Carl Einstein: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“

Bebuquin … An sich selbst irre gewordener Humanismus.

Mit dem Anbruch der Moderne fanden Versuche statt, den Stil, die Schreibweise völlig vom Inhalt zu lösen. Wegweisend wirkt hier Stéphane Mallarmé, der mittels einer Kunst für die Kunst, eines l’art-pour-l’art, zur reinen Form und Idee, zur poésie pure durchstoßen wollte. Symbolistisch, hermetisch treffen abstrakte Konstruktion aus L’après-midi d’un faune (1876) und eine Écriture automatique eines Lautréamonts mit seinen Die Gesänge des Maldoror (1874) aufeinander. Etwas später gesellt sich Carl Einstein hinzu, der 1912 mit Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders den Hermetismus in der Gattung des Romans vollendet und deshalb bis heute als das Sinnbild für absolute Prosa gilt:

[Im Kampfe mit zwei Wirklichkeiten] überkam [Nebukadnezar Böhm] eine wilde Freude, dass ihm sein Gehirn aus Silber fast Unsterblichkeit verlieh, da es jede Erscheinung potenzierte, und er sein Denken ausschalten konnte, dank dem präzisen Schliff der Steine und der vollkommen logischen Ziselierung. Mit den Formen der Ziselierung konnte er sich eine neue Logik schaffen, deren sichtbare Symbole die Ritzen der Kapsel waren. Es vervielfachte seine Kraft, er glaubte in einer anderen, immer neuen Welt zu sein mit neuen Lüsten. Er begriff seine Gestalt im Tasten nicht mehr, die er fast vergessen, die sich in Schmerzen wand, da die gesehene Welt nicht mit ihr übereinstimmte.

Carl Einstein aus: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“

Inhalt/Plot:

Den Inhalt dieses äußerst verdichteten Kurzromans zu rekonstruieren, halten viele für unnötig. Genaueres Lesen der knapp 50 Seiten enthüllt jedoch einen Minimalplot, der den Text, der aus 19 Kapiteln besteht, noch gerade so zusammenhält. Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders besitzt Figuren: Giorgi Bebuquin, Nebukadnezar Böhm und Euphemia bilden das Dreigestirn eines einzigen Protagonisten. Um diese herum scharen sich der jugendliche Maler Heinrich Lippenknabe, die Schauspielerin Fredegonde Perlenblick, das Ehepaar Ehmke und Aurora Laurenz, sowie ein paar Nebendarsteller, Fremde, Hetären, Büffetdamen und verärgerte Passanten, die ihr Scherflein dazu beitragen, dass Carl Einsteins Roman unübersichtlich bleibt:

Verschiedene Messiasse traten mit Erfolg auf, Messiasse der Reinheit, der Wollust, des Pflanzenessens, des Tanzes, hypnotisierende Messiasse und einige andere. Hatte man genug Anhänger, so wurde die Sache langweilig. Ueberlebte Messiasse verwandte man als Redakteure, zumal ihnen Sensation geläufig war. Die neue Weltanschauung kristalisierte sich zur Ziege, die ein Bein gebrochen hat.
Vor dem Fenster Bebuquins tauchten einige Irre auf. Er neigte sich heraus, die Glatze von der Mittagssonne beleuchtet. Die Fratzen sprangen am Fenster hoch wie Gummibälle, einer schrie »Gib uns wieder zurück, lass uns heraus, nimm die Spiegel weg,« denn der gleissende Schrecken der Spiegel hing über der Stadt.

Über die vielen Assoziationen, wildlaufenden Reflexionen hinweglesend, ergibt sich eine Ménage-à-trois-Geschichte zwischen den besagten drei, Bebuquin, Böhm und Euphemia, die beide liebt, aber mit Böhm ein Kind bekommt, von Bebuquin einen Heiratsantrag erhält, lieber ins Kloster geht, nach Intervention der beiden wieder, obzwar ungeläutert, zurückkehrt und von Bebuquin Verantwortung für die Kinder einfordert. Im Hintergrund steht also die Diskrepanz zwischen bürgerlicher Existenz, verantwortungsvoller Ehe und der absoluten Freiheit des kreativen, keine Fesseln duldenden Monumentalintellektuellen:

[Bebuquin] schrie die Puppe an, beschimpfte sie und warf sie wieder einmal von ihrem Stuhl vor die Tür, wo die dicke Dame sie etwas besorgt aufhob. Er wand sich in der leeren Stube: »ich will nicht eine Kopie, keine Beeinflussung, ich will mich, aus meiner Seele muss etwas ganz Eigenes kommen, und wenn es Löcher in eine private Luft sind. Ich kann nicht mit den Dingen etwas anfangen, ein Ding verpflichtet zu allen Dingen. Es steht im Strom, und furchtbar ist die Unendlichkeit eines Punktes.«

Bebuquin will frei sein. Seine Verhaltensweise steht für die autonome Kunst, die reine Logik, das selbstreferenzielle Spiel mit sich selbst, worin nichts Empirisches, Körperliches, nichts Materielles mehr eingeht noch eine Rolle spielt. Seine Sehnsucht steigt aus dem reinen Klang, der reinen Formel, des rein Logischen herauf in die ewigen Sphären einer allumfassenden Gültigkeit. Selbst die Sprache, schon als Klang und Referenz auf etwaige Bedeutung, erscheint ihm unrein:

[Bebuquin] blätterte in einigen Mathematikbüchern, und viele Freude bereitete es ihm, mit der Unendlichkeit umherzuspringen, wie Kinder mit Bällen und Reifen. Hier glaubte er in keinem Hinübergehen in die Dinge zu stehen, er merkte, dass er in sich sei. Er sah ein, dass es verfehlt sei, sich Dichter zu nennen; dass er in der Kunst immer im Rausch der Symbole bleibe. Es genügte ihm keineswegs, dass die Technik der Poesie symbolisch sei, und ihre Gegenstände damit einen ganz anderen Sinn erhielten; noch immer fand er, dass die sprachliche Darstellung eben nur unreine Kunst sei, gemessen an der Musik.

Böhm im Gegensatz steht für den Dichter, der sich durch die Elemente und die Permutation dieser, durch Einfälle, Ideen und Assoziationen eine eigene Welt zu fabrizieren sucht. Er beschreibt noch die Wirklichkeit, aber will ihr eine neue Form verleihen, ihr neue Horizonte abverlangen. Sein eigenartiges Gehirn besitzt nicht die Eigenschaft eines unverzerrten Spiegels wie Bebuquins. Es spiegelt, aber verzerrt, ziseliert. Die Phantasterei Böhms stößt aber so wenig auf Wunder wie die gereinigte Form des Denkens von Bebuquins. Erscheint dieser als der aktiv Suchende, der die Wunder durch Reinigung, Abstraktion, durch Unterlassung und Distanzierung, durch eine intellektuelle unio mystica mit Gott zu erreichen sucht, so verbleibt Böhm in der Kabbala der Permutation des Wirklichen, in der Versprachlichung des Möglichen, in der Hoffnung, dass aus seinem Dichten und Wunderhorn-Tröten das Wunder von selbst emaniere, aber, so sagt dieser:

»Beichten Sie [Bebuquin] und opfern Sie sich. Ich glaubte, das Phantastische genüge, ich wurde lackiert, gehen Sie, beichten Sie.«

Die Dichtung hält nicht, was sie verspricht, vielleicht hält’s die theosophische Transzendenz. Euphemia steht als Schauspielerin und Künstlerin zwischen dem Dichter Böhm und dem Transzendenz versessenen Intellektuellen Bebuquin. Sie vollbringt Akrobatisches, tanzt, verlockt, strahlt Schönheit und Fruchtbarkeit aus. Sie will Werkzeug Gottes sein, ihm ihr Leben widmen und geht deshalb, als Bebuquin ihr einen Heiratsantrag unterbreitet, freiwillig ins Kloster. Ihr ist der Körper, das Sexuelle am Ende, nur Schmutz und Dreck, selbst die Geburt ihres Sohnes Emils bleibt von dieser Sichtweise nicht verschont:

»Sie [Euphemia, sagt Bebuquin] kriegten doch Emil.«
»Nein, das war nicht ich, irgend etwas in mir produzierte da, bewahrte auf. Und der erste Schrei des Kindes, das konnte doch nicht von mir kommen. Und die Form, der Körper, das ist doch nur ein Mittel, eine Ausdrucksform und ein schlechtes Instrument. […] Ich will einfach aus all dem Dreck heraus
.«

Als Mystikerin sucht sie auch das Wunder. Sie sucht es in der Hingabe und Aufgabe und gesellt sich so zu den Dilettanten des Wunders, das ihnen allesamt unvergönnt bleibt.

Detaillierte Inhaltsgabe

  1. Kapitel: Giorgio Bebuquin auf so etwas wie einem Jahrmarkt, greift eine Puppe an. Trifft auf Euphemia und Nebukadnezar Böhm. Sie wollen in eine Bar gehen. Böhm schmust mit Euphemia, ruft nach Bebuquin, trunken in Selbstbespiegelung, während er sich an den Leib Euphemias klammert. [Szene wie auf einer Theaterbühne]
  2. Kapitel: Szene zwischen Böhm und Bebuquin, der sich im Bett wälzt. Bebuquin will nur vollkommene Losgelöstheit. Böhm zeiht ihn der Religiosität. Er setzt an Bebuquin von den Gärten der Zeichen zu erzählen.
  3. Kapitel: Die Geschichte von den Vorhängen. Böhm schimpft, Bebuquin beschwert sich über sein Schimpfen. Böhm monologisiert über die Leinwand, sein Ich, auf dem die Welt sich spiegelt. Böhm will sich ein Ende machen (fast ein tragisches).
  4. Kapitel: Bebuquin nach Wochen in seinem Zimmer, will die Welt aus sich selbst heraus erschaffen. Böhm kehrt nach seinem Tod wieder und spricht zu Bebuquin über Logik und seine Vorstellungen von Frauen und von der Unendlichkeit, über die nachzudenken, ein Signum des Nichtskönnens, leerlaufender Seelenenergie und des Dilettantismus sei.
  5. Kapitel: In einem Café, mit jugendlichem Maler Heinrich Lippenknabe, Unterhaltung mit Bebuquin über das Ästhetische. Euphemia tritt ein. Sie hat Kind zur Welt gebracht. Lippenknabe trinkt auf sie und dichtet.
  6. Kapitel: Euphemia betrinkt sich mit dem Likör Chartreuse. Sie sitzen in einer Bar. Bebuquin beobachtet Lippenknabe, wie er sich mit einer Hetäre/Prostituierten vergnügt. Die Frage geht um, wer der Vater von Euphemias Sohn ist. Böhm kümmert sich um und wünscht, dass er Intellektueller wird. Böhm, auferstanden von den Toten, hält Monolog über die Vernunft und ihre Grenzen, und sinkt in den Kognak.
  7. Kapitel: Noch in der Bar. Böhm tanzt hinter Kristallflacons. Bebuquin erzählt von seiner letzten Beziehung/Affäre. Er sucht nach einer Frau, die die Proportionen einer Vase besitzt. Euphemia und die Hetäre hören nicht zu, starren ins Licht. Die Hetäre vertreibt den Maler Lippenknabe und erweist sich als Reklame für eine Animierkneipe. Bebuquin und Euphemia ziehen weiter zu ihrer Wohnung. [Unklar, ob sie zusammen leben]
  8. Kapitel: Schauspielerin Fredegonde Perlenblick fährt mit ihrem Wagen vor und betritt ein Lokal. Bebuquin spricht sie an. Böhm taucht aus der Kognakbütte auf, schenkt Fredegonde einen Edelstein. Eine Drehbühne bewegt sich. Euphemia mit dem Embryo Emil auf dem Schoß. Aufregung im Lokal über das große Tier.
  9. Kapitel: Wieder in Bar. Trinkgelage. Euphemia wird nicht schlau aus Böhm, ob dieser nun tot sei oder nicht. Ein Arbeiter trägt Fredegonde fort. Lippenknabe und andere singen für Böhms Leiche. Ehmke Laurenz und Aurora betreten das Lokal, Vertreter des Platonismus, schmusen und werden hinaus geworfen. Ein Fremder bittet Bebuquin, ihm zu folgen.
  10. Kapitel: Euphemia tritt vor Publikum in einem Zirkus auf und führt Kunststücke vor, bricht sich das Genick und beschließt in ein Kloster zu gehen.
  11. Kapitel: Noch in der Manege. Gespräch zwischen Bebuquin und der nackten Euphemia. Bebuquin will, dass Euphemia ihn heiratet. Sie will nicht und geht nun tatsächlich ins Kloster.
  12. Kapitel: Bebuquin in seiner Wohnung, in seiner Denkstube. Selbstgespräche. Böhm starb an Langeweile. Prompt taucht er wieder auf. Es dämmert. Bebuquins Körper verschwindet in den Schatten.
  13. Kapitel: Bebuquins geht zu dem Kloster, in das Euphemia gegangen ist. Böhm begleitet ihn, auf Nadelspitzen gleitend. Reflexionen über die Logik, am Horizont taucht das Kloster auf.
  14. Kapitel: Ehmke und Aurora Lorenz vor dem Kloster, die Platoniker. Bebuquin tritt in den Vorhof. Dort wird ein riesiger Stein bestattet, der wohlmöglich nicht in das gegrabene Loch passt. Bebuquin disputiert mit einem Bonzen. Böhm taucht auf in gelber Mönchskutte. Dialog zwischen Antiphone und Strophe und Bebuquin über die Tatsachen. Bebuquin tritt in die Kapelle ein.
  15. Kapitel: Bebuquin in seiner Stube. Hält Monolog über den Tod. Ein alter Mann besucht ihn, stirbt. Bebuquin bringt ihn in dessen Wohnung, kehrt zurück, starrt aus dem Fenster, auf die Menschen, die mühselig an ihm vorüber wandern.
  16. Kapitel: Bebuquin geht in den Zirkus. Eine Nonne taucht auf. Ein riesiger Spiegel konfrontiert das Publikum mit sich selbst. Es kommt zur Raserei, zu Mord und Todschlag. Sie halten die Widerspiegelung ihrer selbst nicht aus.
  17. Kapitel: Euphemia besucht Bebuquin und konfrontiert ihm mit der Verantwortung für die Kinder. Böhm taucht auf. Bebuquin und Böhm, zwei Seiten einer Medaille. Euphemia wirft Bebuquin Impotenz vor. Lippenknabe tritt ein. Ein dicke Dame zudem. Bebuquin wirft die Dame zum Fenster hinaus, Lippenknabe springt ihr hinterher. Bebuquin redet mit Euphemia übers Jenseits. Auf der Straße hört er Lippenknabe der dicken Dame predigen.
  18. Kapitel: Bebuquin begräbt Böhm, fährt zu einem Kirchhof, hebt ein Grab aus und faltet die Hände, danach besucht er das Grab einer Josefine Peters, geborene Dewitz.
  19. Kapitel: Bebuquin im Bett. Verliert die Fähigkeit zu reden. Am Ende sagt er noch »Aus«.

Stil/Sprache/Form:

Einsteins Schreibstil sperrt sich jedwedem oberflächlichen Textverständnis. Das Schreiben sucht keine Kommunikation. Es sucht den alogischen, akausalen Exzess, und zwar mit allen ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln. Hierin stellt es Wegbereiter und Symptom einer künstlerischen Bewegung dar, die stets aufs Neue und in verschiedenen Varianten emaniert, bspw. im Fin de siècle bei Joris-Karl Huysmans und seinen Romanen Gegen den Strich (1884) und Tief unten (1891);  als expressionistischer Roman bei Franz Jungs Das Trottelbuch (1912) und sexualisiert bei Georges Batailles Die Geschichte des Auges (1928); im nouveau roman bei Alain Robbe-Grillet in Die Jalousie oder Die Eifersucht (1957); als kybernetische Spielart bei Oswald Wieners verbesserung von mitteleuropa (1969); Alexander Kluges Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973) und Philippe Sollers Portrait des Spielers (1984) bis hin zu neueren popliterarischen Spielarten wie Christian Krachts Eurotrash (2021) und Benjamin von Stuckrad-Barres Noch wach (2023). Sie alle besitzen die formale Losgelöstheit und Beliebigkeit, die ein Potpourri an Gedankenfetzen im Sinne der absoluten Prosa aufzuschreiben zulässt. Carl Einsteins Roman lässt sich als Grenzwert dieser literarischen Schreibweise verstehen:

Die Menschen, die löffelweise, keiner wusste vom anderen, in den Zirkus, eine kolossalische Rotunde des Staunens, geflattert waren, sassen zur Masse verkeilt, und man erwartete Miss Euphemia. An den Ranggeländern liefen Ornamente erregter Hände entlang, Bogenlampen schwangen ihre energetischen Milchkübel. Man bemerkte Miss Euphemia erst, als sie an die Decke aufgezogen war, sie hielt sich mit den Zähnen in einen Strick verbissen. Liess sich los, und ein Salto mortale war an der Decke geschlagen zum anderen Ende, wo sie mit den Zähnen ein Seil aufriss. Es fiel ein Programm. Miss Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloss aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen.

Bei Stuckrad-Barre hört sich das wie folgt an:

Und wieder mal verstand ich kein Wort, sagte aber, wie hier üblich: Absolut. Ich hängte mir den HOLLYWOOD-Rettungsring um den Hals, ein bisschen wie den Strick von Lucky in »Warten auf Godot«, dachte ich, sagte das aber natürlich nicht – ich hatte nun doch einige Erfahrung mit solchen Nächten und dem, was man währenddessen so zu denken denkt. Es war für alle angenehmer, wenn man dann ab und zu eine etwas strengere Tür pflegte bezüglich dessen, was aus dem wildwirren Synapsenzirkus man auch den anderen zumutete.

Benjamin von Stuckrad-Barre aus: „Noch wach“

Wortwörtlich nehmen lässt sich kaum etwas an der Prosa wie die von Einstein oder anderen dieses Literaturgenres. Sie erfordert genaues, überlegtes, sich erinnerndes, spekulierendes, nachkonstruierendes Weiter-, Neu-, Wieder- und Wiederlesen, oftmals jedoch ohne Erfolg, denn der Zusammenhang wurde von der Erzählinstanz bewusst in Mitleidenschaft gezogen. Alles zersplittert, raunt in Selbstbezüglichkeit. So wie die Figuren sich von ihren Körpern als empirische Seite ihrer Existenz lösen wollen, dies meist im Drogen- und Sexrausch, so will die Narration den Inhalt überkommen, als Rudiment und letztinstanzliche Fesselung eines wie auch immer gearteten Wortsinns:

O Gott, Du gabst uns einen Körper, vielleicht identisch; eine Seele, die den Körper an Möglichkeiten übertrifft, die ihn schon lange Zeit und oft ausrangierte; und die glänzenden Platten der Denker, die Sonne verschmäht es sich in ihnen zu beschauen, – suchen die Balance. Ich aber wünsche, dass mein Geist, der sich etwas anderes als diesen Körper – o Gartenzäune, Stadtmauern und Safes, Pensionate und Jungfernhäute – denken will, auch ein Neues wirkt und schafft. Ich kann absonderliche Wesen machen, Verrücktes zeichnen, auf Papier, in Worten, ich selbst bin verzerrt; aber mein Bauch bleibt ein Fresser. Welch geringe Versuche der Heiligen, nach Sprüchen der Evangelien den Körper zu verwandeln. Herr, gib mir ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins. Dann will ich normal sein, aber erst dann.

Das Wunder besteht in der creatio ex nihilo des Ewigen, des Gültigen, des Für-Sich-Bleibenden und Sich-Selbst-Genügenden. Hiervon träumen die Figuren des Bebuquins, die vollkommene Abkopplung von jedweder materiellen, gesellschaftlichen Abhängigkeit. Hier steht, selbstredend, formal die Unabhängigkeit vom Zeitgeschmack, dem sie Unverständnis vorwerfen, Mode, von Gelüsten, von Süchten, die jedoch, gerade die, ein Hauptaugenmerk vom Romanganzen erhalten: der Alkohol als Gewährsmann der Freiheit von Geist, Zeit und Körperlichkeit.

Die Lampen begannen zu zucken, sie zischten. Bebuquin drehte die Leitung ab. Die Frauen schraken verstört auf. Der Maler sagte eifersüchtig »Sonnenkult« und ging. Bebuquin blieb mit den Frauen. Man trank weiter, der Alkohol redete wie Gott aus dem Munde der Propheten. Der fahle Morgen betupfte die Scheiben. Er krauchte die Häusermauern hinunter.

Faktisch nämlich, im Roman, verbleiben die Figuren im Nachtleben versunken. Sie trinken. Sie schmusen. Sie begrapschen sich gegenseitig. Sie haben Sex, suchen Sex, trinken noch mehr, und ekeln sich am Morgen, wenn der Kater sie heimsucht, noch mehr voreinander. Der Name Nebukadnezar Böhms verweist auf den babylonischen König, die Hure Babylons und auf die Bohème gleichermaßen. Nur der Rausch und Exzess lässt sie die empirische Begrenztheit und Wirkungsmächtigkeit vergessen, aber stets nur zeitweilig.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders gilt als Vorläufer des surrealistischen und auch absoluten Romans. Es lässt sich aber auch als Groteske und Persiflage des Intellektuellenlebens lesen, dem Einstein, politisch aktiv, stets zu entkommen suchte und einen hellen Bruder in Erich Kästners Fabian – Die Geschichte eines Moralisten (1931) findet. Vielleicht schrieb er Jahrzehnte deshalb an einem Fragment gebliebenen Anti-Bebuquin, um das jubelnde Missverständnis zu beseitigen, vielleicht schrieb er deshalb auch das unvollendete, Hunderte Seiten lange Pamphlet Die Fabrikation der Fiktionen, in denen er sehr unmissverständlich schreibt:

Die moderne Kunst zeigt atemlose Flucht der lebensfernen Aestheten, der theoretischen Typen. Man beobachtet hier Menschen, seit langem unfähig, die Bezirke des Abstrakten zu überschreiten und ein Erlebnis mit allgemeinen menschlichen Zuständen zu verbinden. Das Tragische dieser Märchenerzähler liegt darin, dass sie nie mehr die praktische Tatsache oder Einwirkung erreichen. Man lebt in fernen Mythen, die so abgegrenzt sind, dass Sie zu Selbstzwecken vereisen und steril bleiben. Diese Modernen, die sich als Mitte des Lebens und aller Zukunft wähnten, vegetierten in der ergreisten Jenseitigkeit verstorbener Götter und verwester Symbole.

Carl Einstein aus: „Die Fabrikation der Fiktionen“ (1. Fassung)

Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders erweist sich vor dieser Lesart als Selbstreflexion, Selbstkritik, ja, als eine Form von sich selbst auferlegtem Exorzismus. Die Figuren geißeln sich selbst in ihrer Impotenz. Selbst das Sterben bekommen sie nicht hin. Ihre untoten Gedanken tanzen hinter Cognacflacons munter weiter. Böhm stirbt und aufersteht in einem fort und wünscht sich doch nichts mehr, als dass sein Sohn Emil Intellektueller wird:

Euphemia schrie senkrecht auf.
»[Böhm] kommt immer, er wird das Kind stillen, er hat jetzt eine solch milchfarbene Schädelplatte, seit er starb, und er benutzt seinen Schlingdarm, für den er jetzt keine Verwendung mehr hat, als Zither und singt sehr ergreifend dazu den Pythagoreischen Lehrsatz. Er sagte, der Junge müsse ein ganz intellektueller werden.«
»Ja, dein Embryo schrieb doch eine philosophische Arbeit und doktorierte auf Geburt; nicht wahr, die Geschichte heisst: die zerstörte Nabelschnur oder das principium individuationis.«

Die Kritik an sich selbst findet im Laufe des nicht allzu langen Textes immer wieder neue Formen der Selbstbeleidigung. Sie hängen an einem Rätsel, das per definitionem keine Lösung besitzt. Sie wollen die absolute Befriedigung des nach Gültigkeit und Bedeutung strebenden Geistes und finden ihn nur kurzzeitig im Rausch und Exzess des Alkohols. Als Burleske, als Kabarett eignet sich Carl Einsteins Text hervorragend, den er André Gide gewidmet, und der seinerseits einen Besuch von Einstein in seinem Tagebuch Februar 1912 festgehalten hat:

Gestern morgen Einstein empfangen, einen rundlichen Deutschen, der eine Revue gründen will, um für die neuen Richtungen zu kämpfen, denen er aber ich weiß nicht mehr was vorwirft. Sympathisch, aber noch im Teigzustand wie alle Deutschen.

André Gide aus: „Tagebuch 1889-1939“ [Band 1, 1912]

Scheinbar wusste Einstein noch nicht so genau zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Romans Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, wohin ihn seine eigene Leidenschaft, Wut und Unzufriedenheit auf Reisen schicken. Als Dokument von großer Verwirrung und Irrung gibt der paradigmatische Anti-Roman beredtes Zeugnis ab. Stilistisch, sprachlich zersprengt diese Avantgarde in nebulöse Einzelheiten, aus denen, wie Carl Einsteins Biographie zeigt, nur die Flucht oder der Wahnsinn als Ausweg bleiben, so sagt es auch Bebuquin zu Böhm:

Wir können uns nicht neben unsere Haut setzen. Die ganze Sache vollzieht sich streng kausal. Ja, wenn uns die Logik losliesse; an welcher Stelle mag die einsetzen; das wissen wir beide nicht. Da steckt das Beste. Beinahe wurden Sie originell, da Sie beinahe wahnsinnig wurden. Singen wir das Lied von der gemeinsamen Einsamkeit. Ihre Sucht nach Originalität entspringt Ihrer beschämenden Leere; meine auch. Ich entziehe mich Ihnen ohne weiteres. Dann spiegeln Sie sich in sich selbst. Sie sehen, das ist ein Punkt. Aber die Dinge bringen uns auch nicht weiter.

In der Selbstbezüglichkeit ein radikales, unausgeglichenes, kaum lesbares Werk, das aber in seinem losen prosaischen Verbund bis zum heutigen Tage viele erfolgreiche wie unerfolgreiche Nachfolger gefunden hat.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen. Bebuquin bespreche ich im Zusammenhang mit dem Buch Minihorror, das den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 gewonnen hat.

Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

7 Antworten auf „Carl Einstein: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders““

  1. Hier erscheint mir die Rolle der von dir erwähnten verärgerten Passanten für mich passend zu sein. Deine beiden letzten Rezensionen finde ich eindeutig interessanter als die beschriebenen Texte

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Danke, liebe Myriade, das ist freundliches Lob!! Auch diese Textstücke verzahnen sich, und vielleicht gelingt es einer interessierten Literaturöffentlichkeit auch aus kleinen Funken und verworrenen Blitzen eine Feuerwerk zu generieren. Dazu ein klein wenig mithelfen, ist mein Anliegen – mitarbeiten, freundlich auslegen, weiter probieren, die Sprache zu neuen Möglichkeiten treiben. Carl Einstein (so plemplem wie er wahrscheinlich auch war), er hatte schon Witz und Mut 😁

      1. Carl Einstein kannte ich nicht, aber allein schon der Name macht natürlich aufmerksam. Mir geht es auch so, wenn ich Bilder von Lucian Freud sehe …

      2. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Ja, so ein Name wie „Einstein“ und „Freud“ zieht, das stimmt. Und dann sind Carl Einstein und Albert auch noch Zeitgenossen – aber sie haben wirklich wenig gemein, oder viel, denn beide scheinen Querköpfe gewesen zu sein 🙂 Lucien Freud, habe ich irgendwann schon mal gehört, nur in welchem Kontext? Viele Grüße!

  2. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
    gkazakou sagt:

    Danke für die großartigen Rezensionen, mal wieder. Ich las zuvor deine andere Rezension und stelle fest: das Genre ist wieder im vollen Aufstieg begriffen. Warum? Damals waren es wohl die Verstörungen durch die neuen Erkenntnisse der Physik (witzigerweise heißt der Autor wie der Erfinder der Weltformel E = mc², 1905), heute der Künstlichen Intelligenz. Auch sonst gibt die Zeit um 1912 und 2024 leider viele Gründe zum Vergleich.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Hier sprichst du viele engverwandte Parallelen an, auch deshalb habe ich den Carl Einstein hervorgezaubert, weil ich es ähnlich sehe. Was ich aber als vormerkliches Analog betrachten würde, wäre der Aufzug und Einzug neuer Massenmedien und Kommunikation, damals Radio, heute Internet. Diese neue Form der Kommunikation bringt eigene Möglichkeiten und eigene Gefahren mit sich. Ich will mich noch eingehender mit der Jahrhundertwende beschäftigen – die Physik (das sage ich als leidgeprüft selbiger) hat oft ein viel größeres Mundwerk als sie Taten folgen ließe. Die wichtigsten technologischen Errungenschaften stammen nicht aus der Universität, noch nie, dort lernt man nur über sie zu fabulieren. Die Relativitätstheorie passt dennoch, sie setzt den Beobachter ins Spiel, den Zuhörer, den Medial-Teilnehmenden – hier fügt sich dann wieder alles zusammen. Vielen Dank für die Gedankenanstöße, Gerda, und herzliche Grüße!!

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