Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Noch wach?
Sich entziehen auf popliterarisch … Spiegel Belletristik-Bestseller (18/2023)

Engagement und Literatur kommen nicht voneinander los. Literatur drängt zur Rede, wie die Rede zur Literatur. Sie suchen Wirkung und Genuss in einem, Bedeutung und Entfesselung der Sprache zugleich. Auf diese Weise will die Literatur, und hierzu gehört Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman Noch wach?, die Welle schlagen, auf der sie mitzuschwimmen gedenkt, gibt sich den Wallungen der Intensitäten aber nun mit reinstem Gewissen hin. Derlei Beispiele gibt es einige: Pablo Neruda und Wladimir Majakowski in der Lyrik, Virginie Despentes in Das Leben des Vernon Subutex oder Liebes Arschloch im Roman, oder, etwas selbstreferenzieller Thomas Bernhard in beispielsweise Holzfällen. Gemächlicher, aber nichtsdestotrotz bis in die letzten Sprachwinkel politisiert ist Der Butt von Günter Grass oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll, mit der er 1974 die Machenschaften des Sensationsjournalismus an den Pranger gestellt hat:

Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.

Heinrich Böll aus: “Die verlorene Ehre der Katharina Blum”

Benjamin von Stuckrad-Barre nimmt in seinem neuesten Roman Noch wach? direkt Bezug auf Heinrich Bölls Text. In diesem geht es jedoch weniger um den Journalismus und das Geschäft desselbigen als um das Ambiente, in welchem dieser gegenwärtig oder üblicherweise stattfindet:

Mein Freund beschrieb indessen mit leuchtenden Augen die Hölle: Nicht jeder wird hier ein Büro haben, einen festen Schreibtisch. Das findet sich dann immer neu, PROJEKTBEZOGEN. Das da drüben werden ja eben keine Räume im eigentlichen Sinne, sondern Halbinnen-, Halbaußen-Kammern.
Er liebe ja Streit, sagte er immer. Auseinandersetzung! Wettstreit der Ideen! Flache Hierarchien! Widerworte! Diskurs! Konsens killt Innovation, wir müssen streitbar bleiben, und wenn alles zu glatt läuft: selbst die Gegenposition einnehmen!

Benjamin von Stuckrad-Barre aus: “Noch wach?”
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Martin Suter: „Melody“

Lieber ein Ende mit Illusionen als gar keins … Spiegel Belletristik-Bestseller 16/2023

Wer die alten Jerry-Cotton-Romane kennt, weiß, wie beliebt diese waren und noch immer sind. Sie zeigen distinguierte Männer von Schrot und Korn, die Frauen in Notlagen retten, kein Abenteuer scheuen und keinen Drink ablehnen. Martin Suter schreibt in dieser Tradition. Sein letzter Roman Einer von euch fiel in der Feuilletonkritik durch. Es hieß, es sei „ein richtig schlechtes Buch“.

Melody findet günstigere Aufnahme. Gerhard Matzig (Süddeutsche Zeitung) sagt: „Mit zwei, drei Sätzen wird Tom lebendig, eine vielschichtige Figur, für die man sich interessiert. Suter erzählt glänzend. Ein paar wenige Striche reichen ihm. Weil die Striche sitzen. Es ist wie mit einem guten Krawattenknoten.“ Und Monika Willer (Westfalenpost) schreibt: „Martin Suter gilt als Meister einer eleganten Feder, die so fein geschliffen ist, dass man die Stiche oft erst hinterher spürt.“ Einhellig also die Meinung, die Tanja Kewes (Handelsblatt) wie folgt zusammenfasst: „Martin Suter ist eine der großen Figuren des Literaturbetriebs.“ Selbst- und Fremdinszenierung liegt dem Autor Martin Suter in der Tat:

Tom hatte Stotz gegoogelt. Er war einst eine wichtige Persönlichkeit gewesen. Nationalrat. Mitglied der liberalen Wirtschaftspartei, Königsmacher und Geldgeber. In der Wirtschaft spielte er eine große Rolle als Banken-, Versicherungen- und Maschinenindustrie-Verwaltungsrat. Daneben war er Kunstmäzen und langjähriges Mitglied des Verwaltungsrats der Oper und dessen Präsident während elf Jahren.

Martin Suter aus: “Melody”
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Esther Kinsky: „Rombo“

Dem Schrecken eine Stimme gegeben … Longlist des Deutschen Buchpreis 2022

Die Kategorie, unter der Esther Kinskys neuester Roman Rombo gemeinhin geführt wird, lautet „nature writing“, was auf einen beschreibend-wissenschaftlichen Stil hinweist, eine Art dokumentarischer Poesie. Als Pate für diesen Stil stehen Alexander von Humboldt, Jean-Jacques Rousseau oder Henry David Thoreau. Im Gegensatz zu diesen, die mehr theorie- und reflexionslastig schreiben und der Theorie im Allgemeinen und Besonderen zugeneigt sind, weist sich Kinskys Rombo im Gegensatz zu Die Träumereien des einsamen Spaziergängers oder Walden als echter Roman aus, mit Handlung, mit Dramaturgie, Personal und sprachlicher Komposition. Er behandelt das Erdbeben im norditalienischen Friaul am 6. Mai 1976:

Das Erdbeben ist überall. In den efeuüberwucherten Trümmern eingestürzter Häuser an der Staatsstraße Nummer 13, in den Rissen und Narben der großen Gebäude, den geborstenen Grabmälern, den Schiefheiten wiederaufgebauter Kathedralen, den leeren Gassen der bienenwabig verschachtelten alten Dörfer, den hässlichen neuen Häusern und Siedlungen, die sich am Sehnsuchtsort Vorstadt aus amerikanischen Fernsehserien orientieren.

Esther Kinsky aus: “Rombo”
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Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Vom Unbehagen im eigenen Selbst …

Maria Kjos Fonns neuester Roman Heroin Chic handelt von einem jungen Mädchen, das sich der Drogensucht bis zum Äußersten überlässt. Viele Romane behandeln dieses Thema, bspw. Candy von Luke Davies oder Trainspotting von Irvine Welsh. Das Unheimliche der Drogensucht zieht immer wieder literarische Versuche an, die dem Abwärtsstrudel kommunikativ beikommen wollen. Kjos Fonn geht einen sehr eigenen Weg. Karsten Herrmann von literaturkritik nennt ihn „ebenso packend wie erschütternd“. Sandra Falke von Literarische Abenteuer konstatiert eine kausallogische Berechenbarkeit des Plots, dem sie sich dennoch nicht zu entziehen vermochte: „Allerdings ist die Selbstzerstörung und die Abwendung von allen positiven Einflüssen so sachlich und beherrscht, dass die aus einer Ich-Perspektive erzählte Lebens- (und Sterbensgeschichte) als Lektüre ebenso einen Suchtfaktor annimmt.“ Selbiges empfindet Hauke Harder von leseschatz: „Die Sprache und die Handlungssprünge berauschen und dadurch wirkt der Roman selbst wie eine Gesellschafts-Droge.“ Der Roman Heroin Chic beginnt passenderweise mit der Beschreibung eines Treffens der Narcotics Anonymous:

Hallo, ich heiße Elise, und ich bin drogenabhängig, sage ich. Ich war erwachsen, als ich zum ersten Mal Heroin ausprobiert habe. Es gab niemanden, der meine Grenzen niedergerissen hat. Sie waren einfach nicht da. Nichts war da.

Maria Kjos Fonn aus: “Heroin Chic”
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Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Verwirrende Zeiten und Zeilen … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Nach Juli Zehs und Simon Urbans Zwischen Welten kommt nun ein ähnliches Projekt aus Frankreich auf den Literaturmarkt. Virginie Despentes Liebes Arschloch erscheint nachgerade als dunkles Spiegelbild von Zehs und Urbans Projekt. Hier wie dort schreiben sich eine Frau, ein Mann E-Mails miteinander. Im Plauderton konversieren sie über dieses und jenes. Bei Zeh/Urban hauptsächlich über die Tagespolitik, die Landwirtschaft und die Klimakatastrophe, bei Virginie Despentes über Drogen, das Kulturleben, MeToo und das Alt-Werden. Die Tagespolitik selbst findet auch irgendwie Erwähnung, aber nur nebenher:

Die Lockdowns haben mir geholfen durchzuhalten. Dieses Virus hat alles auf dem Planeten versaut – und uns, uns hat es geholfen. Ich konnte mich an das alles gewöhnen. Ohne obligatorisches Abendessen in der Stadt, der Alkohol fließt in Strömen, die Leute reden immer lauter, man füllt die Gläser mit Rotem oder goldenen Bläschen, die Leute lachen wegen nichts, begeistern sich am Gespräch, sind eifrig, die Party ist auf dem Höhepunkt, in einer Ecke riecht es nach Gras, das kleine Nachmittagsbierchen, Korken knallen an die Decke, aufgeregtes Geplapper nach der Premiere, man stößt an, die Gläser klingen […]

Virginie Despentes aus: “Liebes Arschloch”
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Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

… von der Verklärung des eigenen Selbst

1906 erschien das Debüt von Robert Musil, als dieser sich noch als Volontärassistent an der Technischen Hochschule Stuttgart verdingte und alsbald zum Studium der Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik in Berlin einschrieb. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß blieb Musils einzig vollendeter Roman, da von Der Mann ohne Eigenschaften, sein zweiter Roman, 1930 nur der erste Teil erschien und Musil diesen vor seinem Tod 1942 nicht zu vollenden vermochte. Das steht im Zusammenhang mit seinem literarischen Ansatz der psychologischen Mikroskopierung, die schnell ins Ausufernde gerät. In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß jedoch konzentrierte er seinen Stil bis aufs Äußerste:

Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand. Aber sooft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müsste, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen. Und endlich ließ er nach. Es schloss sich eng um ihn, und die Erinnerungen wuchsen in unnatürlicher Verzerrung.

Robert Musil aus: “Die Verwirrungen des Zöglings Törleß”
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Noemi Somalvico: „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ [Das Debüt 2022]

Farm der Tiere, nur friedlich … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022”

Sprechende Tiere tauchen gar nicht so selten in der Literatur auf, bspw. die sprechenden Hunde in Franz Werfels Stern der Ungeborenen oder in Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie oder als neuere Variante Bekenntnis des Affen von Shinagawa aus Haruki Murakamis Erste Person Singular. Als Träger der Haupthandlung, als Haupfiguren also, tauchen sie seltener auf. Allen voran wären da zu nennen: George Orwells Die Farm der Tiere, und Jack Londons Ruf der Wildnis oder Unten am Fluß von Richard Adams. Im Gegensatz zu den genannten Versionen existieren in Noemi Somalvicos Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gar keine Menschen, nur Tiere und Götter:

Nacht ist nicht geworden. Deshalb gibt’s auch keinen Tagesanbruch, keine Morgenröte, keinen ersten Sonnenstrahl, der auf den Sand fällt, sodass dieser zu sirren beginnt. Wären da nicht die kleinen Insekten, die herumschwirren, man könnte meinen, bei dieser Landschaft handle es sich um ein begehbares Foto. […] Gott trottet im Abstand von etwa hundert Metern hinterher. Es ist keine Kunst, der Route von Dachs und Schwein zu folgen. Mit dem Koffer, den es wie einen Schlitten hinter sich herzieht, gräbt Schwein eine fette Linie in den Sand.

Noemi Somalvico aus: “Ist hier das Jenseits, fragt Schwein”
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Dörte Hansen: „Zur See“

Von der See und anderen Finstbarkeiten … Spiegel-Belletristik Bestseller (49/2022)

Erzählt Marie Te Navarro von einer abenteuerlustigen Schiffskapitänin in Über die See und führt Heinz Strunk in Ein Sommer in Niendorf seinen Protagonisten an die Nordseeküste, um dort wieder zu einem gewissen, wenn auch trunksüchtigen Lebensglück zu finden, entscheidet sich Dörte Hansen in ihrem neuesten Roman Zur See für ein Weder-Noch, weder Festland noch hohe See. Ihr Roman handelt von der Familie Sander, die auf einer Nordseeinsel lebt:

Auf allen Inseln gibt es einen, der die Sagen kennt, die alten und die neuen Mythen, all die wahren, halbwegs wahren, frei erfundenen Geschichten über diese See, die Menschen, ihre Schiffe, ihre Angst. Er muss sie weitersagen, ob er möchte oder nicht, denn die Geschichten suchen den Erzähler aus, nicht umgekehrt. Auf dieser Insel ist es Ryckmer Sander, der die Sagen kennt.

Dörte Hansen aus: “Zur See”
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Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Das Prinzip Versteckte Kamera … Georg-Büchner-Preis 2021.

Romanen Voyeurismus vorzuwerfen, mag absurd erscheinen. Es handelt sich schließlich um Texte über Figuren, ausgestaltet im sprachlichen Medium einer auf die Figuren hin zugeschnittenen Narration. Romane wie Madame Bovary von Gustave Flaubert oder Mit doppelter Zunge von William Golding glänzen zwar mit Details, mit dem Bericht von Intimitäten; oder, um Beispiele aus der Gegenwartsliteratur zu nehmen, Ralf Rothmann in Die Nacht unterm Schnee oder Michel Houellebecqs Vernichten gehen zwar unter die Gürtellinie, aber gleichsam nie zu weit. Den Figuren wird ein erzählerischer Spielraum gewährt. Die Beobachtung rückt ihnen auf den Pelz, aber nie zu nah. Andere Romane wie Maxim Biller Der falsche Gruß oder Constantin Schreiber Die Kandidatin führen ihre Hauptfiguren vor, wodurch der Eindruck von Voyeurismus entstehen kann. Clemens J. Setz gerät mit Die Stunde zwischen Frau und Gitarre in ähnliches Fahrwasser:

Am Abend stand Natalie nackt vor einem Spiegel. Sie hatte ihn dazu extra aus dem Schrank geholt (normalerweise mochte sie keine menschengroßen Spiegel, hatte ihn aber trotzdem nicht in der alten Wohnung zurücklassen können, weil sie dauernd daran denken musste, wie der Spiegel traurig und blind wurde). Da war er, ihr hässlicher unweiblicher Körper. Mein Gott, die Kritik dieses Idioten hat dich wirklich getroffen. Nutzloses Vieh, dachte sie. Das Gesicht im Spiegel sah kindlich beleidigt aus.

Clemens J. Setz aus: “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”
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Friedrich Hölderlin: „Hyperion“

Das Eine und Alles … poetisch die Unterschiede überbrücken.

Die Entstehungsgeschichte von Friedrich Hölderlins einzigem Roman Hyperion liest sich selbst wie ein Liebes- und Reiseroman. Geplant wurde der Roman von dem gerade zweiundzwanzig gewordenen Stiftstipendiaten ab Mai 1792. Eine Tübinger Fassung entstand um 1793, und einige Versionen und Umzüge, Komplettentwürfe und Fluchten von Tübingen nach Frankfurt später erschien 1794 ein Fragment von dem Roman in Friedrich Schillers Zeitschrift Neue Thalia. Auf dessen Anraten wurde nach Verwerfung der metrischen Fassung und der Jugendgeschichte der erste Band von zwei Bänden schließlich im Verlag Cotta 1797 veröffentlicht, aber nur nach vielen Kürzungen und Streichungen, und nach weiterem Herzschmerz, Reisen nach Jena, einer weiteren Flucht nach Nürtingen, Verwerfungen mit Freunden ging der zweite Band im selben Verlag 1799 in den Druck. Einen Romanentwurf oder ein Manuskript letzter Hand gibt es jedenfalls nicht. Wie das ganze Leben von Hölderlin, so blieb auch sein Roman in sich zerstritten und insbesondere der zweite Teil des zweiten Bandes ein Torso:

O Gott! und daß ich selbst nichts bin, und der gemeinste Handarbeiter sagen kann, er habe mehr getan, denn ich! daß sie sich trösten dürfen, die Geistesarmen, und lächeln und Träumer mich schelten, weil meine Taten mir nicht reiften, weil meine Arme nicht frei sind, weil meine Zeit dem wütenden Prokrustes gleicht, der Männer, die er fing, in eine Kinderwiege warf, und daß sie paßten in das kleine Bett, die Glieder ihnen abhieb.

Friedrich Hölderlin aus: “Hyperion”
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