Judith Hermann: „Daheim“

Die Selbstvergessenheit als Utopie ….  (Spiegel Belletristik-Bestseller 15/21)

„Daheim“ von Judith Hermann erzählt Geschehnisse an einem Küstendorf oder -städtchen, in das eine Frau um die Vierzig zieht. Sie lebt allein in einem abseitsgelegenen Haus, arbeitet bei ihrem Bruder (Sascha), der eine der Dorfkneipen führt und eine Beziehung mit einem verrückten Partygirl namens Nike führt, die über drei Jahrzehnte jünger als er ist. Nach einem sehr einsamen Winter zieht eine Künstlerin (Mimi) auf das Nachbargrundstück und eine Freundschaft beginnt. Die Geschehnisse drehen sich um Beziehungs- und Elternprobleme, um Missverständnisse und darum, wie man einen Marder fängt, der sich ins Dachgebälk eingenistet hat. Statt jedoch des Marders fängt die Protagonistin mit der Falle des Bruders ihrer Nachbarin (Arild) Katzen und Vögel, lernt aber dadurch diesen Bruder kennen und beginnt eine Affäre. Es passiert also oberflächlich gesehen nicht viel. Hintergründig jedoch behandelt Hermanns Text die Frage, wie überhaupt so etwas wie Wurzeln, ein Zuhause, wie Vertrauen, ein gefühlsmäßiges Koordinatensystem denkbar sind. Leitmotiv von „Daheim“ ist das Reisen und der Wunsch nach der Möglichkeit, anzukommen.

„Sie [ein Ehepaar] waren da nur übergangsweise, sie wohnten nirgends, sie waren auf den Schiffen unterwegs, mit ihrer Kiste und diesem und jenem. Wahrscheinlich waren sie, letztlich, Reisende.“

Judith Hermann

Die Unterbrechungen der Reisen umrahmen so etwas wie ein flüchtiges Zuhause und konsequenterweise sendet die Tochter Ann, die sich auf Weltreise befindet, ihrer Mutter, der Protagonistin, hier und da Koordinaten per Skype, bspw. http://t1p.de/dxx5, irgendwo im Atlantischen Ozean südöstlich von Island. Heimatlosigkeit, Verwurzelung, Anker und Haltlosigkeit bilden die unsichtbare Mitte des Romans, um die sich alles dreht. Mimi kehrt zurück in ihre Heimat, um dort ihre Bildhauerei fortzuführen, Arild, der Schweinezüchter, hat das Dorf nie verlassen, und Otis, der Ex-Ehemann der Protagonistin, sammelt Gebrauchsgegenstände für den bevorstehenden Weltuntergang, indes sich Sascha, der Bruder, sein eigenes Alter verbirgt und die Affäre mit der einundzwanzigjährigen Nike beginnt, die ihn jedoch einfach nur lächerlich findet. Die namenlose Protagonistin dagegen bildet den Gegenpol:

„Sie [Mimi] sagte, wo sind deine Wurzeln.
Ich sagte, oh, ich fürchte, ich hab keine.
Ich sagte, Gott. Sieh mich nicht so an. Das ist ganz normal. Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht.“

Judith Hermann

Tatsächlich benötigt jedes Koordinatensystem einen Ursprung (die Beobachtungsebene) und einen Maßstab. Der Ursprung, von dem gemessen wird, ist die Null, die Leerstelle, das „hier“, von dem aus die Geschichte erzählt wird, die Protagonistin, die namenlos, ein Niemand bleibt. Sie ist in dieser Hinsicht ein moderner Odysseus, der nach Hause kommt:

„Aber da jetzo der geistige Trank in das Hirn des Kyklopen
Stieg, da schmeichelt ich ihm mit glatten Worten und sagte:
Meinen berühmten Namen, Kyklop? Du sollst ihn erfahren.
Aber vergiß mir auch nicht die Bewirtung, die du verhießest!
Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle,
Meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen.“

Homer aus: Odyssee (9. Gesang)

Das dies nicht unbedingt ein Zufall sein muss, der Ursprung, die Leerstelle, die Namen- und Wurzellosigkeit der Protagonistin, zeichnet sich auch darin ab, dass Odysseus, als dieser nach Ithaka zurückkehrt von Eumaios bewirtet und aufgenommen wird, seines Zeichens Schweinehirt und Kindheitsfreund, der ihn nicht wiedererkennt und ihm dennoch überbordende Gastfreundschaft entgegenbringt, wie der wortkarge Arild der Protagonistin.  In diesem Sinne ist sie die Transposition des Epos in die Gegenwart, das Schreiben gegen den Verlust, gegen das langsame Verschwinden der eigenen Erinnerungen, die Mnemosyne-Arbeit, die das Zuhause, die Wurzeln ersetzt, da das Sprechen, Schreiben, der Text sein eigenes Koordinatensystem erschafft und insofern alles Geschriebene sich fortan nur ihn selbst beziehen lässt.

„Mir fällt ein, dass die Gestaltlosigkeit der unzähligen Schweine so ähnlich ist wie ein Wort, das du wiederholst und wiederholst, bis es seinen Sinn verliert.“

„Keine einzige Möwe, auf dem Deich eine Kette von Schafen mit fragwürdigem Ziel.“

Judith Hermann

Hier jedoch handelt es sich nicht um eine Kollage des Althergebrachten. Hermann bricht mit dem klassischen Ideal des geschlossenen Systems, der Kartesianischen Koordinaten, das „Ich, das alle meine Gedanken begleitet“, indem sie die Statik in die Dynamik überführt, plötzlich alles, jeden Maßstab temporalisiert und ihm eine eigene deutungsgeschichtliche Dramatik verleiht

„So weit weg am Rand des Kontinents und da, wo die Dinge sich verschärfen. Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.“

Iudith Hermann

Kein Wunder, dass einem der Text entgleitet. Die Erzählerin sucht, schweift ab, lässt sich nicht festlegen, kann sich gar nicht festlegen und fällt weder auf die Flucht herein, wie die Tochter, die nur noch reisen und Drogen nehmen, also die Zukunft verdrängen möchte, noch auf die Paranoia, wie der Ehemann, der sich gegen die Zukunft vor allen Eventualitäten zu wappnen versucht, weder bleibt sie wie der Schuster bei seinem Leisten wie Arild, noch ist sie eine reumütige Rückkehrerin wie Mimi, oder ein sich in die körperliche Lust betäubende, in den Liebeswahnsinn hineinsteigernde Endfünfziger wie ihr Bruder. Sie ist lakonisch-resignativ, zerstaubt, federleicht, in Schwebe. Sie schaut in den Abgrund mit einer seltsamen Tiefenruhe, die an Robert Walsers Protagonist in „Jakob von Gunten“ erinnert:

„Mir z.B. ist das Tragen der Uniform sehr angenehm, weil ich nie recht wusste, was ich anziehen sollte. Aber auch in dieser Beziehung bin ich mir vorläufig noch ein Rätsel. Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“

Robert Walser aus: „Jakob von Gunten

Der Witz liegt auf der Hand, da die Null das Allerunbestimmteste ist, wie eben der Ursprung eines Koordinatensystems, oder die Erzählstimme eines Romans, die bestimmt von Unbestimmtheit spricht,  die also aufgegeben hat, wirkungsmächtig erscheinen zu wollen, die sich aber auch nicht mit der Beliebigkeit des Moments zufrieden geben möchte. In „Daheim“ schimmert eine Tiefe durch Oberflächenverkräuselungen hindurch. Es gibt mehr als den bloßen Moment, das leere Sein, die leere fröhliche Fahrt, von der die Tochter der Protagonistin spricht:

„Ich [Tochter Ann] sage ihm [Onkel Sascha], dass es keine Bedeutung hat. Dass es nur gibt, was du gerade erlebst, und jede Erklärung, die du dafür hast, ist ausgedacht und existiert erst, wenn du sie formulierst. Ihr denkt, ihr hättet eine Bibliothek in euch, eine Sammlung, Bilder und Erinnerungen, die euch zu dem machen, was ihr seid. Gründe für das, was ihr mögt und nicht mögt. Aber diese Bibliothek ist eine Erfindung. Onkel Sascha denkt, es gibt Gründe für Nike, und ich habe ihm gesagt, dass ich glaube, dass er sich täuscht.“

Judith Hermann

Was Judith Hermann von vielen GegenwartsautorInnen abhebt, ist die Melancholie, die Sentimentalität, die sich selbst das Wasser abgräbt. Sie will sich nicht zufrieden geben, kann aber auch nichts Beliebiges an die Stelle setzen, also dichtet sie sanft, zögerlich, mit angehaltener Handbremse um den etwaigen Sinngehalt herum, will ihn wenigstens nicht verletzen, in seinen Kreisen stören, bleibt hoffnungsvoll ausharrend. So schreibt Walter Benjamin über Franz Kafka, dessen Lieblingsautor Robert Walser gewesen ist:

„Das Vergessene – mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk – ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt. […] Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper – der eigene Körper – ist, versteht man, wie Kafka den Husten, der aus seinem Innern brach, »das Tier« genannt hat.“

Walter Benjamin aus: „Franz Kafka“ (Gesammelte Schriften, Bd II – 2)

Der Körper, die Unversehrtheit spielen eine große Rolle in „Daheim“, das im Meer nackt schwimmen gehen, die Unverkrampftheit Mimis, die nackt im Garten arbeitet, das Schminken, der zerstörte Körper Nikes (der Siegesgöttin), die sich benutzen lässt, flieht und doch ins Verderben gerät. Alles dies jedoch wird ohne viel Aufsehens abgearbeitet, erwähnt, wie die Schweine auf dem Hof Arilds, wie der Herzinfarkt des Vaters, wie der Geschlechtsverkehr und das Zigarettenrauchen oder der Geschmack vom Moskauer Eis auf der Zunge.

„Ihr [Mimis] Gesicht war ernst, und es glühte. Sie hob entschlossen ihr Rad über den Graben und riss es zwischen den jungen Rapsstängeln hinter sich her. Es hatte das ganze Frühjahr nicht geregnet, und die Erde war ockerfarben, voller klaftertiefer Sprünge und Risse, sie stäubte unter Mimis Sandalen auf wie Rauch.“

„Ich schreibe Otis nichts von alledem. Nichts von Arilds Hof, den Schweinen, Mimis Wurzeln. Ich schreibe, auf einem der drei Erntewagen am Feldrand sitzt jeden Abend ein Habicht, er sitzt immer auf dem mittleren Wagen, rechts über dem Rad.“

Judith Hermann

Statt Minervas Eule nun der Habicht am Feldrand. Es könnte alles gut sein. Es könnte, ist es aber nicht. Hermann will das Konditional nicht vergessen, um sich durch den Erlös ein kleines, kurzfristges Glück zu erkaufen, noch will sie sich im Konditional verlieren und die Gegenwart verdrängen, in Beliebigkeit Zuflucht suchen. Etwas fehlt, schreibt Bertold Brecht, und dann bleibt nur noch das Schreiben, das Komponieren, Klingen, Verlautbar-werden-lassen der Sehnsucht. Hermann dichtet der Utopie entgegen mit der ganzen Trauer einer unfreiwillig ins Exil Geratenen.

„Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.“

Theodor W. Adorno aus: Minima Moralia

Judith Hermann ist ein außergewöhnlich ruhiger, zurückhaltender, freundlicher Roman gelungen. Je tiefer sie in sich hineinschaut, desto breiter wird ihr Blick und beruhigt, zeigt auf, lässt hoffen. Je hermetischer, desto offener, „Daheim“ dazwischen, als Gratwanderung zwischen Resignation und Flucht, zwischen Vergessen und Hoffnung, zwischen Freiheit und Gefangenschaft, Erinnerung und Erleben, Lyrik und Prosa zugleich:

„Sie [Mimi] lief raus und holte draußen ihre Leinwand ein wie ein Fischer sein Netz. Ich ging am Strand auf und ab und beobachtete sie, die Muscheln knirschten und zerbrachen unter meinen Füßen. Sie hatte einen roten Dufflecoat an, der Dufflecoat leuchtete vor dem blassen Himmel und dem dunklen Schlick, im Schlick kreuzten sich die zarten und ratlosen Spuren der Vögel. Sandregenpfeifer. Rotschenkel. Austernfischer. Säbelschnäbler.“

Judith Hermann

3 Antworten auf „Judith Hermann: „Daheim““

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