesen, die den Soldaten in den Ställen ausgeliefert waren, ein Atemholen des Entsetzens, zerriss im nächsten Moment ein langgezogener Laut die Nacht.

Ralf Rothmann aus: “Die Nacht unterm Schnee”
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Isabel Allende: „Violeta“

Ein in der Weltgeschichte … Spiegel Belletristik-Bestseller (32/2022)

Familienchroniken werden in der Literatur oft beschrieben. Der Aufstieg und Fall, die Tragödien und Komödien miteinander verwandter Menschen bilden ein eigenes Universum, ein soziales System, eine Welt für sich. Die Familie fungiert in diesen Romanen wie eine Monade der Gesellschaft, fensterlos, ganz im Sinne von Gottlieb Wilhelm Leibniz, als fraktaler Teil des Ganzen, ein Ganzes für sich, das das Ganze spiegelt und repräsentiert. Es gibt viele Beispiele für diese Art von Roman, wie im letzten Jahr Jonathan Franzens Crossroads, in welchem eine Pfarrersfamilie durch dick und dünn mit- und gegeneinander geht, um sich selbst und anderen auf die Schliche zu kommen. Paradigmatisch für all diese Werke steht möglicherweise Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks – Verfall einer Familie. Isabel Allende hat mit ihrem neuesten Roman Violeta, aus dem Spanischen von Svenja Becker übersetzt, eine Art Inversion von Die Buddenbrooks vorgelegt. Der Roman beginnt und endet nicht mit dem Zerfall einer unternehmerischen Großfamilie im Chile der 1930er Jahre:

Zwei Tage nach dem Sturz der Regierung bekam Arsenio del Valle den Gnadenstoß, als man ihn anwies, das große Haus der Kamelien zu verlassen, in dem er und alle seine Kinder geboren worden waren. Man gab ihm eine Woche, um es zu räumen. Außerdem wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen Betrugs und Steuerhinterziehung, wie es sein Sohn José Antonio seit langem befürchtet hatte.
Niemand hörte den Schuss in unserem riesigen Haus mit seinen vielen Räumen, wo die Rohre rauschten, das trockene Holz knarzte, die Mäuse verborgen in den Wänden scharrten und die Bewohner ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Erst am nächsten Morgen fand ich meinen Vater, als ich in die Bibliothek ging, um ihm eine Tasse Kaffee zu bringen, wie ich es öfter tat, seit die Dienstmädchen entlassen worden waren.

Isabel Allende aus: “Violeta”
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Susanne Abel: „Was ich nie gesagt habe“

Eine Reise durchs kulturelle Unbewusste … Spiegel Belletristik-Bestseller (27/2022)

Gibt es eine in sich runde Form, die aus konsequenter Formlosigkeit besteht? Ein Erzählen, das so naturalistisch daher kommt, dass der leiseste Anspruch an Wortwahl, Satzkomplexität, an überraschenden grammatikalischen Strukturen ins Leere geht? Tatsächlich gibt es diese Form des nüchternen, fast aus dem Leben gegriffenen Erzählens, eine Art Protokoll des Seelenlebens, ein Traum, ein Trauma frei von der Leber weg geschrieben. Ein Beispiel dafür ist Susanne Abels Gretchen-Reihe, in der Greta „Gretchen“ Schönaich und Konrad „Conny“ Monderath einen Neuanfang inmitten der Katastrophe suchen und versuchen:

Wie jeden Sonntag schlenderten sie den Berg hinauf. Rechts und links breiteten sich Wiesen aus, auf denen erstes zartes Grün sprießte, das eingerahmt war von Sträuchern, deren Knospen sich von den Sonnenstrahlen ins Leben küssen ließen. Es roch nach Neuanfang und Aufbruch. Conny wusste, heute musste er es ihr sagen. Sie bogen auf den Philosophenweg ein, und er steuerte gezielt das Philosophengärtchen an. »Sollen wir uns da hinten auf diese Bank setzen?« »Welche?«, fragte Greta. »Die unter der Buche.«

Susanne Abel aus: “Was ich nie gesagt habe”
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Kalenderwoche 27: Lesebericht.

Es fällt mir schwerer, über Bücher zu schreiben, die mich mein Leben begleiten, als über aktuelle Bestseller, meist von Autoren und Autorinnen, von denen ich noch nie vorher in meinem Leben etwas gehört habe. Letzte Woche habe ich den ersten Schritt mit der Besprechung von Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein getan. Malina von Ingeborg Bachmann soll alsbald folgen. Wie bald steht in den Sternen. Zu viel bringen die Sätze, Kapitel, die Wörter in Malina in Bewegung. Wie bei Werner Bräunigs Rummelplatz benötige ich vielleicht noch Zeit. Max Frisch sagte zwar in einem Gespräch mit Peter André Bloch 1972:

Wenn einer schreibt, schreibt er wohl kaum, weil er ein ablieferbar fertig anderes Bewusstsein hat, sondern indem er schreibt, kommt er zu einem solchen. Es ist ein Forschungsvorgang, den ich brauche, ich für mich selbst; um unsere Welt auszuhalten, möchte ich erkennen, wie sie sich für mich darstellt.

Max Frisch (1972)
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