Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse (1/5): Einer Erfahrung ein historisches Bild zu verleihen und jenes aus dem Fluss der Zeit herauszubrechen, gehört zu den erstaunlichsten Wirkungsweisen eines Romans. Die Verwandlung von Kontinuität in Diskontinuität erlaubt es, rückläufig wieder anzuschließen und Kommunikationspotentiale zu erschließen, die sonst anderweitig vor sich hinschlummern müssten, ohne ihren Erfahrungsgehalt entfalten zu können. Katerina Poladjan hat den 80ern Jahren der kurz vor ihrem Ende stehenden Sowjetunion ein Kleinod entrissen und in „Zukunftsmusik“ zu einer Allegorie auf Veränderung verwandelt. Der Roman glänzt und schimmert und funkelt.
„Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik““ weiterlesenAlois Hotschnig: „Der Silberfuchs meiner Mutter“
Kriege ziehen viel mehr in Mitleidenschaft als nur die oberflächlichen Zerstörungen und Verwüstungen und Verletzungen. Sie erschüttern Vertrauen, zwischenmenschliche Verhältnisse bis in die letzten Fasern und Fibern des Seins hinein. Untersucht Stefanie vor Schulte in „Junge mit schwarzem Hahn“ die unmenschlichen Gewaltverhältnisse während des Dreißigjährigen Krieges, so analysiert Susanne Abel in „Stay away from Gretchen“ die Problematik der während der Besatzung durch die Alliierten gezeugten Kinder im Nachkriegsdeutschland und Edgar Selge in „Hast du uns endlich gefunden“ die Wirkungen und Zerrüttungen des Krieges auf die familiären Verhältnisse, auf die Beziehung eines Sohnes zu seinem gewalttätigen Vater. Alois Hotschnigs Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ eröffnet hier eine weitere Perspektive auf die Schrecken des Krieges und entwickelt diese entlang der Beziehung einer Mutter zu ihrem gewollt/ungewollten Sohn.
„Alois Hotschnig: „Der Silberfuchs meiner Mutter““ weiterlesenAyn Rand: „Atlas Shrugged“ (iii: die Logik)
Nach der literaturhistorischen Einordnung im ersten Teil (i: das Genre), der Rekonstruktion des Plots als zweiten (ii: der Plot), nun die Erzähl- und Argumentationslogik von Ayn Rands Hauptwerk „Atlas Shrugged“ zum Abschluss (iii: die Logik). Rand betrachtete den Roman und insbesondere die Rede von John Galt im Kapitel „Hier spricht John Galt“ als die Grundlegung ihrer Philosophie des Objektivismus. In vielen Reden, Aufsätzen, in Interviews und Stellungnahmen verweist sie auf diese Rede als die ausführliche Darlegung all dessen, was sie in Bezug auf Philosophie in die Waagschale zu werfen hat. Es nimmt insofern kein Wunder, dass die Rede, die über 5% der Textmasse des Romans ausmacht, völlig aus dem Rahmen und unangemessen lang ausfällt. Sie beginnt mit den folgenden Worten:
„Ayn Rand: „Atlas Shrugged“ (iii: die Logik)“ weiterlesenAyn Rand: „Atlas Shrugged“ (ii: der Plot)
Die Widersprüchlichkeit von Ayn Rands „Atlas Shrugged“ lässt sich bereits in der literarischen Anlage, also im Genre des Romans lokalisieren. Im ersten Teil der dreiteiligen Besprechung dieses überbordenden Wälzers wurden die Parallelen zu den klassischen Vertretern des sozialistischen Realismus herausgearbeitet. Dies verwundert sehr, zieht man in Betracht, dass „Atlas Shrugged“ eine dezidiert anti-sozialistische Pose einnimmt. Im zweiten Teil werden nun die Widersprüche in der Handlung untersucht, die ebenfalls überraschend klar das literarische Unternehmen von Ayn Rand ad absurdum führen, freie, rationale, selbstbewusste Figuren einzuführen, um deren Überlegenheit darzustellen. Der Roman beginnt mit Eddie Willers, der sich an seine Kindheit erinnert, an die Eiche auf dem Landsitz der Familie Taggart:
„Ayn Rand: „Atlas Shrugged“ (ii: der Plot)“ weiterlesenAyn Rand: “Atlas Shrugged” (i: das Genre)
Mit „Der freie Mensch“ liegt Ayn Rands Roman „Atlas Shrugged“ in einer neuen, dem Verlag nach, zeitgemäßen Übersetzung von Michael und Thomas Görden vor. Er ist ihr literarisches Hauptwerk, erschien 1957, und ist bis heute das enfant terrible der Literaturkritik geblieben. Zu erfolgreich, um ignoriert zu werden. Zu eigensinnig, um sich gefällig auf eine der vielen Seiten zu schlagen. Zu kitschig für den vermeintlich gehobenen Anspruch und viel zu lang für den Gelegenheitsleser. Und doch: Der Roman ist bis heute über allen Maßen erfolgreich mit Auflagen in Millionenhöhe und gehört zu den meistgelesenen und einflussreichsten Romanen der US-Literatur. Es ist nicht einfach ein Buch. Es ist das Zeugnis einer in sich zerstrittenen, janusköpfigen Welt und das Buch des US-amerikanischen Traums schlechthin:
„Ayn Rand: “Atlas Shrugged” (i: das Genre)“ weiterlesenYasmina Reza: „Serge”
Wie ein Treppenwitz der Literatur erscheint dreizehn Tage nach der Veröffentlichung von Michel Houellebecqs „Vernichten“ der Roman „Serge“ von Yasmina Reza als direkte, indirekte, aber in jedem Falle eng bezogene, wahrscheinlich aber unfreiwillige Antwort auf Houellebecqs semi-aktuelle Gegenwartsanalyse. Beide Romane behandeln ein in sich konfligiertes Familiengeflecht im heutigen Frankreich: Generationen, die sich nicht verstehen, die sich aber um Verständnis bemühen, denen aber die Sprache, die Kommunikationsmodi abhandengekommen sind. Protagonist in beiden Romanen ist ein Mann jenseits der Vierzig. In „Serge“ heißt er Jean, besucht das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, ist von Beruf Experte für Materialleitfähigkeit und kümmert sich gern um Luc, den Sohn seiner Ex-Freundin Marion:
„Yasmina Reza: „Serge”“ weiterlesenJohn von Neumann: „Der Mathematiker“
Der Gedanke, dass die Mathematik zu den Sprachen zählt, wird schnell gesagt, aber selten in seinen Konsequenzen beleuchtet. Ihn beiseite gewischt, erscheint sie als starre Architektur in sich geschlossener Schlussformen, die entscheidbare Aussagen generiert. Dabei ähneln sich Literatur und Mathematik mehr als viele vielleicht meinen. Es gibt sogar innerhalb der Mathematik jene, die die Meinung vertreten, dass zwischen dem l’art pour l’art eines Gedichtes und den logischen Annahmen einer mathematischen Beweisführung wie diejenige, die Paul Cohen verwendete, um die Kontinuumshypothese zu beweisen, kein Unterschied besteht. John von Neumann gehört zu diesen.
„John von Neumann: „Der Mathematiker““ weiterlesen