J. M. Coetzee: „Der Pole“

Der Pole
Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus … SWR 2 Bestenliste Juli/August.

J. M. Coetzee hat mit 83 Jahren einen neuen Roman herausgebracht. Sein Titel lautet Der Pole. Es ist ein leises, stilles Buch, kurz und knapp. Es geht in ihm um Liebe und Tod und um eine ganz und gar säkulare Form der Erlösung. Hauptfigur des Romanes ist jedoch nicht der Pole. Es ist Beatriz, eine resolute spanische Hausfrau, die unverhofft und zu ihrem anfänglichen Leidwesen Muse und Objekt des Begehrens eines polnischen Pianisten wird:

Der Pole schrieb die Gedichte, um ihr zu sagen, dass er sie weiter geliebt hat, lange nach ihrer gemeinsamen Zeit auf Mallorca. Doch er hätte dasselbe mit einem schlichten Brief per Mail erreichen können […] weshalb also Gedichte? Warum so viele? […] Die Antwort: weil er, durch seine Gedichte, danach trachtet, von jenseits des Grabes zu ihr zu sprechen. Er möchte zu ihr sprechen, um sie werben, damit sie ihn liebt und sich in ihrem Herzen lebendig hält.

J.M. Coetzee aus: “Der Pole”
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Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“

Spiegel Belletristik-Bestseller 1963/64 … Literaturnobelpreis 1972

Nicht jeder Künstler ist ein Aussteiger, und nicht jeder Aussteiger ein Künstler. In der Literatur wimmelt es von vielen exzentrischen Figuren. Angefangen mit Don Quijote, mit dessen Lebensbeschreibung im gleichnamigen Buch Miguel de Cervantes den modernen Roman aus der Taufe hob, bricht die Reihe der Exoten bis in die Gegenwartsliteratur nicht ab. Heinrich Bölls Hans Schnier aus Ansichten eines Clowns, erschienen 1963, steht in dieser Tradition. Er ist Clown von Beruf und ringt mit seinem sozialen, kulturellen, politischen Umfeld der frühen Nachkriegsjahre der Bundesrepublik Deutschlands:

Ich nahm plötzlich meine Mark aus der Tasche, warf sie auf die Straße und bereute es im gleichen Augenblick, ich blickte ihr nach, sah sie nicht, glaubte aber zu hören, wie sie auf das Dach der vorüberfahrenden Straßenbahn fiel. Ich nahm das Butterbrot vom Tisch, aß es, während ich auf die Straße blickte. Es war fast acht, ich war schon fast zwei Stunden in Bonn, hatte schon mit sechs sogenannten Freunden telefoniert, mit meiner Mutter und meinem Vater gesprochen und besaß nicht eine Mark mehr, sondern eine weniger, als ich bei der Ankunft gehabt hatte. Ich wäre gern runtergegangen, um die Mark wieder von der Straße aufzulesen, aber es ging schon auf halb neun, Leo konnte jeden Augenblick anrufen oder kommen.

Heinrich Böll aus: “Ansichten eines Clowns”
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Halldór Laxness: „Am Gletscher“

Unaufgeregtheit als Passion … Nobelpreis für Literatur 1955

Ewiges Eis heißen die Gebiete, wo trotz Jahreszeitenwechsel das Eis nie schmilzt. Das Polargebiet kommt einem in den Sinn, aber auch die schneeverwehten Gipfel, Grate und Kämme großer Gebirge. Der Schnee vergeht dort nicht. Das Eis bleibt, und die Gipfel erstrahlen im hellen Weiß. Nicht nur Bergspitzen, auch Gletscher trotzen der Sonne und dem Sommer und legen Zeugnis ab von längst vergangenen Zeiten. Sie halten stand und geben ihr Geheimnis nicht preis. Sie dauern auf anderen Zeitskalen. Halldór Laxness‘ Roman Am Gletscher gleicht einem solchen und zwar in mehrerer Hinsicht:

Es war einer jener Tage im Mai, wunderschön gegen Abend, an denen das Glück des Lebens einem sterblichen Menschen entgegenlächelt. An einem solchen Tag pflegten die Alten zu sagen: Vor seinem Lebensende ist niemand glücklich zu preisen. Der Gletscher, der Terrinendeckel der Welt, deckte die Geheimnisse der Erde zu. Er sah mir und der Frau still nach in der Gewißheit, wenn er sich nur um ein Quentchen rührte, bekäme er einen Riß, aus dem die Maus herausspringt.

Halldór Laxness aus: “Am Gletscher”
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Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Von einem Leben, das aufhörte zu leben … Spiegel Belletristik-Bestseller 43/2022.

Gespenster existieren auf unterschiedliche Arten und Weisen. Unabgeschlossene Prozesse, nicht verheilte Wunden und Schmerzen sind solche Möglichkeiten. Sie hallen nach. Das Echo einer unbewältigten Vergangenheit durchzieht die Gedanken, unterminiert das Gemüt, schillert und wabert durch die Sinnbildungen hindurch. Annie Ernaux schreibt in Das andere Mädchen von einem solchen Gespenst, das einer verstorbenen, von den Eltern verschwiegenen Schwester, und verdichtet und drängt eine Erinnerungsspur bis aufs äußerste und kürzeste wortkarg gedrängt:

Ich kann ihre Erzählung nicht Wort für Wort wiedergeben, nur den Inhalt und einige Sätze, die die Jahre bis heute überdauert haben, Sätze, die wie eine kalte, lautlose Flamme über mein Kinderleben hinwegfuhr, während ich weiter neben meiner Mutter herumsprang und mich drehte, mit gesenktem Kopf, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Annie Ernaux aus: “Das andere Mädchen”
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Annie Ernaux: „Das Ereignis“

Vom Ausgeliefertsein … Nobelpreis für Literatur 2022

Nach dem von vielen, aber vor allem von der Postmoderne und dort insbesondere von Jean-François Lyotard besungenen Ende der großen Erzählungen strebt in Theorie wie Literatur, in Philosophie wie in Romanen die Sprache statt Holizität nun Authentizität an. Nicht in großen, alles umfassenden Entwürfen, vielmehr in Splittern, Miniaturen, schiefwinkligen Einblicken werden Momentaufnahmen verfasst. Die Authentizität stellt sich dem Versuch, ungeminderte Realität wiederzugeben. Wüst, schmerzhaft, gebrochen, hoffnungsvoll beschwingt oder hoffnungslos resignativ heftet sich der Blick ans Unscheinbare, an die Lücke, um die sich das Wesentliche schließt:

Draußen war plötzlich alles unwirklich. Wir liefen nebeneinanderher, mitten auf der Straße, und näherten uns dem Ende der Passage Cardinet, wo die Mauer eines Hauses die Sicht versperrte und nur einen Streifen Licht einfallen ließ. Die Szene läuft langsam ab, es wird allmählich dunkel. Nichts aus meiner Kindheit, meinem bisherigen Leben hat mich hierhergeführt.

Annie Ernaux aus: “Das Ereignis”
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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (ii: Form)

Sprache gegen den Strich gelesen …

Im ersten Teil der Lesebesprechung von Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten habe ich versucht, den Plot zu rekonstruieren mit dem Ergebnis, dass der Roman hauptsächlich von drei Figuren handelt, die untot durch ein steirisches Wildalpendorf geistern: die Studentin Gudrun Bichler, die sich wegen universitären Leistungsdrucks in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat; die pensionierte Sekretärin Karin Frenzel und der Ex-Leistungssportler Edgar Gstranz, die beide bei einem Autounfall ums Leben kommen. Diese sehr grobe Rahmenhandlung wird von einer ganzseitig gedruckten Schriftrolle, einer Mesusa, eingeleitet, auf der in Hebräisch steht:

Die Geister der Toten, die solang verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder begrüßen.

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”
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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (i: Inhalt)

Im toten Winkel der Geschichte … Nobelpreis für Literatur 2004.

Alle Bücher bestehen aus einem Buchdeckel und bedruckten Seiten. Sie genügen alle der Linearität der Sprache und bauen Wort für Wort eine Kommunikationswelt auf. Die Zeitlichkeit stellt sich von alleine ein. Das so eben gelesene Wort verknüpft sich mit anderen, weit zurückliegenden Worten, taucht unversehens auf und erzeugt immer wieder einen ungeahnten Sinn an Ort und Stelle. Stets holt sich das Lesen selbst ein, im steten Werden und Vergehen, Vergessen und Erinnern, und in der Art und Weise, wie dieses geschieht, unterscheiden sich die Bücher voneinander, nämlich darin, wie sie Kommunikation anstreben. Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten gibt sich widerborstig. Die Kommunikation biegt sich auf sich selbst zurück. Bevor ich also die Lektüre ihres opus magnum Revue passieren lassen kann, hier ein Klärungsversuch darüber, was auf den 667 Seiten eigentlich beschrieben wird. Von einer Orientierung spendenden Erzählinstanz kann nämlich kaum die Rede sein:

Also nein, das Feuer denkt nicht einen Augenblick lang nach! Seine spielerisch an allem und jedem zupfende Flut leckt jetzt aus der geöffneten Tür, was einst Fleisch war, verschwindet, und Buchstaben kriechen auf mich zu. Das Haus aus Sprache ist mir leider zusammengekracht. Die Sprache ist ja auch gleichzeitig schwungvoll und produktiv wie verhüllend, ähnlich dem Feuer, das diesen Schädel ausgespien hat, den Frau Frenzel da herumträgt […]

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”
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Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“

Ein Roman, der keiner sein will … Spiegel Bestseller 14/2022

Der neue Roman von Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 2006, bewegt sich in einem vieldiskutierten und mehrdimensionalen Spannungsfeld: Er thematisiert wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum das Zusammenleben von Griechen und Türken auf den Inseln der Ägäis. Er geht den Tiefen und Untiefen einer Pandemie nach und gleicht in vielerlei Hinsicht Steffen Kopetzkys Monschau. Er untersucht außerdem die Liebe und die Probleme, die sich in der Fremde ergeben, wie Leïla Slimani in Das Land der Anderen. All dies und mehr, nämlich auch Reflexionen über Geschichtsschreibung als solche, verhandelt Die Nächte der Pest mit dem Nacherzählen der Ereignisse auf Minger im Jahre 1901, einer fiktiven Insel im Mittelmeer, die Pakize Sultan, Nichte des damals amtierenden Sultans des Osmanischen Reiches Abdülhamid II., und ihr Ehemann und Quarantänearzt Doktor Nuri besuchen:

Noch vor der Gründung von Arkaz sei vor der Bucht ein Schiff auf einen Felsen aufgelaufen, und die Menschen, die sich ans Ufer gerettet hätten, seien die Vorfahren der heutigen Mingerer gewesen. Die Insel habe ihnen sehr gefallen, mit ihren Felsen, Quellen, Wäldern und dem Meer, und sie hätten sie sich als neue Heimat auserkoren. Damals habe es in den Flüssen noch grüne Äschen und rot gepunktete Krebse gegeben, in den Wäldern seien farbene Störche und blaue Schwalben geflogen, die im Sommer nach Europa zogen.

Orhan Pamuk aus: „Die Nächte der Pest“
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Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Weder zu laut noch zu leise, eine Poesie des Zwischenraumes … Nobelpreis für Literatur 2020.

Der Gedichtband von Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“, Nobelpreisträgerin für Literatur aus dem Jahre 2020, erzählt von einer fernöstlichen Ding- und Sprachsanftheit. Die Gedichte werden im Zusammenhang mit dem „Tao-Tê-King“ von Laotse, mit Karl Kraus’ Text „Die Sprache“ und Bertolt Brechts „Svendborger Gedichte“ gelesen und besprochen. Weder schweigen noch schreien, sondern sagen und hören scheint die poetologische Devise von Glück zu sein.  

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Abdulrazak Gurnah: “Das verlorene Paradies”

An den Abgründen vorbeigeschrieben … Nobelpreis für Literatur 2021

Wer nach der Bekanntgabe des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers nach einem Buch von diesem gesucht hat, wird nur in Glücksfällen ein Exemplar ergattert haben. Abdulrazak Gurnahs Romane und Texte sind im deutschsprachigen Raum schon lange nicht mehr aufgelegt worden und waren zu diesem Zeitpunkt selbst antiquarisch eine Seltenheit. Mit „Das verlorene Paradies“ liegt nun eine Neuauflage der Übersetzung von Inge Leipold vor, die das erste Mal 1996 erschienen ist. Der Roman behandelt die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Tansania. Der Protagonist ist Yusuf, dessen Aufwachsen und Erwachsenwerden zwischen Gewalt, Einsamkeit, Verzweiflung und Sprachlosigkeit beschrieben werden. Das dominierende Problem lautet Geld, und um Geld geht es auch, als Yusuf am Anfang des Romans von seinen Eltern als Pfand einem Händler namens Aziz überlassen wird. Gleich zu Anfang des Romans wird also klar, dass die Umstände wenig Raum für Besinnlichkeit, Romantik und Sanftheit lassen.

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