Simon Beckett: „Die Verlorenen“

Positivistische Abgründe … Spiegel Belletristik-Besteller (26/2021)

Flugzeugessen ist optimiert auf hohen Fettgehalt. Die Portionen sind klein, die Zubereitungs- und Kühlmöglichkeiten beschränkt, so dass wenig, dafür sättigendes, also sehr fettiges Essen aus der Sicht des Fluganbieters sinnvoll ist. Aus der Sicht der Flugreisenden vielleicht nicht, so dass nicht alle Passagiere vom Angebot Gebrauch machen und zulangen. Manche Passagiere verlangt es eher nach Leichtem, nicht Belastendem, insbesondere auf Langstreckenflügen. Ähnliches gilt auch für die Lektüre auf solchen Flügen. Es ist laut. Die Luft ist stickig. Die Arm- und Beinfreiheit beschränkt, so dass nicht viel Konzentration und Energie für eine anstrengende Story bleibt. Man greift daher gerne zu Thrillern.

Wer sich in den letzten Jahren viel auf Flughäfen herumgetrieben hat, wird auf der ganzen Welt in jeder Buchauslage Thriller mit weißem Cover, schwarzer Schrift und unheimliche Tintenkleckse gesehen haben. Simon Beckett ist der Autor dieser Bücher, und er hat mit „Die Verlorenen“ nun eine neue Reihe rund um die Hauptfigur Jonah Colley gestartet, nachdem seine Reihe um Dr. David Hunter, die mit „Die Chemie des Todes“ aus dem Jahr 2006 startete, mit „Die ewigen Toten“ im Jahr 2019 abgeschlossen wurde.

Jonah Colley ist kein forensischer Anthropologe, sondern Polizist eines Spezialkommandos. Er ist geschieden, lebt in London, und hat einen Sohn verloren. Die Reihe dreht sich wahrscheinlich darum, diesen Sohn Theo wiederzufinden, denn dessen Leiche ist nie gefunden worden. Ansonsten gibt es kaum etwas über den Protagonisten zu berichten. Er hat eine Ex-Frau. Er hat Freunde. Er trinkt gerne Bier und hat Probleme mit seinen Kollegen. Das Buch beginnt, als Jonah Colley zum ersten Mal seit zehn Jahren von seinem ehemals besten Freund Gavin McKinney, ebenfalls Polizist, eine Telefonnachricht erhält.

Sollte Gavin seine Probleme gefälligst selber lösen. Jonah war ihm nichts schuldig. Rein gar nichts. Trotzdem beschäftigte ihn der Anruf. Als er die Getränke an den Tisch der Truppe brachte, ging ihm ein Satz, den Gavin gesagt hatte, immer noch nach.
Du bist der Einzige, dem ich vertrauen kann.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Von dort aus geht eine Reise durch die Nacht los, die nichts für schwache Nerven sein soll, aber zumindest genug Lesestoff bieten will, um einen unterhaltsamen Flug vom Airport Frankfurt zum John F. Kennedy International Airport in New York zu erlauben. Dreh- und Angelpunkt des Plots ist die Freundschaft zwischen Gavin und Jonah, die nach zehn Jahre Funkstille wieder ins Rollen gerät. Jonah forscht seinem Freund nach, deckt verzwickte Zusammenhänge und unlautere Machenschaften von diesem auf, und erhält Hinweise, dass das Verschwinden seines Sohnes doch kein so alltäglicher Fall von „vermisst“ und „verunglückt“ zu sein scheint. Jonah ist nämlich zehn Jahre zuvor auf einer Parkbank neben einem Spielplatz eingeschlafen, kurz, aber als er aufwachte, ist sein vierjähriger Sohn Theo verschwunden. Diese Szene erlaubt eine kurze Methodologie des Romans offenzulegen, wie nämlich sich Beschreibungen und Details mit Erklärungen ineinanderfügen. Jonah ist also mit Theo, seinem Sohn, in den Park gegangen und dort angekommen.

Der Park war fast menschenleer. Es war ein Wochentag, der Himmel bedeckt. Die morgendlichen Gassigänger waren alle wieder zu Hause, am Rand des Spielplatzes saß nur eine junge Mutter mit einem Kind in der Karre und zupfte an den Decken herum.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Der Autor will uns sagen, dass außer Theo und ihm und einer Mutter mit ihrem Kinderwagen, Karre, niemand im Park ist. Der Park ist deshalb nur „fast menschenleer“. Wäre der Tag noch nicht so weit fortgeschritten und wäre kein Wochentag, so entnimmt man den Zeilen, wären noch viele Hundebesitzern mit ihren Hunden unterwegs. Nun sind sie aber, weil es ein Wochentag ist, alle wieder zu Hause. Beckett wollte wohl sagen, dass Hundebesitzer unter der Woche nur sehr früh am Morgen den Park zum Gassi gehen nutzen, weil sie danach zur Arbeit müssen. Dies erschließt sich ja irgendwie zwischen den Zeilen, nur nicht, weshalb sie dann zu Hause und nicht auf Arbeit sind. Dass der Himmel bedeckt ist, fällt auch vom Himmel, und soll möglicherweise andeuten, dass der Park nicht so menschenleer wäre, wenn die Sonne schiene, da unter diesen Umständen für gewöhnlich viele Anwohner Frisbee spielen und sich auf der Rasenfläche sonnen, aber sicher kann man sich da nicht sein. Zudem spielt es auch für den weiteren Verlauf der Geschichte keine Rolle. Die Szene geht nämlich weiter. Jonah schaut beglückt und stolz auf seinen spielenden Sohn.

Doch er wirkte völlig zufrieden in seinem leuchtend blauen Anorak und der roten Pudelmütze und summte vor sich hin.

Wenige Zeilen später liest man, dass der Park doch nicht ganz so menschenleer gewesen ist, wie Jonah zuerst dachte.

Aber der Obdachlose schien sich allein für den Inhalt seiner Flasche zu interessieren. Jonah gähnte erneut und sah Theo lächelnd zu, dessen Wangen von der Kälte so rot leuchteten wie seine Pudelmütze […]

Man merkt, die rote Pudelmütze wird noch eine Rolle spielen, und nachdem Jonah kurz auf der Parkbank nach einer Nachtschicht eingeschlafen ist, schreckt er auf und sieht Theo nicht mehr.

In den Rhododendronbüschen und unter den kahlen Bäumen rings um den Spielplatz war nirgends ein blauer Anorak zu sehen.

Er blickt sich panisch um und sieht, wie eindrucksvoll vorbereitet und bereits angekündigt:

Rot. Jonah rannte hin. Dort im Schmutz lag Theos Pudelmütze.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Die Schreibweise von Simon Beckett läuft stets nach demselben Schema ab. Zuerst wird ein Detail zwei, drei Mal dicht hintereinander erwähnt, dann eine Seite nicht, und dann spielt nach einer Seite dieses Detail eine dramatische oder wichtige Rolle. Wie auch bei den langen Beinen der Reporterin Corinne Daly, die während einer Beerdigung über ihre Kleidung nachsinnt.

Für Beerdigungen war dieses Kleid ein bisschen zu schick, aber sie hatte geahnt, dass Jonah Colley dort auftauchen würde, und das Kleine Schwarze brachte ihre Beine wirklich verdammt gut zur Geltung.

Nur ein paar Zeilen später dann:

Sie nahm den Aufzug in die Tiefgarage. Normalerweise ging sie zu Fuß, aber die verdammten Pumps brachten sie um. Zwar brachten sie ihre Beine toll zur Geltung, aber der Preis dafür war hoch.

Um dann später die Conclusio folgen zu lassen:

Er [Jonah] ließ ihr den Vortritt. Sie ging ins Wohnzimmer, legte die Handtasche auf den Couchtisch, setzte sich aufs Sofa und ließ sich mit einem Seufzer gegen die Lehne sinken. So blieb sie sitzen, die langen Beine vor sich ausgestreckt, den Kopf nach hinten gelehnt. Jonah wurde sich plötzlich bewusst, wie attraktiv sie war.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Vom schlechten Stil abgesehen, hat dieses Schema den riesigen Nachteil, dass permanent alles Seiten vorher angekündigt wird und man dann gezwungen ist mitzuerleben, wie der Protagonist von einer Falle in die nächste tappt. Hinzukommt das Fehlen jeglicher inneren Konsequenz. Auf Schritt und Tritt fragt sich Jonah Colley, selbst Polizist, ob es nicht klüger wäre, die Polizei einzuschalten, um sich dann doch dagegen zu entscheiden, und deshalb immer wieder erneut als Verdächtiger behandelt und in Untersuchungshaft genommen zu werden. Im Gegensatz jedoch zu Gruselfilmen, in denen man beim Zuschauen den Atem anhält, wenn der Protagonist allein, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet, die unter den Schritten knirschende Kellertreppe hinabgeht, um nachzusehen, woher das Rascheln und Quietschen kam, ergibt sich bei dem inneren Monolog von Jonah Colley nur Langeweile, unter anderem, weil er sich nicht einmal selbst überzeugen kann, dass es eine gute Idee ist, bspw. allein mitten in der Nacht zum „Slaughter Quai“ zu fahren, zumal er selbst von der Polizei ist und es besser wissen könnte, wie er im Nachhinein immer wieder selbst feststellt. Abstrus wird es, wenn er sich dann am Ende des Buches illegal eine Waffe besorgen lässt, und man sich vollends die Frage stellt, inwiefern die Wahl, dass es sich bei Jonah Colley um einen Polizisten eines Spezialkommandos handelt, noch ins Gewicht für den Plot fällt.

Der Stil von „Die Verlorenen“ reduziert sich sprichwörtlich auf Protokollsätze, wie es sich der Wiener Kreis rundum Rudolf Carnap nur erträumt hätte. Nicht spekulieren, nicht von inneren Zuständen sprechen, keine wirklichen Emotionen zeigen, sondern lediglich bei den harten Fakten bleiben.  

Irgendetwas stimmt mit dem Himmel nicht. Die Sonne hing als statisch glühender Fleck in einer schmutzig weißen Fläche, die sich nie veränderte. Und es gab Schatten, dunklere Bereiche in den Ecken. Langsam dämmerte ihm, dass es da keine Ecken geben dürfte. Das war gar kein Himmel. Sondern eine Zimmerdecke.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Oder:

Einen Gehweg gab es nicht, die Ziegelwände der Gebäude ragten auf beiden Seiten hoch in den Himmel. Es war, als stünde man am Grund einer Schlucht.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Die Beschreibungen bleiben stets nah am Partikularen, treiben die Erzählung nie voran, sondern bleiben impressionistisch, unzusammenhängend, als würden sie von einem Automaten registriert, der sich nicht zu Interpretationen aufschwingen möchte. Jonah Colley wirkt traumatisiert, schlafwandlerisch und unschlüssig, und tatsächlich kommt kurz vor Ende des Buches auch heraus, dass er schon seit geraumer Zeit an Schlafstörungen leidet, ohne jedoch, dass es vorher bei den beschriebenen Morgenroutinen Erwähnung gefunden hätte. Der Thriller „Die Verlorenen“ leidet an derselben Entschlossenheit wie der theoretische Positivismus, der zu kalt, zu nüchtern, ja, zu konsequent auf seinem Prinzip des Neutralen bestand, um wirklich noch interessieren zu können. Man fühlt sich an die Sätze von Carnap erinnert.

Es liegen hier also zwei verschiedene Sprachen vor, eine psychische und eine physische, und wir behaupten, dass sie denselben theoretischen Gehalt zum Ausdruck bringen. Man wird einwenden, dass in der Aussage »A freut sich« doch mehr zum Ausdruck komme, als in der entsprechenden physischen Aussage. Und das ist auch richtig. Die psychische Sprache hat vor der physischen nämlich nicht nur den Vorzug einer bedeutend größeren Einfachheit voraus, sondern sie bringt auch mehr zum Ausdruck. […] Indem ich nämlich sage: »A freut sich« und nicht nur: »A zeigt Mienen von der und der Gestalt«, bringe ich zum Ausdruck, dass ich dabei die Vorstellung eines Freudegefühls habe; allerdings eines Freudegefühls im eigenpsychischen Sinne, ein anderes kenne ich ja nicht.

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Für den Thriller bedeutet dieses Mehr, dass die Erzählung Spannung, Verzweiflung, und Empathie in den Lesenden entstehen lässt. Die ungeschönte und prosaische Schreibweise von Simon Beckett jedoch erzeugt einen nüchternen, desinteressierten Blick, aus dem man die Geschehnisse wie ein Außerirdischer, fern ab, weit entfernt von allem, hoch über den Dingen schwebend verfolgt. Die meisten Details, die gegeben werden, spielen ohnehin nicht einmal eine nebensächliche Rolle. Sie heften sich an die Makulatur von Plot ohne Zusammenhang, könnten auch komplett anders ausfallen und fügen den Geschehnissen nichts hinzu. Es wirkt beinahe so, als wäre der Autor nach dem Schreiben nochmals durch die Kapitel gegangen und hätte hier und da etwas hinzugefügt, um auf die 400 Seiten zu kommen, die der Verlag von ihm verlangt hat. Als Beispiel sei folgende Stelle angeführt:

Jonahs Wagen hatte ein Automatikgetriebe, er brauchte also den linken Fuß nicht für die Kupplung. Er hatte bereits mit seinem Chirurgen Rücksprache gehalten und von seiner Versicherung nach Einwilligung in einen horrenden Prämienaufschlag das Okay bekommen, sich wieder hinters Steuer zu setzen. Allerdings hatte er nicht geplant, tatsächlich schon wieder zu fahren. Eigentlich hatte er sich noch ein paar Wochen damit Zeit lassen wollen. Tja, er hatte vieles nicht geplant.

Simon Beckett aus: „Die Verlorenen“

Weder spielt das Automatikgetriebe eine Rolle noch der Chirurg oder die Versicherung, schon gar nicht der horrende Prämienaufschlug. In der Tat wird Jonahs Wagen, ein Saab, nur wenige Seiten später beschlagnahmt und findet auch vorher keinerlei Erwähnung. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es erstaunlich, dass nicht noch Details über die Lackierung, die Marke des Automatikgetriebes und die Anzahl der Gänge schwadroniert wird, geschweige denn von dem unmöglichen Versicherungsagenten, der, obwohl Jonah schon über dreißig Jahre treuer Kunde gewesen ist, nur sehr zögerlich mit seinem offiziellen Okay herausrückte. Das Ärgerliche an einem solchen Stil ist die vollendete Beliebigkeit, die sich dazu noch auf die schrecklichen Geschehnisse niederschlägt, von denen berichtet wird: Kindesentführung, Menschenhandel, Mord, Todschlag, Zerhackstückelung, Folter, Brandkalkbeerdigung und viele weitere.

Carnap steht jedenfalls guter Pate für diese Erzählweise und fasst treffsicher den Stil mit wenigen Zeilen zusammen.

Der Begriff »Jupiter« kann dadurch eingeführt werden, dass festgesetzt wird: die Aussage »Jupiter brummt zur Zeit t am Ort p« soll wahr heißen, wenn zur Zeit t am Ort p ein Donner feststellbar ist, andernfalls soll sie falsch heißen. Durch diese Festsetzung hat, ohne dass etwas über den Sinn des Begriffes »Jupiter« gesagt worden ist, die Aussage einen Sinn bekommen; denn wenn ich jetzt zu jemandem die Aussage mache: »Jupiter wird um 12 Uhr hier brummen«, so weiß er, was er zu erwarten hat; er kann, wenn er sich in die geeignete Situation (an den bestimmten Ort) begibt, eine Erfahrung machen, durch die meine Aussage bestätigt oder widerlegt wird.

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Die Erfahrung lautet »etwas brummt« oder »ein Geräusch ist zu hören«. Im Falle von „Die Verlorenen“ von Simon Beckett, der sich selbst als Killer-Versteher versteht, lässt sich daraufhin mit Sicherheit sagen: Wer dieses Buch kauft, wird beim Lesen damit Zeit verbringen. Ob diese Zeit im Nachhinein als schön, gut, angenehm bewertet wird, lässt sich nicht sagen. Für einen Langstreckenflug jedoch, bei dem man ohnehin vielleicht nichts Besseres zu tun hat, reicht es allemal, vor allem durch die vielen Ergänzungen, und ersetzt möglicherweise sogar die Schlaftablette.

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