Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“

Vom Verbinden und Vergessen … Literaturnobelpreis von 1961

Was Dublin für James Joyce in Ulysses und Lissabon für Fernando Pessoa in Das Buch der Unruhe, oder Berlin für Alfred Döblin in Berlin—Alexanderplatz, das ist Višegrad und die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke für Ivo Andrić in Die Brücke über die Drina. Sie gilt als Sinnbild für die Geschichte, das Werden und Vergehen der Vielvölkerstadt an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Im Gegensatz jedoch zu den anderen Beispielen löst der Literaturnobelpreisträger von 1961 Ivo Andrić Zeit und Raum auf, verleiht nicht einer Figur die Stimme, sondern lässt einen Kessel Buntes, einen kunterbunten Mosaikreigen auf sein Publikum herabrieseln:

Am Sankt-Veits-Tage veranstalteten die serbischen Vereine, wie in jedem Jahre, eine Kirmes auf dem Mesalin. Am Zusammenfluß der Drina und des Rsaw wurden auf dem grünen hohen Ufer unter den dichten Nußbäumen Zelte aufgeschlagen, in denen man Getränke ausschenkte und vor denen Hammel an Spießen über leichtem Feuer gedreht wurden. Im Schatten saßen die Familien, die ihr Essen mitgebracht hatten. Unter einem Dach aus grünen Zweigen spielte schon laut schmetternd die Musik. Auf der festgestampften Fläche wurde bereits seit dem Vormittag Kolo getanzt.

Ivo Andrić aus: „Die Brücke über die Drina“

Inhalt/Plot:

Wie in solchen Romanen üblich besitzt Die Brücke über die Drina keine eigentliche Handlung. Typischerweise bündeln diese Ereignisse um eine bestimmte Figur, die als Spiegel und Vermittler durch die Straßen an Häusern vorbei, über die Plätze der Stadt flaniert wie Leopold Bloom (Ulysses) oder der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares (Das Buch der Unruhe). Bei Andrić dagegen steht als verbindendes Element die Brücke über die Drina und dient statt einer agierenden, fühlenden Figur als Projektionsfläche des Zeitenwandels:

So ward die Brücke mit ihrer Kapija [das Brückentor] und so wuchs die Stadt um sie. […] Ihre lichte Linie im Bild der Stadt änderte sich ebensowenig wie die Konturen der umliegenden Berge am Himmel. In der wechselnden Reihe und im Verblühen der menschlichen Geschlechter blieb sie unverändert wie das Wasser, das unter ihr dahinfließt. Auch sie alterte natürlich, aber nach einem Zeitmaß, das soviel weiter war, nicht nur als die Länge eines Menschenlebens, sondern auch als ganze Geschlechterreihen, daß man dieses Älterwerden mit dem Auge nicht bemerken konnte. Ihr Lebensalter, wenn auch in sich sterblich, glich der Ewigkeit, denn sein Ende war nicht abzusehen.  

Geht die Reise von Istanbul los, über Sofia durch Serbien nach Sarajevo, muss der Fluss Drina überquert oder ein riesiger Umweg in Kauf genommen werden. 1571 veranlasste deshalb der Janitscharen-Großwesir Sokollu Mehmed Pascha, dass diese Brücke gebaut wird, um Bosnien handelstechnisch und militärisch in das Osmanische Reich einzugliedern. Unter großen Entbehrungen und einiger Gegenwehr von Seiten der ansässigen Bevölkerung wird das Projekt verwirklicht:

In der spärlichen Novembersonne schleppten die Bauern Holz und Steine, patschten mit bloßen Füßen oder groben Opanken in den aufgeweichten Wegen, schwitzten vor Anstrengung oder froren im Wind, zogen ihre schweren wollenen Pluderhosen voll neuer Löcher und alter Flicke fester um sich und banden die zerrissenen Enden ihres einzigen Hemdes aus grobem Leinen, das von Regen, Schlamm und Rauch schwarz war, fester, aber sie durften es nicht waschen, denn es würde im Wasser in lauter kleine Fasern zerfallen.

Die Fronarbeiter rebellieren. Einer begeht Sabotageakte und wird grausam durch öffentliche Pfählung bestraft. Die Einschüchterung gelingt. Der Bau geht weiter, und bald steht die Brücke und verbindet die zwei Stadthälften, verbindet Bosnien mit Serbien und dem Rest der Welt. Die Stadt blüht und besitzt die Brücke als Wahrzeichen. Sie überlebt das Hochwasser. Sie überlebt Brände und Anschläge. Sie hält Seuchen, Ausbesserungs- und Ausbauarbeiten stand. Nach und nach wird die Geschichte bis hinauf ins 19. Jahrhundert, über das Ende der Herrschaft des Osmanischen Reiches bis zur Übernahme der Region durch Österreich-Ungarn und schließlich bis zum Beginn des 1. Weltkrieges im Sommer 1914 erzählt. Hierbei führt Andrić Dutzende von Figuren in Kurzform ein und erzählt, manchmal in nur wenigen Sätzen, ihre Lebens- und Leidensgeschichte:

Und so geschah es. Nach dem Willen seiner älteren Frau und mit ihrer Hilfe heiratete Hadschi Omer die schöne Paascha. Und elf Monate später gebar ihm Paascha einen gesunden Knaben. Damit war die Frage von Hadschi Omers Nachfolge gelöst, viele Hoffnungen der Verwandten vernichtet und der Stadt das Maul gestopft.

Mit nur wenigen Sätzen werden stets immer wieder neue Figuren eingeführt:

Muhammed Beg war in diesem Jahre auf Urlaub gekommen. Er war ein rothaariger, großer und fülliger Mann, in tadelloser Uniform, mit gelben Schnüren, roten Troddeln und silbernen Sternen am Kragen, schneeweißen Lederhandschuhen an den Händen und einem roten Fez auf dem Kopf. Glatt, lächelnd, tadellos sauber und gepflegt schlenderte er durch die Stadt […]

[…] Daher achteten sie auch nicht auf Vorübergehende, die, geleitet von anderen Gedanken und eigenen Sorgen, gesenkten Hauptes oder abwesenden Blickes, über die Brücke gingen, ohne rechts und links zu schauen oder die zu beachten, die auf der Kapija saßen. Zu diesen Vorübergehenden gehörte jedenfalls auch Milan Glasintschanin vom Okolischte, ein großer, magerer, bleicher und gebeugter Mann.

Mit dem Bau der Eisenbahn zwischen Sarajevo und Donje Vardište verliert die Brücke ihre Alleinstellung. Immer weniger Handel findet über sie ihren Weg in die Stadt. Die Zeiten beschleunigen sich. Zeitungen tragen ihr übriges dazu bei, dass die Gemütlichkeit des Städtchens und das Leben auf der Brücke, wo sich Einheimische, Durchreisende, Handelnde trafen, langsam aber sicher verloren gehen:

Erst jetzt, da die Eisenbahn fertiggestellt und dem Verkehr übergeben war, sah man, was dies für die Brücke, für ihre Rolle im Leben der Stadt und für ihr Schicksal überhaupt bedeutete. […] Der gesamte Personen- und Warenverkehr mit Sarajewo und über Sarajewo mit der übrigen westlichen Welt blieb jetzt auf dem rechten Drinaufer. Das linke Ufer und mit ihm die Brücke starben völlig ab. Über die Brücke kam nur noch das Volk aus den Dörfern vom linken Drinaufer, Bauern mit ihren kleinen, überladenen Pferden und Ochsenkarren oder Pferdegespanne, die Holz aus den entfernt gelegenen Wäldern zum Bahnhof führten.

Mit der militärisch vorsätzlichen Sprengung zu Beginn des 1. Weltkrieges findet die Brücke, die zwei Welten miteinander verbinden sollte, ihr symbolträchtiges Ende. Vom Wiederaufbau berichtet der Roman von Ivo Andrić nicht mehr.

Stil/Sprache/Form:

Das Zwischenmenschliche findet in Die Brücke über die Drina von der Erzählinstanz eine eigenartige ambivalente Beachtung. Viele Namen fallen. Viele Lebensläufe werden angerissen. Viele Einzelschicksale werden abgehandelt. Dicht gepackt eilt der 500 Seiten lange Roman über die Individuen, die Figuren, die Bevölkerung der Stadt hinweg, zählt Verstrickungen, Intrigen, Notlagen, Glücksfälle auf, aber lässt sie teilweise so schnell wieder fallen, wie sie hastig eingeführt wurden. Nicht ohne Grund lautet der Untertitel des Romans Eine Wischegrader Chronik. Mit anderen Worten, bei Andrić‘ Roman handelt es sich um eine äußerst widersprüchliche Gemengelage aus historischem Erzählen und karnevaleskem Fabulieren:

Die Brücke sah unendlich und unwirklich aus, ihre Enden verloren sich im milchigen Nebel, und die Pfeiler versanken nach unten in Finsternis; die eine Seite jedes Pfeilers und Bogens war grell erleuchtet und die andere in völligem Schatten; diese beleuchteten und dunklen Flächen brachen und schnitten sich in scharfen Linien, die ganze Brücke glich einer sonderbaren Arabeske, entstanden im vergänglichen Spiel aus Licht und Dunkelheit.

Eine solche Stelle besitzt keinen Informationswert für die Geschichte der Stadt Višegrad. Es handelt sich eindeutig um eine atmosphärische Bestimmung einer narrativ zu gestaltenden Szene. Mit diesen Eingangssätzen, die in sich, bei genauerem Lesen einen Widerspruch in Statik und Dynamik erzeugen („scharfe Linien“ gegen „vergängliches Spiel“) wird nun die Szene gestaltet, in der ein gewisser Milan mit einem unbekannten Fremden bei einem Kartenspiel um sein Leben wettet. Milan verliert, erwacht aus einem Traum und wendet sich vom Kartenspielen ab. Weder von dem Fremden noch von Milan wird im Roman noch einmal die Rede sein. Es handelt sich um ein völlig abgeschlossenes Detail, ohne inhaltlichen Zusammenhang mit dem Rest der Figuren. Das verbindende Element bleibt die Brücke, auf der das Kartenspiel möglicherweise stattgefunden hat.

Die Leute hörten etwas und, als sei zu wenig, was wirklich geschehen, fügten sie noch etwas hinzu und schmückten die ganze Erzählung aus. Dann aber wandten sie, wie es die Leute gewöhnlich tun, ihre Aufmerksamkeit dem Schicksal eines anderen zu und vergaßen Milan und sein Erlebnis.

Interessanterweise nämlich übernimmt der Erzähler aus Die Brücke über die Drina keine Verantwortung für das Erzählte. Er berichtet, weicht aus, als wäre er ein Zeuge, ein Gegenüber, das sich nicht genau erinnert, aber dennoch, obwohl er sich nicht genau erinnern kann, sich zu erinnern versucht, aber stets wieder das Erzählte abschwächen muss, und wenn er nicht mehr weiter weiß, so erfindet er schnell eine neue, unsichere Geschichte:

Dennoch gab es auch dieses Mal, wie immer, wenn die Kapija gesperrt wurde, ungewöhnliche Ereignisse, die ihre Spuren in der Stadt hinterließen. Denn schwere Zeiten können nicht ohne irgend jemandes Unglück abgehen. Unter den Streifkorpsmännern, die sich auf der Kapija ablösten, war auch ein junger Mensch, ein Kleinrusse aus Ostgalizien, namens Gregor Fedun.

Die erzählerische Mischung lässt keinen Lesefluss entstehen. Der Rahmen fehlt. Die kleinen Anekdoten bleiben Tropfen auf dem heißen Stein, die kein Bett finden, wo sie sich sammeln und zu einem Fluss werden können. Sie verpuffen, vertrocknen. Die Quantität schlägt nie in Qualität um, und zwar aus der narrativen Zwangslage heraus möglichst viel über möglichst viele zu berichten. Überfordert mit der Menge oder auch mit der Oberflächlichkeit des Stoffes greift der Erzähler deshalb auf Allgemeinplätze zurück:

Das Unglück der Unglücklichen liegt eben darin, daß ihnen Dinge, die sonst unmöglich und verboten sind, für einen Augenblick zugänglich und leicht werden oder wenigstens so scheinen.

Es schien, als liebten [die Mütter] ihre Tränen und ihr Wehklagen ebensosehr wie den, um den sie weinten.

Alles kommt von Gott, und zweifellos war auch [der Abzug des Osmanischen Reiches] in die Pläne Gottes einbezogen, aber es war schwer, alles zu verstehen; der Atem stockte ihnen, und das Bewußtsein trübte sich, aber gleichmäßig fühlte jeder, wie sich ihm der Erdboden unter den Füßen wie ein Teppich entzog und wie Grenzen, die ewig und fest sein sollten, flüssig und veränderlich wurden, zurückwichen, sich entfernten und wie launische Frühlingsbäche verloren.

Ivo Andrić‘ Stil bleibt kursorisch, fast flapsig, schnell und mitleidlos. Er huscht über Selbstmord, Kindesverlust, Wahnsinn, Armut und Herzinfarkte mit einer Gleichgültigkeit hinweg, wie die Drina das Wasser zur Donau und mit ihr zum Schwarzen Meer trägt. Die Fehler, die Irrtümer, die zerschlagenen Hoffnungen und Träume gehen den Erzähler, der aus der historischen Höhe über der Stadt die Vorgänge beobachtet, nichts an. Die Anekdoten gelten ihm nur als Fehlverhalten: Spiel- und Trunksucht, Liebeswahn, Kurzsichtigkeit, Ungeduld, Dummheit, Größenwahn und Pech, und so gerät seine eigene Chronik wie die einer seiner Figuren namens Muderis:

In Wirklichkeit war diese Chronik weder umfangreich noch gefährlich. In den fünf, sechs Jahren, seit sie der Muderis führte, füllte sie ganze vier Seiten eines kleinen Heftes. Denn die meisten Stadtereignisse befand der Muderis nicht für wichtig oder würdig genug, in seine Chronik einzugehen. Daher war sie so unfruchtbar, trocken und steif wie eine hochmütige alte Jungfer.

Mit ein paar Handwischen wird die Pfählung eines Bauern, der Selbstmord eines jungen Soldaten, der Sprung eines jungen Mädchens von der Brücke, der Herztod eines Händlers, der Nervenzusammenbruch einer Geschäftsfrau, die Köpfung eines Holzfällers und eines wandernden Mönchs und vieles mehr beschrieben, so kurz und knapp, dass es fast an narrativer Grausamkeit grenzt.

Das war zu bedauern, aber nicht zu ändern, denn in den Augenblicken allgemeiner Erschütterungen und großer, unerbittlicher Veränderungen tauchen gewöhnlich gerade solche entweder mit Krankheit oder Mängeln behaftete Menschen auf und führen die Dinge falsch oder auf den Holzweg. Dies ist eben eines der Zeichen unruhevoller Zeiten.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Ivo Andrić‘ Die Brücke über die Drina mischt eine Anekdotenform wie Florian Illies1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte mit einem hymnischen Nationalepos gleichen Erzählstandpunkt, der eher einem Carl Spitteler aus dem Olympischen Frühling nahesteht, aber nimmt auch deutliche Anleihen zur volkstümlichen, verklärenden Literatur eines Hermann Löns. Mit anderen Worten, der Roman spielt in einem Niemandsland zwischen anekdotischem Geschichtsjournalismus, der auf Unterhaltung abzielt, und einem identitätsstiftenden Projektivideal einer über allen Veränderungen stehenden, einheitsverbürgenden Instanz. Beispielsweise beginnt Illies 1913 mit ähnlich anekdotischen, flüchtig-kursorischen Worten:

Maxim Gorki holt sich einen Sonnenbrand auf Capri. Peter Panter jagt Theobald Tiger. Hermann Hesse sehnt sich nach seinem Zahnarzt, und Puccini hat keine Lust auf ein Duell. Ein neuer Komet erscheint am Himmel, und Rasputin verhext Russlands Frauen. Aber Marcel Proust findet keinen Verleger für »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Dr. med. Arthur Schnitzler kümmert sich um seinen schwierigsten Patienten, die Gegenwart. Ein Feuerschlucker aus Berlin-Pankow wird König von Albanien. Nur für fünf Tage. Aber immerhin.

Florian Illies aus: „1913“

Die lakonische Berichterstattung passt gut zu Andrić‘ „Das ist zu bedauern, aber nicht zu ändern“, das sich in abgewandelten Formen durch das ganze Buch zieht, wenn es um das bedrohte, zerstörte Leben seiner Figuren in Višegrad geht. Besitzt Illies jedoch die Leichtigkeit des Nachgeborenen und erfreut sich am Sammeln, Zusammenstellen, an einem Pastiche, das zur Unterhaltung dient und nur nebenher, wenn überhaupt, auf ernsthafte kommunikative Absichten hinaus will, so steht das Ernsthafte im Zentrum von Andrić‘ Roman, so dass das Gespräch hier in Tradition von heimatliterarischen Darstellungen, bspw. im Trinkgelage, eines Hermann Löns steht:

Also sprach Jan und trank und alle die Bauern und Fischer lachten, und ich lachte mit, aber nur mit dem Gesichte, denn ich liebe Jan und bedauere ihn, und mein Volk, das seine Wikinger in das Gefängnis schicken muß, weil es seit ewigen Jahren keine Arbeit mehr für Leute ihres Schlages gibt. Das Leben ist langweilig geworden. Die Helden werden in Acht und Aberacht gesteckt und die Jämmerlinge kommen oben auf. Den Hasen schützt man und den Wolf rottet man aus. Und darum lasse ich alles leben, was so ist, wie der alte Fahrensman Jan ten Brink.

Hermann Löns aus: „Kraut und Lot“

Hier stimmt die Atmosphäre, das Nachholende, die Theodizee des Geschichtlichen mit einem Bedauern, das die alten, langsameren, bunteren Zeiten endgültig vorbei sind. In seiner Anlage gleicht er ebenfalls Hermann Löns‘ Der Wehrwolf, eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), in welchem der Widerstand von Bauern, allen voran Harm Wulf, gegen marodierende Soldaten beschrieben wird, mit der Akzentuierung jedoch auf Gewalt und Grobschlächtigkeit, wohingegen bei Andrić das Volkstümlich-Friedliche im Vordergrund steht. Diese Formen ineinandergeschoben, erzeugen in Die Brücke über die Drina ein erzählerisches Phasengemisch, das mäandernd nicht zur Ruhe kommen kann, ganz gleich wie sehr Andrić die versöhnende, allmächtige Instanz des guten Gottes beschwört:

Alles kann sein, eines aber kann nicht sein: es kann nicht sein, daß die großen, mitfühlenden Menschen ganz und für immer verschwinden, die nach Gottes Gebot dauerhafte Bauwerke errichten, auf daß die Erde schöner sei und der Mensch auf ihr leichter und besser lebe. Würden sie verschwinden, dann hieße dies, daß Gottes Liebe auf Erden ausgelöscht und verschwunden sei. Das aber kann nicht sein.

Leider tritt Andrić‘ eigener Roman den Versuch eines Gegenbeweises an. Wo die einzelnen über die Klinge springen, wahllos getötet und zerstört werden, wo niemand dem anderen zuhört, noch die Liebenden sich die gebührende Aufmerksamkeit schenken, wo fast nur das Schlimmste zu Wort kommt, kurz, hart, knapp und blutig, da schlägt der Erzähler seine zahlreichen Figuren mit nüchternster Bedeutungslosigkeit. Empathieloses Vergessen, das Verschwinden der einzelnen in der Flut der Geschichte beweist jedoch diese im Realen besser als jedes geschriebene Wort, das doch festhalten will, was sonst vergeht. Dem Vergehen und Vergänglich-Sein noch literarisch hinterher zu eifern und sprachlich-symbolisch zu ratifizieren, scheint dann nur noch, auch wenn es möglicherweise anders geplant gewesen ist, als grobes und sanktionierendes Nachtreten. Dem blutrünstigen Geschichtsverlauf hat Ivo Andrić mit Die Brücke über die Drina jedenfalls nichts abgetrotzt.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.

Nächste Woche am 12. März 2024 auf Kommunikatives Lesen:
eine Opernsängerinnen auf Abwegen in Rhea Krčmářovás neuen Roman Monstrosa. Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

15 Antworten auf „Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina““

  1. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
    gkazakou sagt:

    Lieber Alexander, du hast anscheinend ein vollkommen anderes Buch gelesen als ich. Ja, ich habe die „Brücke über die Drina“ vor Jahren zweimal und Andrics andere Bücher je einmal gelesen. Die „Brücke“ ist für mich ein unübertreffliches Meisterwerk, ein geniales mitreißendes realistisches Buch über die großen historischen Bewegungen und die Zertrümmerung der Mikrowelten.
    Wie kommt es, dass ich das so empfinde, aber in deiner Zusammenfassung und den Zitatstellen überhaupt nicht wiederfinden kann? Liegt es daran, dass du die Welt des Balkan nicht verstehst, dass sie nicht die deine ist? Oder liegt es daran, dass ich diese Welt allzu sehr verstehe?

    Für mich sind sehr viele Szenen und auch die einzelnen Personen so prägnant, dass ich sie bis heute vor Augen habe. ZB du erwähnst den Janitsaren, der die Brücke zu bauen befiehlt. Aber was ist ein Janitsar? Wie wurde er der, der er ist? Was bewegt ihn? Das sagst du nicht – der Roman aber macht es klipp und klar: er ist ein geraubtes Kind, das für eben diese militärische Tätigkeiten vom Osmanischen Reich zugerichtet wurde, der zugleich ahnt, dass er hier unter Seinesgleichen ist, seine Mutter spürt… Du sagst, die Brücke steht, bis sie obsolet ist und gesprengt wird, und verlierst kein Wort über die Habsburger Besatzungsmacht, die die Brücke sprengt, und so überschlägst du auch die zentrale Szene, in der die Verschieden-, ja Unvereinbarkeit der bosnisch-moslemischen mit der westlich-funktionalen Denkweise geradezu physisch nacherlebbar wird (Brückenwärter-Szene)… Du sagst, der brutal ermordete Serbe, der den Aufstand gegen den Brückenbau leitete (warum tat er das? Das Buch sagt es), werde zur Seite geschoben („Mit ein paar Handwischen wird die Pfählung eines Bauern… beschrieben“)- während ich bis heute diese traurig-groteske Figur des unbeholfenen Mannes aufgespießt über dem Fluss schweben sehe – als eine unübersehbare Anklage. Es gibt für mich kein Buch, das das Lebensgefühl des Balkan fassbarer machte als gerade dieses. Der Satz „Das ist zu bedauern, aber nicht zu ändern“ ist ja nicht das Urteil des Autors (der niemals urteilt, sondern eine strikt dokumentierende Haltung einnimmt), sondern in Kurzform das, was den Menschen noch bleibt, nachdem die Geschichte über sie hinweggetrampelt ist. Das Kursorische unterstreicht, wie wenig die armseligen Menschen im Geschiebe der Geschichte wert sind – man geht über sie hinweg. Nicht der Autor tut das, vielmehr hat er all diesen Menschen ein literarisches Denkmal gesetzt, ohne zu werten, also auch ohne abzuwerten.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Liebe Gerda, meine Besprechungen geben einen Eindruck wieder, der hochindividuell und nichts anderes als das zu fassen versucht, was ich, in meiner Ausprägung und Verprägung, als kommunikatives Element in dem Text widerhallend gefunden habe.

      Das Meiste, was du sagst, steht mir auch vor Augen. Ich lese aufmerksam, langsam und lasse die Fäden langsam spinnen und weiterweben. Ich sehe schon, was der Text sagst, welche Verknüpfungen er bindet (obgleich vielleicht nicht in der ausgeprägten kulturell-regional bewanderten Weise wie du) – das aber, was du feierst, dass das Buch den einzelnen Menschen ein Denkmal setzt, überfordert mich.

      Wenn du sagst, der Autor habe der Geschichte den Spiegel vorgehalten – das verstehe ich. Das hat er. Er hat genau das gezeigt und getan: der einzelne, ohne seine Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit, das eigene, arme, kreatürliche, schweifende Individuum zwischen freiem Himmel und tiefen Boden existiert nicht und verschwindet. Diese Erzählweise müsste ich nun an den Textstellen darlegen – aber warum? Das Buch inspiriert dich, und das freut mich. Mich lässt es verstummen und erkalten. Andric Blick auf die Welt ist nicht die meine. Ich feiere den Vogel, den einen Sonnenstrahl, in welchem die Ewigkeit glänzt – die Erinnerung, das Anknüpfen, das Weitertragen des Gewaltlosen, des Nicht-Abgrenzenden. Aber du siehst vielleicht genau das bei Andric – und vielleicht werde ich das auch mal sehen. Mich hat das Buch in seiner Schnelligkeit und Kälte nur entsetzt. Mich entsetzt auch auf die Geschichte der Menschen, der Preis für viele sogenannte Errungenschaften. Ich habe das poetische Aufbegehren bei Andric überhaupt nicht gespürt.

      Aber Danke, Gerda, das du mir mit Verve entgegenhältst, dass ich da wohl etwas verpasst habe! Momentan ist mir das Strikt-Dokumentarische und Rhapsodische eines Andric wohl noch zu fremd.

      1. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
        gkazakou sagt:

        Ganz herzlichen Dank, lieber Alexander, für deine beiden eingehenden Kommentare, die mich besser verstehen lassen, was dich an Andrics Roman abstößt und was du in Büchern suchst. Du „feierst den Vogel, den einen Sonnenstrahl, in welchem die Ewigkeit glänzt“, und kannst die Normalität des Elends und des Grauens kaum ertragen. So verwirfst du als Allgemeinplatz: „…es war schwer, alles zu verstehen; der Atem stockte ihnen, und das Bewußtsein trübte sich, aber gleichmäßig fühlte jeder, wie sich ihm der Erdboden unter den Füßen wie ein Teppich entzog und wie Grenzen, die ewig und fest sein sollten, flüssig und veränderlich wurden, zurückwichen, sich entfernten… “

        Um mit diesem Roman zu resonieren, braucht es wohl eine bestimmte Beschaffenheit der Seele, mir kommt das Wort „keltern“ in den Sinn, wie für Wein, der durch schreckliche Qualen, durch Treten, Zermanschen, Pressen aus den Trauben getrieben wird. Und dieser Wein macht etwas mit dir; er macht dich verrückt, er macht dich tanzen und von Brücken springen und mit dem Kopf gegen Wände rennen oder auch deinem Nachbarn den Schädel einschlagen und träumen, auf jeden Fall träumen.

        Vielleicht liest du das Buch irgendwann noch einmal, unter einem anderen als dem deutschen Licht des 21. Jahrhunderts. Zum Beispiel im Licht des moslemischen Brückenwächters, der die himmlische Ruhe rühmt und sich schon fast im Paradiese dünkt, doch in dem Moment bricht alles zusammen, denn die Moderne in Gestalt der Österreicher hat das Regime übernommen. Ja, die Realität ist total verrückt, unglaubwürdig, grotesk, drum flüchten sich die Menschen des Balkan gern in Mythen und Träume.

        In gewisser Weise eine Fortsetzung der „Brücke über die Drina“ ist Kusturicas Film „Underground“, der die Geschichte der Region von der deutschen Besatzung 1941 bis zum Bürgerkrieg 1990 mit einem genialen Kunstgriff als eine zusammenhängende Epoche darstellt. Auch hier ist die Wirklichkeit so grausam, verrückt und unglaublich, dass sie einem Traum gleicht, aus dem man irgendwann erwachen wird. Wenn man dann erwacht, findet man sich in einem Film wieder, in dem Partisanen gegen den deutschen Besatzer kämpfen, und kehrt erschrocken zurück in die zauberische Welt der Träume und des Mythos.

        In Deutschland kam der Film gar nicht gut an, und auch die französischen Rationalisten (besonders die kommunistischen) hatten schwerste Bedenken. Die deutsche Wiki nennt den Film eine politische Groteske und urteilt so: „Der ausufernde Film versucht, dem Bruderkrieg im ehemaligen Jugoslawien beizukommen, wobei er von zahlreichen genialen Bildeinfällen lebt. Dennoch gelingt es ihm nicht, ein dramaturgisch abgerundetes Bild zu entwerfen: die visuellen Sensationen und die aberwitzigen, grotesken Wendungen wiegen die oberflächliche Personenzeichnung und die mangelhafte Stoffentwicklung letztlich nicht auf.“
        (Ganz anders die englische Version von Wiki, die sich zu lesen lohnt)

      2. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Bücher entfalten sich auf verrückte Weise und Wege des Lernens lassen sich ja nie vorhersehen. In diesem Sinne bleibe ich sehr offen, Gerda, und Danke auch, dass du auf andere Lesarten, andere Sichtweisen, Zugänge bestehst und diese hier einbringst. Das belebt mein Lesen in jedem Fall, vielleicht inspirierst es auch andere, das Buch zu lesen, selbigst darüber zu schreiben, um so ein breitgefächertes Gefüge von Ideenräumen zu fabrizieren, die die emotionale und intellektuelle Sackgassen umschiffen oder überschreiben. All dies steht mir sehr im Sinne, warum ich überhaupt diesen Blog ins Leben gerufen habe – die Literatur selbst als Ort der Begegnung.

        ps: Ich habe vor langer Zeit einige Filme von Kusturica gesehen, Underground nicht, vielleicht wird’s mal wieder Zeit. Die, die ich gesehen habe, haben ein wohlgemutes Gefühl hinterlassen (Schwarze Katze, weißer Kater).

        Viele Grüße!!

      3. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
        hibouh sagt:

        Ich liebe an Alexanders Analysen den Hinweis auf die Recherche (für „historische“ Romane, seine stetige Suche nach dem Duktus eines Textes. Recherche ist wichtig, und doch wird ein „historischer“ Roman stets subjektiv sein, ebenso subjektiv wie Kusturicas Filme (die ich ebenso wie Gerda sehr mag).
        Gerdas Beispiel mit dem Wein finde ich treffend. Die Türkei waere ein gutes Wein-Land, die Schweiz war und ist es. In meiner Jugend stampften wir die Trauben in den Faessern – standen dabei bis zur Hüfte im roten Saft, ganz egal, wie gut wir uns gewaschen hatten :-). Ich erinnere extra Wein-Ferien im Oktober mit anschliessendem Tanz und Rausch. Orphisch! Frage an Gerda: was haeltst Du von der Polaritaet Dionysisch – Apollinisch? Wie gehen „die Deutschen“ damit um? (Hehe, ich kenne Deutschland, war nicht umsonst ca. 40 Jahre da)…

      4. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Ich mag die Wein-Metapher auch – und ich würde die Poesie, das literarische Schreiben als die Vermittlungsinstanz zwischen dem Dionysischen und Apollinischen verstehen, ganz im Sinne eines horizonterweiternden, Sinne entriegelnden Reifens, Wachsens und Entfaltens von Sprache als Sackgassenvermeidung. Aber all das bleibt im Fluss, im Werden, also ganz heraklitisch. 🙂 Viele Grüße und Danke für die Kommentare!

  2. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
    hibouh sagt:

    Wieder eine sehr sorgfaeltige und lange Besprechung! Aber: „Es gibt für mich kein Buch, das das Lebensgefühl des Balkan fassbarer machte als gerade dieses.“ (Gerda) Das sage auch ich als Balkanliebhaber ein bisschen), denn „Die Geliebte des Veli Pascha“ oder „Wesire und Konsuln“ geben dieses Gefühl ebenso, sind auch ebenso kritisch der Österreichischen Besatzungsmacht gegenüber wie des muslimischen Glaubens. Andric war ja Serbe, In Travnik geboren schrieb er „Die Brücke…“ in Belgrad. Dass er an der Bucht von Kotor ein Sommerhaus hatte, wissen nur die Wenigsten.
    Nun zur Brücke. Ist sie nicht auch die Verbindung zwischen Welten, als Metapher ebenso wie in der taeglischen Realitaet? Alte Brücken sind wunderbar, siehe etwa die in Regensburg. Deshalb werden wohl viele nach Zerstörung wieder erbaut (siehe Mostar). Die in Vişehrad ist, so viel ich weiss, vom osmanischen Architekten Mimar Sinan, von dem zum Glück mehrere unübertreffliche Bauwerke (auch Brücken) erhalten sind, erbaut. Mir ist von der Brücke über die Drina „die süsse Stille“, die da trotz allen Blutvergiessens und Serben-Schlachtens zelebriert wurde, geblieben.
    Für mich ist das Buch ebenfalls von unglaublicher Schönheit, von unglaublichem Wert.
    Der zeitgenössische deutsche Autor Saşa Stanisic (u.a. „Wie der Soldat das Gramophon repariert“) stammt übrigends aus Vişegrad. Von ihm und anderen (Mesa Selimovic, Marina Bodrozic – „Mein weisser Friede“, Mathias Enard – „Zone“ -) gibt es weitere Balkan-Literatur.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich glaube, dass ich erahne, was euch bezaubert, dich und Gerda – und ich habe das zeitweise in dem Buch auch gehabt, das Bunte, die Durchmischung, das Derwischhafte. Der Karneval lebt. Die Figuren kommen und gehen. Mein Leseeindruck setzt sich nicht aus Szenen, sondern aus dem ganzen Text zusammen – nicht aus dem Pittoresken, sondern aus dem Kompositorischen, und da ich meine Probleme mit Romane habe, die Geschichtsschreibung sein wollen (eben Erzählung ohne Quellenforschung, Quellenvergleiche etc …), erhält ein fiktionaler Text für mich eben einen fiktionalen Charakter, der sich perspektivisch findet oder nicht. Ich fand, Andric‘ Text besitzt kein Gleichgewicht, aber hier wieder, ich lese es nicht als Anschauungsmöglichkeit, sich die Schönheit des Balkans vor Augen zu führen. Ich habe es sehr kommunikativ zu lesen versucht, hierin besteht auch und klar eine Limitation meiner Besprechung. Sie sieht im Text einen Gesprächspartner, und, das ist mein Punkt, Andric gibt mir nicht viel Grund, ihm zu glauben. Wenn ich aber selber einen gewissen Bezug zum Gegenstand des Textes besitze, von alleine bereit halte, gibt er wahrscheinlich unglaublich vielen schönen Anschluss, um die eigenen Erinnerungen zu befeuern. Dass die bei mir fehlen, weiß ich – dass sie, selbst wenn ich sie hätte, mir den Eindruck nicht veränderten, meine ich abschätzen zu können (durch andere Lektüren deren Gegenstände ich sehr gut kenne und mag). Danke für die Hinweise und Danke auch, dass viele verschiedene Meinungen willkommen sind. So bleibt es bunt. Stanisic lese ich noch in den nächsten Wochen. Das ist nun beschlossene Sache. Viele Grüße!!

    2. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
      gkazakou sagt:

      Ich habe mich über deine zustimmenden Bemerkungen sehr gefreut.

  3. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
    hibouh sagt:

    Ha! Eines meiner Lieblingsbücher!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Vielen Dank für die Empfehlung. Ich bleibe bei Ivo Andric mal am Ball. Gegenmittel für zerstreute Hirn kann ich gebrauchen 🙂 Viele Grüße!

  4. Dieses Buch habe ich geliebt, Alexander, und du hast mich mit deiner Besprechung daran erinnert, obwohl du selbst keine Zuneigung zu diesem Roman ausdrückst.
    Für mich war immer die Brücke selbst die erzählende Instanz, die naturgemäß kein menschliches Gefühl entwickelt, aber jeden Schritt über die Brücke in ihre Erinnerung aufnimmt. Ein riesiger Geschichts- und Geschichtenspeicher. Und diese Geschichten fand ich gerade durch ihre kursorische Vielfalt so beeindruckend. Diese Vielfalt hat mich so viel über das Wesen der Menschen des Balkans gelehrt, mir gezeigt, wie uneinheitlich sie durch ihre Geschichte geworden sind, wie schicksalsergeben und kämpferisch, wie fantasievoll und abgestumpft, wie tolerant und unduldsam.
    Hier bin ich viel näher an Gerdas Erinnerungen als an deinen Eindrücken. Wie spannend, dass ein Buch so gegensätzlich wirken kann. Das spricht für seine Qualität.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Es gibt viele Weisen, sich Büchern zu nähern. Es gibt die Weise, in den Büchern Gesprächspartner zu suchen, oder in ihnen Zugang zu neuen Welten zu finden, oder durch sie eigene Erfahrungen unter neuen Gesichtspunkten analysieren zu können.

      Es gibt für mich das Lernen, das Unterhalten, das Reflektieren und Bestätigen – vielleicht als grobe Orientierungspfähle (wie auf einem Kompass).

      Ich beschäftige mich, im Sinne der kommunikativen Lesart, vor allem mit dem reflektorischen Aspekt, da ich (und hier gibt es breiten und verständlichen Einspruch) von Romanen nichts Gegenständliches lerne (hier kommt mir mein wissenschaftliches Quellen-Analysen-Ding in den Kram), sondern in Romanen höchstens das Verfahren des Kommunizierens selbst als Akt der Verständlichungs-Machung von Sinnkonzepten suche und teste.

      Nur unter diesem Aspekt habe ich bei Ivo Andric nicht viel finden können. Das Buch lebt von der behaupteten Wahrheit des Dargestellten, ohne das Behaupten reflektorisch-literarisch plausibel werden zu lassen (der freischwebende Erzähler besitzt diesen Anspruch ja auch nicht). Das muss gar nicht verlangt werden (vor allem dann nicht, wenn das Dargestellte für das Publikum bereits wahrheitstauglich ist). Was mich aber enttäuscht hat, ist das Kursorische, das eine konsistente Lesart nicht einmal voraussetzt, sondern pittoresk viele Details ansammelt, um daraus ein (vom jeweiligen Lesakt abhängiges) Gesamtbild autonom entstehen zu lassen. Hierfür aber kommen mir zu wenig Stimmen vor. Ich gebe aber zu, und da hat Gerda recht und trifft einen Punkt, ich kann mit freischwebendem (und daher sich selbst in seinem Erzählen nicht reflektierenden Berichtens) selten etwas anfangen (daher meine grundsätzlich Apathie gegenüber Thomas Mann) – ich bin aber stets bereits an diesem blinden Fleck herumzudoktorn, da mir sehr wohl bewusst ist, dass ich da einen blinden Fleck besitze oder entwickelt habe. Viele Grüße und vielleicht habe ich ein wenig deutlicher kommunizieren können, woher mein Unwohlsein bei Andric herrührt! Die Brücke als Symbol mag ich sehr wohl.

      1. Die Gründe für dein Unwohlsein sind mir sehr verständlich, um so mehr nach dieser zusätzlichen Darstellung, lieber Alexander.

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