Jon Fosse: „ Der andere Name“

Trauerarbeit … Literaturnobelpreis von 2023.

Der andere Name vom Literaturnobelpreisträger 2023 Jon Fosse thematisiert eindringlich die Themen Verlust, Tod, Glaube und Hoffnung. Die monolithische Textgestalt erinnert an Hermann Brochs Der Tod des Vergil und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, jedoch mit der Leichtigkeit eines Samuel Becketts aus Der Namenlose versehen. Wo Bernhard und Broch gegen die Verzweiflung anschreiben, sich in seitenlangen Sätzen gegen das Nichts erwehren, gibt sich Fosse in an Meister Eckhards Mystizismus angelehnter Schicksalsgläubigkeit dem Verschwinden anheim und hofft auf ein Leuchten im Dunkeln:

[…] alles ist aufgeräumt, alles ist an seinem Platz und er liegt nur da und zittert und denkt gar nichts, er zittert nur, und dann denkt er wieder, dass er aufstehen und losgehen soll, und dann wird er die Tür hinter sich absperren und dann rausgehen und er wird zum Meer hinuntergehen und ins Wasser gehen, immer weiter ins Wasser gehen, bis die Wellen über ihm zusammenschlagen und er im Wasser verschwindet, wieder und wieder denkt er das, sonst gibt es nichts, sonst ist da die Dunkelheit des Nichts, die ihn dann und wann, in plötzlichem Aufblitzen, wie ein Leuchten durchfährt, und ja, ja dann wird er von einer Art Glück erfüllt und er denkt, irgendwo gibt es wohl ein leeres Nichts, ein leeres Licht […]

Jon Fosse aus: „Der andere Name“
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Teresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“

Gesprächsabbruch unter fragwürdigen Bedingungen … Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2023.

Schreiben, um sich Luft zu machen, besitzt Tradition. Ein solches Schreiben nähert sich dem Genre des Pamphlets. Es wird geschimpft wie ein Rohrspatz. Es wird angegriffen. Es wird klar gestellt. Die Linie lässt sich von antiken Klassikern wie Ciceros Zweiter Philippischer Rede über Émile Zolas J’Accuse…! bis ins 20. Jahrhundert zu Valerie Solanas SCUMM Manifest und in die Gegenwart mit Virginie Despentes Liebes Arschloch ziehen. Teresa Präauer legt mit Kochen im falschen Jahrhundert eine ebensolche Polemik vor:

Seit ein paar Jahren war die Gastgeberin mit ihrem Partner zusammen, der wiederum mit seinem Smartphone zusammen war. Der Schweizer hatte eine Freundin, konnte aber auch gut alleine sein. Er könne Mixgetränke überhaupt nicht leiden, wiederholte dieser, den Crémant aus dem Elsass würdigend, und hob sein Glas. Santé!

Teresa Präauer aus: „Kochen im falschen Jahrhundert“
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Deutscher Buchpreis 2023: Mein Fazit.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lobt jedes Jahr zu Beginn der Frankfurter Buchmesse, dieses Jahr am 16. Oktober, den Buchpreis ‚Roman des Jahres‘ aus, um über die Ländergrenze hinaus Aufmerksamkeit für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu schaffen. Dieses Jahr standen auf der Shortlist die folgenden sechs Bücher, für die ich jeweils ein Zitat herausgesucht habe:

«Aber was ich noch sagen wollte: Wenn jetzt so viele Tiere sterben, kleine Tiere vor allem, also Insekten und Amphibien und Fische und kleines Meeresgetier, dann…», die Kamera suchte ihn, er blickte leer vor sich hin, «… dann verschwindet so das Gewirr, das Gewirk, das, das Dickicht, ja? Die Substanz, das Gewebe, also, dann fällt alles auseinander.» [Donato] schluckte und blickte in die Runde. «Alles auseinander.»

Ulrike Sterblich aus: „Drifter“
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Ulrike Sterblich: „Drifter“

Ein verhexter Text und versinnlichter Sinn … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Drifter von Ulrike Sterblich überlässt sich narrativ und nicht formal dem surrealistischen Konstruktiv-Verwirrung-Stiften. Statt mit Wort- und Satzdestruktionen aufzuwarten, kompositorisch beinahe unlesbare Texte wie Carl Einstein in Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders zu fabrizieren, synästhetische Lyrismen und unzuverlässige Erzähler wie André Breton einzuführen, die weder im Ort noch im Raum zu lokalisieren sind, verbleibt Ulrike Sterblich gänzlich im erzählerischen Medium. Sie erzählt, um das Publikum zum Staunen zu bringen, und wiederbelebt Michail Bulgakows Der Meister und Margarita für das 21. Jahrhundert:

Und dann, in der S-Bahn, sah ich sie also. Schwer zu sagen, was mir zuerst auffiel: der absurd riesige Zottelhund mit dem glitzernden Halsband, der zu ihren Füßen saß, ihr langes goldenes Kleid oder das Buch, in dem sie eher nachlässig herumblätterte, als darin zu lesen. Entscheidend war das Gesamtensemble, mit Kleid und Hund als Hingucker, ohne die ich auf das Buch vielleicht gar nicht geachtet hätte.

Ulrike Sterblich aus: „Drifter“
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Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Impromptu-Erzählen …  … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Echtzeitalter von Tonio Schachinger gehört in die Kategorie des Jugendromans. Die Figuren gehen noch zur Schule. Sie arbeiten sich an Lehrern ab. Sie versuchen sich zu orientieren und geraten hierbei oft in die hilflosesten Formen der Verwirrungen. Echtzeitalter referenziert trotz seines modern klingenden Titels Romane wie Robert Musils Die Verwirrungen des Zögling Törleß und Robert Walsers Basta, einer Kurzerzählung aus Der Spaziergang und kleine Prosa. Die Stelle, die Schachinger in Echtzeitalter von Robert Walser zitiert, lautet:

Bei der Deutschmatura, wo Till damit rechnet, dem Dolinar zum letzten Showdown zu begegnen, hat irgendein anderer Lehrer Aufsicht. Es stehen drei Themen zur Auswahl: ein Kommentar zu den Grenzen des Tourismus, die Analyse einer Kolumne zum Thema Zeitverschwendung und eine Textanalyse zu Robert Walser. Sie haben dreihundert Minuten Zeit. Till hat noch nie von Robert Walser gehört. Er liest den ersten Satz: »Ich kam dann und dann zur Welt, wurde dort und dort erzogen, ging ordentlich zur Schule, bin das und das und heiße so oder so und denke nicht viel.«

Tonio Schachinger aus: „Echtzeitalter“
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Necati Öziri: „Vatermal“

Ein abgeschriebenes Selbst … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Der Schelmenroman als Erzählform entzieht sich im Grunde völlig der Kommunikation. Das, was geschrieben steht, soll schillern, soll irritieren, soll persiflieren, in jedem Falle aber Verwirrung stiften. Ob’s konstruktive sein muss, bleibt dahingestellt. Mit dem Aufstieg des Bildungsromans im 19. Jahrhundert verlor der Schelmenroman à la Der abenteuerliche Simplicissimus (1669) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seine Bedeutung, die er jedoch zur Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wiederfand. Werke wie Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) oder Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (1953) oder Günther Grass’ Die Blechtrommel (1956) trugen zu seiner Rehabilitation maßgeblich bei. Momentan befindet er sich wiederum stark im Trend. Zu den gegenwärtigen Formen gehören Romane wie Jan Faktors Trottel (Shortlist deutscher Buchpreis 2022), Tomer Gardis Eine runde Sache (Leipziger Buchpreis 2022) oder nun Necati Öziris Vatermal (Shortlist deutscher Buchpreis 2023):

Fast so schwierig, wie »Papa« zu sagen, ist es für mich hier, »ich« zu sagen. »Papa« klingt ausgesprochen falsch, »ich« löst schon vorher ein Stocken, einen Muskelkrampf in der Zunge aus. Ich werde es trotzdem tun. Auch wenn dieses »ich« immer ein anderer war. Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.

Necati Öziri aus: „Vatermal“
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Terézia Mora: „Muna“

Glasglocke einer toxischen Beziehungen … … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Muna von Terézia Mora beschreibt eine toxische Beziehung, die im Sommer 1989, kurz vor dem Fall der Mauer, zwischen Muna und Magnus ihren Anfang nimmt. Ihr Roman steht in direkter Verbindung zu Jenny Erpenbecks Kairos, das ein wenig früher beginnt, aber eine ähnliche Beziehungsdynamik zum Inhalt hat, nämlich einen Mann, der seine Partnerin misshandelt, ohne dass sich diese sofort von ihm trennt. Hier lassen sich viele Romane in der Gegenwartsliteratur anführen: Leïla Slimani mit Das Land der Anderen, Claudia Schumacher und Liebe ist gewaltig, oder, allen voran E.L. James mit ihrer Fifty Shades of Grey-Reihe. Moras Protagonistin und Ich-Erzählerin heißt Muna, und sie hat sehr viel Verständnis für die gewalttätige Art, mit der Magnus ihr begegnet:

Ich gebe zu, dass ich anfing, wie am Spieß zu schreien. Wenn jemand das mit mir gemacht hätte, hätte ich denjenigen wahrscheinlich auch von meiner Schwelle gestoßen und die Tür vor ihm zugeknallt. Und hätte derjenige nicht genug Körperkontrolle gehabt und wäre hingefallen und hätte dann auf dem Boden sitzend, schäumend gegen die Tür getreten, hätte ich dann auch die Tür aufgemacht und hätte demjenigen mit einem Gürtel eins übergebraten, damit er durch den Schock wenigstens für einen Augenblick mit der Toberei aufhört und hört, wenn ich ihm ins Gesicht zische, dass ich ihn, wenn er sich nicht benehme, so was von auf die Straße setzen werde, dort, in der Gosse, könne er diesen Zirkus meinetwegen veranstalten, aber nicht hier!

Terézia Mora aus: „Muna“
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