Im Folgenden Zitate, Links, Hinweise zu Autoren, deren Nachnamen mit dem Buchstaben “F” beginnen. Jeweils fortführend und weitergehend ergänzt.
Frisch, Max:
“Mein Name sei Gantenbein”
Ich stelle mir vor: So könnte das Ende von Enderlin sein. Oder von Gantenbein? Eher von Enderlin.
Als ich erwachte, vermutlich weil ich fror, erschrak ich über den Gedanken: Ich habe diesen Mann über die Felsen gestoßen. Ich wußte: Ich habe es nicht getan. Aber warum eigentlich nicht? Ich hatte es auch nicht geträumt; ich erwachte bloß mit dem wachen Gedanken: Ein Stoß mit der Hand, als er sich nach seinem Rucksack bückte, hätte genügt. Ich aß jetzt seinen Apfel. Natürlich bin ich froh, daß ich’s nicht getan habe. Es wäre ein Mord gewesen.
Ich stelle mir vor: Ab und zu habe ich es satt, Gantenbein zu spielen, und begebe mich in die Natur. Nachmittag im Grunewald. Sammle Kieferzapfen und schleudere sie, soweit ich vermag, hinaus in die Krumme Lanke, und Patsch, unser Hund, springt in das bräunliche stille blasige Wasser.
Das Elfuhrgeläute, Zürichs heiterste Einrichtung, wäre bei offnem Fenster noch schöner gewesen, rauschender, doch wagte Gantenbein nicht aufzustehen und das Fenster zu öffnen.
Ein Schutz vor der Erinnerung und ihren Schlünden, Gantenbein ist froh, daß er nicht wirklich blind ist. Übrigens hat er sich schon ziemlich an die Verfärbung gewöhnt, die seine blaue Brille verursacht: die Milchglassonne über Fassaden aus Asche; das Laub wie Bronze; Wolken, die fälschlich mit einem tintenhaften Gewitter drohen
Die Blindnis solcher Ansichten, wie Gantenbein sie im Vorzimmer geäußert hat, um das alte Weiblein zu ermutigen, kommt ihm zustatten; sie macht auch seine andere Blindnis glaubhaft.
Das Ich, das dieser gute Mann sich erfunden hatte, blieb unbestritten sein Leben lang, zumal es ja von der Umwelt keine Opfer forderte, im Gegenteil«, sage ich, »er brachte Milch und Butter in jedes Haus. Einundzwanzig Jahre lang. Sogar sonntags. Wir Kinder, da er uns oft auf seinen Dreiräderwagen aufhocken ließ, liebten ihn.«
Nur als unvergeßbare Zukunft, selbst wenn ich sie in die Vergangenheit verlege als Erfindung, als Hirngespinst, langweilt mein Leben mich nicht – als Hirngespinst: wenn ich den Mann am Kesch über die Wächte gestoßen hätte …
Wir haben so geplaudert, wie man’s auf einem Berggipfel eben tut, kameradschaftlich sozusagen, zwei Männer, die weit und breit die einzigen sind, kameradschaftlich-wortkarg, der stete Gipfelwind erlaubt keine langen Sätze. Ohne Förmlichkeiten, versteht sich, Handschlag, ohne daß man sich einander vorstellt. Beide haben diesen Gipfel erreicht, das genügt, beide haben dieselbe Fernsicht. Handschlag oder auch nicht, schon das weiß ich nicht mehr mit Sicherheit; vielleicht blieben meine Hände in den Hosentaschen.
Der fremde Herr, als er später (ca. 15.30) ihren bloßen Arm faßt, ist verlegen nicht vor ihr, aber vor mir. Sie blickt mich nicht an, wie ich erwartet hätte, mit spöttischer Miene: Mein Herr, was soll das? Und sie zieht auch ihren warmen Arm nicht zurück, und da sie zudem schweigt, bleibt nichts andres übrig als die Geste des fremden Herrn durchzuhalten. Aufrichtig ist dabei mein Bedauern, nichts zu empfinden. Mehr noch: ich bin bestürzt. Und als der fremde Herr endlich seine Hand wegnimmt, da ich sie brauche, um meinen Whisky zu ergreifen, bevor er warm ist, hat sie meine heimliche Bestürzung schon bemerkt, glaube ich, und mißverstanden.
Also ich rede jetzt über Unverfängliches, Weltereignisse, monologisch. Dann und wann, als zwinge der Rauch sie dazu, macht sie die kleinen Augen einer Frau, die umarmt, und es wäre bloß natürlich, wenn der fremde Herr, sei’s mit einem Scherz oder mit einem stummen Hundeblick, nochmals ihren bloßen Arm fassen würde, ihre Hand, ihre liegende Hand mit der Zigarette am Aschenbecher, ihre fernere Schulter, ihren Nacken. Er tut’s nicht. Ohne meine Bewachung, mag sein, würde er es versuchen – unwillkürlich …
(Manchmal scheint auch mir, daß jedes Buch, so es sich nicht befaßt mit der Verhinderung des Kriegs, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest, unstatthaft. Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.)
Eigentlich ganz glücklich, denn er glaubte wirklich, daß sie der Wiederholung entgehen würden, die feuerlose Zigarette zwischen den Lippen schaute er sich um, geistesabwesend seit der Entdeckung, daß er sein Feuerzeug hatte liegen lassen. Einer der Fuhrleute spuckte immerfort auf den Boden, Terrazzo mit Sägmehl drauf. Wo gibt es das, Terrazzo mit Sägmehl drauf, in welchen Ländern?
Nachher hatten sie lange nur geraucht und geschwiegen. Schließlich war es wirklich nicht seine Sache, wie sie es in ihre Ehe einbaute, und er wollte jetzt, während er, die Tasse in der linken Hand, über Algier las, nicht daran denken. Aber auch Algier war nicht seine Sache, und er hatte jetzt das Bedürfnis zu zahlen.
Es gibt einen Dämon, so schien ihm heute, und der Dämon duldet kein Spiel, ausgenommen sein eignes, er macht unser Spiel zu dem seinen, und wir sind das Blut und das Leben, das keine Rolle ist, und das Fleisch, das stirbt, und der Geist, der blind ist in Ewigkeit, Amen …
Sie werde, sagte sie, eine Buße bekommen, einen Zettel an ihrem Wagen. Sie sagte es, während er scheinbar gelassen in Verrichtungen, die seine Kenntnisse in Damenwäsche verrieten und dennoch ohne ihre spöttische Hilfe gescheitert wären, in nüchterner Einsamkeit schon zu wissen meinte, daß es nicht anders sein würde als immer und immer.
Nicht die Nacht, nicht ihr Körper in der Nacht, sondern seine Gegenwart in diesem Oberlichtsaal kam ihm wie ein Traum vor, das Gurren der Tauben wie eine ferne Erinnerung; nur das Fehlen ihres kleinen Körpers war wirklich, Gegenwart, während er so stand, die Arme verschränkt auf der Brust, und fernher die Stadt hörte wie eine Brandung, dumpf, monoton, wellenhaft, das waren die grünen Wellen.
Schon hatte er den Zettel zerknüllt und in den Papierkorb geworfen, unfroh nicht gegen sie, unfroh gegen die Zeit, die sich meldete überall und mit jeder Bagatelle, die Zeit, die uns immerfort überholt, Vergängnis in jeder Bagatelle; er legte seinen dunklen Abendanzug in den Koffer, faltete ihm die lahmen Ärmel, als wär’s eine Leiche, und legte seine dunkle Hose darauf, hatte sich auf den Rand des Bettes gesetzt und zog sich die Uhr vom Handgelenk, als er im Papierkorb nochmals den zerknüllten Zettel sah als das Einzige, was er von ihr hatte außer seinem Traum.
Noch jede Frau, dachte er, jede, die er umarmt hatte, fühlte sich geliebt; jede aber, die er wirklich zu lieben begann, sagte ihm früher oder später, daß er, wie alle Männer, von Liebe keine Ahnung habe …
Nie werde ich fragen, wer dieser Herr gewesen ist. Denn Lila erwähnt ihn ja nie, und ich könnte nicht erklären, wieso ich von seiner Existenz überhaupt weiß, nicht ohne meine Rolle dadurch aufzugeben.
Sie möchte mit keinem andern Mann leben, sagt Lila, und ich glaub’s. Nicht immer wird es leicht sein, aber es lohnt sich; man kann einen Blinden nicht hinters Licht führen.
Ich lebe ganz und gar, vom Scheitel bis zur Sohle, von Lila. Und das weiß sie, und das genügt.
Und ich halte mich daran. Nur einmal, als ein Kurzschluß unsre Wohnung verdunkelt, habe ich Mühe wie einer, der sieht, beziehungsweise eben nicht sieht, weil es stockfinster ist. Aber da es stockfinster ist, kann auch Lila nicht sehen, wie ich Mühe habe, und als ich endlich mit einer rettenden Kerze erscheine, bin ich wieder wie ein Engel für sie.
Dies als Lehre. Ein hölzernes Bein, in Wirklichkeit, hinkt unablässig, doch bemerken wir es nicht unablässig, und dies ist es, was die Kunst der Verstellung wiederzugeben hat: die überraschenden Augenblicke, nur sie.
Ich stelle mir die Hölle vor: Ich wäre Enderlin, dessen Mappe ich trage, aber unsterblich, so, daß ich sein Leben, meinetwegen auch nur einen Teil seines Lebens, ein Jahr, meinetwegen sogar ein glückliches Jahr, beispielsweise das Jahr, das jetzt beginnt, noch einmal durchzuleben hätte mit dem vollen Wissen, was kommt, und ohne die Erwartung, die allein imstande ist, das Leben erträglich zu machen
Es wäre die Hölle. Enderlin, eine Zeitung blätternd, tut, als höre er nicht zu; die Lage ist gespannt; er genießt es, nicht zu wissen, was morgen in der Zeitung stehen wird, nicht mit Gewißheit zu wissen – Es wäre die Hölle.
Ich stelle mir vor: Enderlin Felix, Dr. phil., im Alter von 41 Jahren, 11 Monaten und 17 Tagen und mit Lebenserwartung 1 Jahr, Enderlin allein, draußen vor dem offnen Fenster findet gerade ein Frühling statt,
Laut Manuskript: »Hermes ist eine vieldeutige Gestalt. Berüchtigt als Gott der Diebe und der Schelme, selbst ein Schelm, der am Tag seiner Geburt schon die Kälber des Apollon gestohlen hat, berühmt für seine Behendigkeit, eine heitere und listenreiche Behendigkeit, womit er die Sterblichen gern zum Narren hält, ist er überall im Spiel, sein ganzes Wesen und Auftreten stehen im Zeichen der Zauberei, ein Freund der Hirten, ein Gott der Herden, die er vor dem Sturz in die Schluchten bewahrt, ein Spender der Fruchtbarkeit. Die Herme, sein ursprüngliches Zeichen, hat die Gestalt des Phallus.
Jetzt ist es schon soweit, daß Lila sogar ihre Briefe herumliegen läßt, Briefe eines fremden Herrn, die unsre Ehe sprengen würden, wenn Gantenbein sie lesen würde.
Ein Mann mit einer Tat, ahnungslos wie ein Gendarm, der solche Taten immer nur von außen sieht, ein Mann aus altem Schrot und Korn, vermutlich Turner, wenn auch backstubenbleich, einheimisch von jener Art, daß Verbrechen als etwas Ausländisches erscheint, ein Mann, dem man es einfach nicht zutraut – wie den meisten Tätern – fragte er mich, was ich wünsche.
Was überzeugt, sind nicht Leistungen, sondern die Rolle, die einer spielt. Das ist’s, was Enderlin spürt, was ihn erschreckt.
Ein Mann, Botschafter einer Großmacht, ist in der Sommerfrische zusammengebrochen, aber es ist, wie sich herausstellt, kein Herzinfarkt, nur eine Einsicht, was ihn getroffen hat, und da hilft kein Urlaub, um sich davon zu erholen, kein neuer Orden, um sich daran aufzurichten. Er hat eingesehen, daß er gar nicht die Exzellenz ist, für die ihn die Welt, unter Kronleuchtern empfangen, zu halten vorgibt.
Ein Schreiben an seine Regierung, eigenhändig getippt, damit kein Sekretär davon erfährt, daß er einem falschen Mann gedient hat seit Jahr und Tag, liegt bereit – ein Gesuch um Rücktritt … Aber er tritt nicht zurück. Er wählt das Größere: die Rolle. Seine Selbsterkenntnis bleibt sein Geheimnis.
Er weiß: jede Selbsterkenntnis, die nicht schweigen kann, macht kleiner und kleiner.
Wir alle verstummten – ich frage mich dann selbst, im stillen meine kalte Pfeife saugend, angesichts jeder wirklichen Geschichte, was ich eigentlich mache: – Entwürfe zu einem Ich! …
ich horche, Stille, es gackern auch keine Hühner, ich horche, kein Tingeltangel ist zu hören, Erinnerung, Gedampf und Gepuffer aus einem nächtlichen Güterbahnhof, das war einmal, Pfiffe und Echo der Pfiffe, ich halte den Atem an, Stille, einen Atemzug lang reglos wie eine Skulptur, so sitze ich, Pose des Dornausziehers, obschon ich weiß, wie oft es sich noch wiederholen wird, und noch einmal sind die gleichen Briefe aus dem Kasten zu nehmen, aufzureißen mit klopfendem Herzen, und noch einmal sind alle Pläne zu planen mit dem Wissen, wie alles anders kommt, wochenlang sucht Ihr ein Grundstück, Ihr verhandelt,
Der nämlich bleibt, stellt sich vor, er wäre geflogen, und der nämlich fliegt, stellt sich vor, er wäre geblieben, und was er wirklich erlebt, so oder so, ist der Riß, der durch seine Person geht, der Riß zwischen mir und ihm, wie ich’s auch immer mache, so oder so:
Da lebt Ihr die endlos-raschen Jahre liebevoll, ein Paar, zärtlich, ohne es vor Gästen zu zeigen, denn Ihr seid es wirklich, ein wirkliches Paar mit zwei liebestoten Körpern, die einander nur selten nochmals suchen.
Man kann nicht all die Jahre staunen. Jetzt löscht Ihr die Zigarette. Vergangenheit ist kein Geheimnis mehr, die Gegenwart ist dünn, weil sie abgetragen wird von Tag zu Tag, und die Zukunft heißt Altern …
Mein Rat, Burri solle doch einfach mit Enderlin reden, erscheint ihm als vollkommen verfehlt. Das würde Enderlin in seiner Idee, daß man ihm die Wahrheit verheimliche, nur bestärken. Das sehe ich ein. Burri sieht keine andere Möglichkeit: er wird Enderlin einfach entlassen und ihn beobachten. Wenn einer meint, er habe nur noch ein Jahr zu leben, bestenfalls ein Jahr, dann wird er ja nicht weiterleben wie bisher, so meint Burri.
Solche Leute kann ich nicht aufgeben. Ich brauche sie, und auch wenn sie mich übel behandelt haben. Das können übrigens auch Tote sein. Sie fesseln mich lebenslänglich durch meine Vorstellung, daß sie, einmal in meine Lage versetzt, anders empfänden und anders handelten und anders daraus hervorgingen als ich, der ich mich selbst nicht aufgeben kann. Aber Enderlin kann ich aufgeben.
Ali konnte wieder sehen, aber er sagte es seiner Alil nicht, daß er wieder sehen konnte, denn er wollte ihr nachschleichen, und das tat er auch. Aber was sah er? Er sah Alil, wie sie weinte, da er sie im Zelt geschlagen hatte, und er sah, wie sie ihr Gesicht wusch, um in sein Zelt zu schleichen als das andere Mädchen, damit der blinde Ali sie umarme –
Sie reden durchaus ernsthaft, Gantenbein und Lila, sie reden sogar von ihrem Alter dereinst, ihrem gemeinsamen Alter, Philemon und Baucis …
Hat Philemon daran gezweifelt? Er kann nicht vorbeigehen, ohne es zu sehen: eine Schublade voller Briefe. Er könnte sie lesen zwei Stunden lang. Briefe vom Einhorn? Nun gibt es zweierlei: Er tut es oder er beherrscht sich. Natürlich tut er’s nicht
ein Ameisenhaufen im Regen, ein Hügel aus Tannennadeln, braun und naß, oder Moos, schwärzlich und schwammig. Schwämme je nach Jahreszeit, Stämme, und es tropft, man scheut sich vor Büschen, jeder Zweig ist eine Dusche, kein Vogel rührt sich, Stille unter grünen Schirmen, reglos, Spinnweben, aber ohne Spinne. Wurzeln, die schwarz sind und glänzen vor Nässe, manchmal ist es glitschig, dann wieder trocken wie ein Teppich, es regnet irgendwo in der Höhe, ein Rauschen, das nicht ankommt, in den Wegen sind braune Tümpel, dort kommt’s an, man sieht es, Spritzer, und an den Zweigen rollen langsam die dicken Tropfen, Holz in Klaftern, dort wohnen die Käfer tropfenlos,
Es ist seltsam, wie fremd uns bisweilen die eigene Handschrift sein kann, vor allem wenn man nicht drauf gefaßt ist, wenn man eine Schublade aufbricht, um einer schlafenden Frau auf die Schliche zu kommen, und dabei nur sich selbst auf die Schliche kommt. Philemon, sage ich, geh schlafen! Das Schloß ist kaputt – Das ist das eine. Philemon wird nicht um ein Geständnis herumkommen, daß Baucis für alle Zeiten warnt, während er von dieser Stunde an nur weiß, daß irgendwo in der Wohnung noch ein anderes Versteck sein muß … Das ist das andere.
Eine Woche danach (leider lassen sich Gespräche, die überflüssig sind, im Leben nicht streichen) ist Lila gegangen; sie kann nicht mit einem Wahnsinnigen leben, ich versteh’s. Was hilft Sehen!
»Ja –« Seither haben wir geschwiegen. »Ja«, sagt Lila jetzt, »gehn wir schlafen!« Ich bleibe Gantenbein.
Ich wechsle den Beruf von Lila. (Das Theater ist mir verleidet.) Lila ist keine Schauspielerin von Beruf, sondern Wissenschaftlerin, Medizinerin, Lila im weißen Arbeitsmantel, Assistentin im Röntgen-Institut der Universität, alles ist vollkommen anders, Lila ist anmutig, aber nicht schwarz, sondern blond, ihr anderes Vokabular, das Gantenbein manchmal erschreckt, und wenigstens im Anfang ist Lila kaum wiederzuerkennen, sie spricht aus, was eine Schauspielerin verschweigt, und verstummt, wo eine Schauspielerin sich ausspricht, Verlagerung der Scham, ihre anderen Interessen, der andere Freundeskreis, vor allem aber ihr Vokabular, das so anders ist, daß sämtliche Gespräche zwischen Lila und Gantenbein nochmals zu führen sind, angefangen vom ersten Kuß an.
Schweigen. Gantenbein redet weiter, ich sehe, wie Antonio wieder das Glas der schlafenden Contessa nimmt, um es auszutrinken; anders kann er es ja nicht nachfüllen, ich verstehe, und wenn er dann das Glas wieder füllt, tut er’s aus ziemlicher Höhe, damit Gantenbein wirklich das Gurgeln höre. Ob er wirklich glaubt, Gantenbein merke nichts? Oder glaubt nur Gantenbein, der Diener glaube es?
Ich ändere nochmals: Lila ist keine Contessa, sowenig wie eine Schauspielerin. Ich verstehe nicht, wie ich auf diese Idee habe kommen können. Lila ist einfach eine Frau, eine verheiratete Frau, verheiratet mit einem Mann, den ich damals in einer Bar hätte treffen sollen. Einunddreißig. Keine Morphinistin; nicht katholisch; berufslos.
PS. Ich weiß nicht, wie ihr Mann es erfahren hat oder erfahren wird, daß Lila mich liebt, und es kümmert mich auch nicht. Ich kenne diesen Svoboda nicht. Es ist nicht mein Fehler, daß wir einander damals in der Bar nicht getroffen haben.
Wie heißt er?« Pause. »Enderlin.« Dankbar, daß er den Namen nicht wiederholt, sondern schweigt, und mit einer Miene, als sei nichts mehr zu sagen, erhebt sie sich, während Svoboda noch immer seine Pfeife putzt … Es braucht, nachdem der Name gesagt ist, nicht gesagt zu werden, wo und wann Lila mich getroffen hat; Svoboda erinnert sich an unser Rendezvous in der Bar, das nicht stattgefunden hat, seinetwegen nicht; Svoboda bereut jetzt vielleicht, daß er den Mann, den Lila sehr lieb hat, nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Ich habe gewartet auf Svoboda
Enderlin doch nicht aufgegeben wortbrüchig Ich Erzähler
Was Svoboda sieht: Straßen schwarz, grau, weiß, gelb, Asphalt oder
Ich habe von jeher gestaunt über das Tohuwabohu in ihren Handtaschen, und daß ich das Aspirin finde mit blindem Griff, wie die Arme es erwartet, wäre ein Wunder; ich versuch’s, aber das Wunder tritt nicht ein. Was ich finde: Schlüssel, Geldnoten, Lippenstift, Taschentüchlein, Paß, Parfum, Münzen, noch einen Lippenstift, Handschuhe, Flugschein, Etui mit Pincetten, Münzen verschiedener Währung, zwei Tickets für ein Museum in München, Kugelschreiber, Führerschein, Kamm, Zigaretten, Puderdose, Hotelrechnung Vier Jahreszeiten, Einzelzimmer mit Bad, Wagenschlüsselchen, einen Zeitungsausschnitt, Ohrringe, einen Brief mit dänischen Marken, Datum von vorgestern, Adresse postlagernd, der Brief ist aufgeschlitzt –
Alle Türen stehen offen; in der Küche tropft der Wasserhahn, aber sonst ist es still wie in Pompeji. Ich hocke noch immer in Mantel und Mütze, beide Hände in den Hosentaschen. Wie in Pompeji: man kann durch die Räume schlendern, Hände in den Hosentaschen, man versucht sich vorzustellen, wie hier gelebt worden ist, bevor die heiße Asche sie plötzlich verschüttet hat. Alles ist noch da, nur das Leben nicht mehr. Lang kann es nicht her sein. Im Badezimmer hängt noch ihr blauer Morgenrock. Ich weiß nicht, was wirklich geschehen ist …
Gespräch mit Burri über unser Gespräch neulich; ich hätte doch gern gewußt, wie er »meine« Lila sieht. Er spricht von ihr mit einer Verehrung, die mir schmeichelt. Und zugleich war ich erschrocken. Als Burri gegangen war, saß ich noch stundenlang wie ausgestopft, mein Kinn in die gefalteten Hände gestützt. Er redete von ihr (übrigens nur kurz) wie von einem wirklichen Menschen, und ich scheine der Einzige zu sein, der sie nicht sieht.
Svoboda, ein baumlanger Böhme, aber mit sanfter Stimme (nicht weich, aber sanft) und immer schon um einen Grad sicherer, wenn er den obersten Kragenknopf aufgemacht und die Krawatte etwas gelockert hat, ein Mann, der es nie begreifen wird, wenn man ihm sagt, daß seine Güte (er hat sie nicht aus Vorsatz, sondern angeboren) tyrannisiert, kurz und gut, Svoboda
Beton heiß Asphalt mit Luftspiegelung, Ginster, Kurven, die man schon unzählige Male gefahren ist, Meilensteine, Alleen mit Sprenkelschatten, Eselkarren, Teertonnen, Vorstädte, Schiffe im Hafen, Volk, Stoplichter, Armut, Eisenbahndämme, ein Güterzug mit Meer zwischen den Rädern, Küste mit Kurven links und Kurven rechts, gradaus, dann wieder rechts und links und rechts, links, rechts und weiter, zweiter Gang, dritter Gang, zweiter Gang, Autobusse von hinten, Staub von Lastwagen von hinten, Bahnübergänge, Meer, Kakteen, Meer, Ginster, Meer, Brücken, Dörfer, die immer wieder kommen, Städtchen, Plätze mit einem Denkmal, Irrlichter in der Dämmerung, Bäume im Scheinwerfer, Meilensteine im Scheinwerfer,
»Herr Gantenbein«, sagt sie – Ich warte. »Ich werde niemand sagen«, sagt sie, »daß Sie nicht blind sind, verlassen Sie sich darauf, und auch Sie sagen niemand, was Sie gesehen haben.« Das ist ein Vertrag.
So könnte Lila sein. (Lila von außen.) Die Herren in der Bar, als sie eintritt, machen sich schlank, um sie durchzulassen fast ohne körperliche Berührung, und da die roten Hocker alle schon besetzt sind, erhebe ich mich. Ohne sie anzusprechen. Und sie setzt sich, ohne zu nicken. Ich verstehe ihre Verachtung der Männer und gehe auf Deck, um die Nacht zu besichtigen
Ich verstehe: Man muß einen andern verlassen, Entschluß ist Entschluß und unerschütterlich, aber damit ist die Trennung noch nicht vollstreckt; man möchte die Vollstreckung in Würde, aber die Würde hindert die Vollstreckung; einer der beiden Partner kann’s nicht fassen, so lange die Würde gewahrt bleibt, und liebt wie noch nie; eines Abends steht er wieder da; man kann Abschiede nicht durch Briefe vollstrecken – Gantenbein zeigte, als nichts andres übrigblieb, volles stilles Verständnis dafür, daß sie einander wiedersehen mußten
sie fanden ihn beim sogenannten Draht-Schmiedli, wo ein Wehr ist, das ihn überrascht haben mußte: der offene Sarg stand ziemlich senkrecht aus dem gurgelnden Wasser, die Leiche lehnte drin.« Camilla machte ein Uh-Gesicht. »Ja«, sage ich, »so war das.« »Scheußlich!« »Dabei hätte er’s beinah erreicht«, sage ich mit Blick auf meine Fingernägel, die wieder einmal in Ordnung sind, »beinah –«
»Was erreicht?« »Abzuschwimmen ohne Geschichte.«
sie wissen es; die Liebe, die zu verabschieden ist, reicht beiderseits schon nicht mehr aus, um den andern nicht mehr zu durchschauen.
Ich stutze, aber ich sehne mich nach niemand. Das Telefon schellt und schellt, bis ich darauf ziele: Tack! und noch ohne zu ahnen, was mein nächstes Ziel sein soll, quetsche ich den nächsten und vorletzten Lader hinein, Verschluß zu, Kolben an die Wange. Stille.
Gehen wir! flüstert er. Wohin? Davon ist nicht die Rede. Sie flüstern, um das Kind nicht zu wecken. Flüstern macht gemeinsam. Das bestürzt sie, und sie schaut den fremden Herrn nicht an, als sie das Licht in der Diele löscht, und dann wird kein Licht mehr, bis das Morgengrauen durch die Fenster kommt – ausgenommen einmal im Kinderzimmer: es ist drei Uhr, als sie hinübergeht, weil sie Husten gehört hat, und Licht macht, um sich zu vergewissern, ob das Kind schläft.
Wie die Gespräche meiner Freunde weitergehen ohne mich, manchmal glaube ich es mir vorstellen zu können, dann wieder gar nicht. Reden sie jetzt, da ich gegangen bin, noch immer über die Geschichte der Päpste? Oder worüber? Vor allem aber: wie reden sie jetzt? Anders als zuvor? Genau so? Ernsthafter oder spaßiger? Ich weiß nicht, wieso ich das wissen möchte.
Verrat (wenn man es einmal so nennen will) hat nicht stattgefunden, ich lösche die Spule, die mich nur eines gelehrt hat: Ich lechze nach Verrat. Ich möchte wissen, daß ich bin. Was mich nicht verrät, verfällt dem Verdacht, daß es nur in meiner Einbildung lebt, und ich möchte aus meiner Einbildung heraus, ich möchte in der Welt sein. Ich möchte im Innersten verraten sein.
Mit geschlossenen Augen, um vor Gericht nicht aus der Rolle zu fallen, jetzt schon mit geschlossenen Augen, denn unter keinen Umständen möchte ich den Angeklagten wiedersehen, stehe ich, gestützt auf mein schwarzes Stöcklein, dem Gericht zur Verfügung. Man muß mich nur führen. Ich spüre die kräftige Hand an meinem Ellbogen, die freundliche Hand, die mich nicht loslassen wird, bis ich, Gantenbein Theo, vor der Zeugenschranke stehe oder sitze.
Und in der Höhe vermutlich eine klassizistische Darstellung der Justitia mit Waage und mit verbundenen Augen …
es könnte aussehen, als seien vor dem Gesetz nicht alle gleich, und es bliebe ein vager Verdacht, der die führende Gesellschaft selbst belasten würde; ein solcher Mann ist nicht zu halten; die führende Gesellschaft eines Landes muß wenigstens an ihren Spitzen vertreten sein durch Persönlichkeiten, deren private Korrektheit alles andere deckt; sonst geht die Führung nur noch mit Diktatur.
eine Pfeife stopfend,
Die Frau ist ungeheuer durch ihre fast grenzenlose Anpassung, und wenn sie von einem andern kommt, ist sie nicht dieselbe; das geht, wenn es einige Dauer hat, bis in ihre geistigen Interessen hinein und ihre Meinungen, ihre Urteile.
er sieht tatsächlich nichts Einmaliges. Ein großer Augenblick, kein Zweifel, aber nicht für die Augen. Ein geschichtlicher Augenblick. Was er sieht: ein Säugling. Was die Oberschwester hiezu berichtet, kann Gantenbein nicht sehen. Ein Säugling wie tausend andere. Wie erwartet; wie nicht anders erwartet.
Es gibt nur eins: Gantenbein nimmt einmal an, daß das Kind, ihr Kind, nicht von ihm sei, zeigt aber nie, daß er das annimmt, in der Hoffnung, es werde sein Kind.
Gantenbein am Flugplatz: – man könnte meinen, das komme jeden Tag vor, einmal in jeder Woche mindestens, Gantenbein am Flugplatz und immerzu in dieser gleichen Halle, gestützt auf seinen schwarzen Stock, um Lila abzuholen mit seiner Blindenbrille; dabei kommt es nicht einmal jede Woche vor, Gantenbein weiß, das scheint ihm nur so, als stehe er zeitlebens, so wie jetzt, zeitlebens am Flugplatz und in dieser Halle und genau an dieser Stelle, um Lila abzuholen zeitlebens …
Das also ist das Ende. Wieso eigentlich? Vergeblich bitte ich um Verzeihung dafür, daß ich manches gesehen habe. All diese Jahre! sagt sie, du hast mich nie geliebt, nie, jetzt weiß ich’s und jetzt will ich, daß du gehst, daß du gehst!, rauchend, dann schreiend: daß du gehst!
Max Frisch aus: “Mein Name sei Gantenbein”