Mariana Leky: „Kummer aller Art“

Ein literarischer Sommerurlaub … Spiegel Belletristik-Bestseller (35/2022)

Literarische Aphorismen und Aperçus gleiten schnell ab ins Belanglose. Das liegt an der Unverbindlichkeit des nicht gegebenen Zusammenhangs. Sie reihen sich. Sie müssen kein Ganzes ergeben. Sie beziehen sich auf einen unbekannten Alltag, auf Situationen und vereinzelte Erfahrungen, die als Versatzstücke in Bonmots herbeizitiert werden. Großangelegte Sammlungen wie die Aphorismen von Jean Paul Bemerkungen über uns närrische Menschen laden eher dazu ein, sie hier und da durchzublättern, als sie konsequent und akribisch von vorn nach hinten komplett durchzulesen. Das blitzartige Finden erlaubt dann diesen oder jenen Glückfund, gleich einem Gedankenblitz. Anders jedoch Mariana Lekys neuestes Buch mit dem Titel Kummer aller Art. Leky reiht zwar auch kleinere Geschichten einander, aber sie bewegen sich alle in einem spezifischen und dadurch sehr verbindlichen Kosmos:

Frau Wiese stand auf, mit lauter Mahnungen in den Haaren, setzte sie sich an den Küchentisch und starrte einäugig auf den Tropfen, der am Wasserhahn hing und sich trotz des ausgiebigen Starrens nicht bewegen wollte. Vermutlich weil er schlief. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte. Der Morgen war da. Ein ausgeruhter Bauarbeiter schmiss seinen Presslufthammer an und ein Vogel sein Lied. Letzte Phase: dumpfe Resignation. Frau Wiese lehnt den Kopf an die Hausflurwand, ich lehne meinen ans Treppengeländer. Wir sitzen da wie zwei windschiefe Eulen.

Mariana Leky aus: „Kummer aller Art“
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Kalenderwoche 32/33. Lesebericht.

Die Kalenderwoche stand ganz im Zeichen verworrener Lektüren von etwas älteren philosophischen Texten wie Platons oder Jean-Jacques Rousseaus Schriften. Dazu las ich Erich Fromm, ging die aktuelle Bestseller-Liste durch und fand Erholung bei dem Roman von Ralf Rothmann Die Nacht unterm Schnee. Die Mühen aber, die mir Platon bereitet, weiß ich noch nicht richtig einzuordnen. Ich lese die Dialoge und alles dreht sich in meinem Kopf von den Syllogismen, Begründungen, vom Humor, Witz und Schalk, aber auch von dieser alles in Schwebe haltenden Rhetorik. Platon neben einer anstrengenden Arbeit zu lesen, verlangt mir momentan fast alles ab. Ich befürchte beinahe, ich werde wieder einmal die Lektüre von Politeia [Der Staat] abbrechen:

Ist nicht auch die Kunst, fragte ich, dazu da, das einem jeden Zuträgliche zu suchen und zu verschaffen? Allerdings, antwortete er. Ist nun auch jeder einzelnen Kunst etwas anderes außer ihr Liegendes zuträglich als dies, dass sie möglichst vollkommen sei? Und bedarf sie dessen noch, um möglichst vollendet zu sein, oder ist dazu jede sich selbst genug?

Platon aus: „Der Staat“
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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Vom Krieg und anderen Schrecken … Spiegel Belletristik-Bestseller (33/2022)

Selten verirren sich Romane in die Bestsellerlisten, die auf Erklärungen, Begründungen, in sich geschlossene Erzähllogiken verzichten. Typischerweise läuft alles auf die Struktur des klassischen Kriminalromans hinaus: Es wird von einer Tat, einem Ereignis berichtet, und der Roman liefert dann Grund und Auflösung nach. So verstanden stellt der Roman nur einen sehr langen Text zum kurzen Aufmacher dar. Als Beispiel sei Jan Weilers Der Markisenmann genannt, in der nach und nach der Grund aufgerollt wird, weshalb der Vater seine Tochter seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, oder Susanne Abels Was ich dir nie gesagt habe, wo eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung auf eine Lüge, ein Stillschweigen, ein Geheimnis zurückgeführt wird. Ralf Rothmanns Roman Die Nacht unterm Schnee handelt ebenfalls von einer Familientragödie, aber diese stellt nur den Rahmen für ein sprachliches Unterfangen der besonderen Art dar:

Kein Laut in der Nacht, auch kein entfernter Geschützlärm, an dem sie sich orientieren konnte. Soweit sie sah, verschneites Ackerland, von braunen Panzerspuren durchfurcht, und manchmal, wenn sie die fiebrig heißen Lider schloss, war das Fallen der größeren Schneeflocken in ihrer Nähe zu hören, ein unendlich zartes Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand mit feuchten Fingerkuppen auf die Tischplatte klopft. Doch als wäre diese Stille lediglich ein Raum für den Unglauben derer gewesen, die den Soldaten in den Ställen ausgeliefert waren, ein Atemholen des Entsetzens, zerriss im nächsten Moment ein langgezogener Laut die Nacht.

Ralf Rothmann aus: „Die Nacht unterm Schnee“
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Isabel Allende: „Violeta“

Ein in der Weltgeschichte … Spiegel Belletristik-Bestseller (32/2022)

Familienchroniken werden in der Literatur oft beschrieben. Der Aufstieg und Fall, die Tragödien und Komödien miteinander verwandter Menschen bilden ein eigenes Universum, ein soziales System, eine Welt für sich. Die Familie fungiert in diesen Romanen wie eine Monade der Gesellschaft, fensterlos, ganz im Sinne von Gottlieb Wilhelm Leibniz, als fraktaler Teil des Ganzen, ein Ganzes für sich, das das Ganze spiegelt und repräsentiert. Es gibt viele Beispiele für diese Art von Roman, wie im letzten Jahr Jonathan Franzens Crossroads, in welchem eine Pfarrersfamilie durch dick und dünn mit- und gegeneinander geht, um sich selbst und anderen auf die Schliche zu kommen. Paradigmatisch für all diese Werke steht möglicherweise Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks – Verfall einer Familie. Isabel Allende hat mit ihrem neuesten Roman Violeta, aus dem Spanischen von Svenja Becker übersetzt, eine Art Inversion von Die Buddenbrooks vorgelegt. Der Roman beginnt und endet nicht mit dem Zerfall einer unternehmerischen Großfamilie im Chile der 1930er Jahre:

Zwei Tage nach dem Sturz der Regierung bekam Arsenio del Valle den Gnadenstoß, als man ihn anwies, das große Haus der Kamelien zu verlassen, in dem er und alle seine Kinder geboren worden waren. Man gab ihm eine Woche, um es zu räumen. Außerdem wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen Betrugs und Steuerhinterziehung, wie es sein Sohn José Antonio seit langem befürchtet hatte.
Niemand hörte den Schuss in unserem riesigen Haus mit seinen vielen Räumen, wo die Rohre rauschten, das trockene Holz knarzte, die Mäuse verborgen in den Wänden scharrten und die Bewohner ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Erst am nächsten Morgen fand ich meinen Vater, als ich in die Bibliothek ging, um ihm eine Tasse Kaffee zu bringen, wie ich es öfter tat, seit die Dienstmädchen entlassen worden waren.

Isabel Allende aus: „Violeta“
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Kalenderwoche 30/31. Lesebericht.

Ich habe viel Zeit auf die Recherche nach Rezensionen, Leseberichten und Sekundärtexten über Elfriede Jelineks Romane verwendet. Erstaunlicherweise nicht viel gefunden. Es gibt eine sehr hilfreiche Besprechung von Andrea Geier auf literaturkritik.de gefunden. Der üblicherweise herangezogene Band Realien zur Literatur von Marlies Janz in der Sammlung Metzler über Elfriede Jelinek beinhaltet nicht die Besprechung von Die Kinder der Toten, und Janz hat nur noch, scheinbar, einen sehr schwer zugänglichen Aufsatz über Jelineks letzten Roman geschrieben. So viel dazu.  Ich befürchte einfach, es gibt nicht viele, die dieses Buch gelesen habe, und das finde ich schade. Andrea Geier schreibt in ihrer Besprechung Lob mit Fußtritten anlässlich der Nobelpreisvergabe für Jelinek:

Zu reden wäre über zu vieles: Über das Projekt der „Entmythologisierung“ und eine Programmatik der „Seichtheit“, über Wiederholung und Intertextualität als Strukturprinzip, über Lust an der Übertreibung jenseits der Schmerzgrenze, über Trivialität und Alltagsmythen, Ironie, Parodie und die Lust am Kalauer, über Autorschaft, die mit der Gestik des Verschwindens spielt, über Sprachbeherrschung und Sprachüberflutung, vor allem aber über die Entwicklung einer Schriftstellerin, die sich eben nicht nur mit der Welt, sondern zuallererst mit anderen Texten aus vielfältigen Bereichen und mit dem Schreiben auseinander setzt und dabei stets die formalen Möglichkeiten von Genres und Gattungen ausreizt und sprengt.

Andrea Geier: „Lob mit Fußtritten“
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Toril Brekke: „Ein rostiger Klang von Freiheit“

Von offenen Türen und anderen Hindernissen.

Coming-of-Age-Romane spielen oft mit Genre-übergreifenden Stilmitteln, um den Fokus nicht allein auf Familien- und Liebeskonflikte zu reduzieren. Fernanda Melchor bezieht in Paradais Gewaltexzesse mit ein, Ariane Koch in Die Aufdrängung phantastische Parabelelemente und Claudia Durastanti in Die Fremde kulturphilosophische Erwägungen, um nur einige im letzten Jahr erschienen Beispiele dieser Art zu nennen. All diese Romane beschreiben das Aufwachsen, Erwachsenwerden ihrer Figuren, so auch in Toril Brekkes Coming-of-Age Roman Ein rostiger Klang von Freiheit, der von Agathe und ihrem Bruder Morten und ihren familiären Verhältnisse handelt, dessen Hauptaugenmerk aber wie in Stephen Kings Später im Grunde auf dem Unheimlichen, dem Nahen und doch so Fremden liegt:

Mama drehte sich in langsamen Bewegungen, und ihr Gesicht ist einschmeichelnd kokett, während sie zu dem leisen Jazz auf dem Plattenspieler summt, und das Summen wird zu Worten, und sie zeigt auf ihn, den Kindsvater, den Verführer, sie zeigt auf einen Mann im Zimmer, während ihre dünnen Silberarmreifen klirren, und sie spricht es aus: Er war das!
Und aus dem tiefen Sessel mit dem gelbweißgestreiften Bezug ertönt ein seltsames Röcheln, etwas Dunkles aus einer Kehle, wie von einem Tier, einem weidwunden Tier, vielleicht von einer Kugel getroffen oder mit einem spitzen Messer an der Kehle verletzt, ein Röcheln des Todes.

Toril Brekke aus: „Ein rostiger Klang von Freiheit“
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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (ii: Form)

Sprache gegen den Strich gelesen …

Im ersten Teil der Lesebesprechung von Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten habe ich versucht, den Plot zu rekonstruieren mit dem Ergebnis, dass der Roman hauptsächlich von drei Figuren handelt, die untot durch ein steirisches Wildalpendorf geistern: die Studentin Gudrun Bichler, die sich wegen universitären Leistungsdrucks in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat; die pensionierte Sekretärin Karin Frenzel und der Ex-Leistungssportler Edgar Gstranz, die beide bei einem Autounfall ums Leben kommen. Diese sehr grobe Rahmenhandlung wird von einer ganzseitig gedruckten Schriftrolle, einer Mesusa, eingeleitet, auf der in Hebräisch steht:

Die Geister der Toten, die solang verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder begrüßen.

Elfriede Jelinek aus: „Die Kinder der Toten“
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