Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Paradigma eines freien, befreiten Erzählens …

Franz Kafka hat den größten Teil von seinem fast beendeten Roman Das Schloß in der Ich-Perspektive geschrieben und danach, per Hand, in seinem Manuskript in die Er-Perspektive umgeschrieben. Die Streichungen lassen sich in den Originalabschriften einsehen. Die Entscheidung zeigt den wesentlichen Aspekt auf, den die Erzählperspektive im Medium Roman innehat. Brigitte Reimann hat eine außergewöhnliche Wahl für ihren ebenfalls nur beinahe beendeten Roman Franziska Linkerhand gewählt:

„Da hast du [Franziskas Bruder Wilhelm] ja Glück gehabt“, sagte Franziska kalt… in diesem Augenblick verachtete ich ihn, einen Heuchler und Feigling, der sich für seinen Freund nicht engagieren wollte. Ich wäre lieber nobel gestorben… Mit siebzehn ist man ein strenger Richter über andere, und man urteilt hart, prinzipientreu; selbst ungeprüft, prüfte ich meinen Bruder.

Brigitte Reimann aus: “Franziska Linkerhand”
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T.C. Boyle: „Blue Skies“

Lakonisch in den Weltuntergang … Spiegel Belletristik-Bestseller (23/2023)

Der SWR beschreibt mit Bernhard Falcke den neuen Roman von T.C. Boyle Blue Skies als Ökothriller. Der NDR empfindet mit Severine Naeve das Buch eher als unfassbar komisch, wohingegen in der FAZ Andreas Platthaus Boyles Text eher als Familiendrama einer Mutter-Tochter-Beziehung auffasst. Dieses Trias subsumiert das Genre, für das T.C. Boyle bekannt geworden ist, ein selbstkritisches, sentimentales, humoristisch angehauchtes Weltverständnis. In Blue Skies läuft alles auf eine weltweite Katastrophe hinaus:

Die Straße pulsierte. Ein zähflüssiger brauner Matsch floss und kroch dahin, es sah aus wie eine Schlammlawine, nur dass es hier nirgends einen Berg oder auch nur einen Hügel gab, an dem eine solche Lawine hätte herunterfließen können — was also war das hier? Der Wagen kroch im Schritttempo voran, und es fühlte sich an, als wäre sie auf einem Transportband aus lebendigem Fleisch — oder nein, aus Fisch. Jetzt sah [Ottilie] die Augen, tausende Augenpaare, die im Scheinwerferlicht aufleuchteten. Es waren Welse, jawohl, südostasiatische Froschwelse.

T.C. Boyle aus: “Blue Skies”
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Eugen Ruge: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“

Eine literarische Distanznahme … Spiegel Belletristik-Bestseller 19/2023 … Deutscher Buchpreis 2011

Die Antike besitzt eine von der Renaissance, in der sie im 14./15. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, bis weit in die Literatur der Gegenwart hineinreichende Ausstrahlungskraft. Für die Zeit der alten Griechen sei Aristipp und einige seiner Zeitgenossen von Christoph Martin Wieland, Friedrich Hölderlins Hyperion oder Christa Wolfs Kassandra genannt. In Bezug auf Rom können Hermann Brochs Der Tod des Vergils, Thornton Wilders Die Iden des März oder Claude Simons Die Schlacht bei Pharsalos stehen. Derlei Beispiele gibt es viele. Mehr in Richtung Wortwitz und Ironie bearbeiten Ingomar von Kieseritzky in Die ungeheuerliche Ohrfeige oder Luciano De Crescenzo Geschichte der griechischen Philosophie das Thema der römisch-attischen Antike. Ein zu den letzteren sehr ähnlich geartetes Buch legt nun Eugen Ruge mit Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna vor:

Die sieben jungen Leute lungerten zwischen den Mauerresten herum und langweilten sich, stritten aus lauter Übermut darüber, ob Crescens, der Netzkämpfer, oder Samus mit dem Kurzschwert der Größere unter den Gladiatoren der Fortunatus-Schule sei; ob es Juden schwarzer Hautfarbe gebe; ob in Arabien fliegende Schlangen die Obstbäume bewachten, wie es Tonis versoffener Vater bei Herodot gelesen haben wollte – lauter Fragen also, die für ihr Fortkommen von ungeheurer Bedeutung waren und daher gewöhnlich auch nicht durch Argumente, sondern durch Prügelei entschieden wurden, wobei Josse streng überwachte, dass man sich nach den Regeln schlug.

Eugen Ruge aus: “Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna”
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Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Eine gerettete Zunge auf dem Weg zu sich … Preis der Leipziger Buchmesse 2023.

Die Kunst, die Sprache, die Poesie bietet ein Medium, um in der Fremde ein Selbstverständnis zu erringen. Zeugnisse dieser Befreiung besitzen eine eigene Intensität und Leuchtkraft. Die Dringlichkeit der Sprache bricht eingefahrene Denkmuster. Sie eröffnet Spielräume, und in diesen bewegen sich neue Motive, Stile, Ausdrucksweisen. Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen verarbeitet eine solche kulturelle Abstands- wie Inbesitznahme. In seinem Roman, der nur mit viel gutem Willen ein Roman, mehr ein Prosagedicht ist, läuft alles auf den Zauber und Freude der geretteten Zunge hinaus. Nichts als das Eigene, nichts als das Empfundene soll bleiben und das eigene Leben besingen:

Mit Versen noch den Intellekt beweisen zu wollen, das erschreckt mich jedes Mal. Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt irgendwann diese Kerbe tief im Fleisch, und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien. Das Resultat meines kleinen Widerstands: Nichts kommt auf das Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.

Dinçer Güçyeter aus: “Unser Deutschlandmärchen”
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Sebastian Hotz: „Mindset“

“Die Welle” fürs 21. Jahrhundert? … Spiegel Belletristik-Bestseller (17/2023)

Eine der bekanntesten Schullektüren in Bezug auf die Wirkung und Mechanismen totalitärer Strukturen heißt Die Welle und wurde auf Basis eines Drehbuches von Morton Rhue alias Todd Strasser verfasst. Der Roman erschien 1981 und in der deutschen Übersetzung von Hans-Georg Noack 1984. Sebastian Hotz, Podcastproduzent und Satiriker, hat nun einen Roman geschrieben, Mindset, der den Plot und die Moral der Geschichte von Rhues Text ins 21. Jahrhundert zu bringen versucht:

Ich bin hier, weil ich mit GENESIS EGO ein Programm konzipiert habe, mit dem mein Erfolg eurer werden kann. Alles, was ihr dafür braucht, ist …«
»Mindset … Disziplin … Ego …«
Maximilian hätte es besser gefallen, wenn die Seminarteilnehmer aufgesprungen wären und ihm die drei Worte frenetisch entgegengebrüllt hätten, einzig die Stimme des Neuen [Mirko] lässt aufrichtige Begeisterung erkennen. Enttäuschend. Aber der Tag ist ja noch jung.

Sebastian Hotz aus: “Mindset”
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