Juli Zeh: „Über Menschen“

Hass mit menschlichem Antliz? … (Spiegel Belletristik Bestseller 12/2021)

Mit „Über Menschen“ legt Juli Zeh einen Roman über die Corona-Zeit vor. Eng am Puls der Zeit zu schreiben, ist ihr selbsterklärtes Ziel, und daher nimmt es nicht Wunder, dass sie über Toilettenpapier, über Maskenzwang, home office, die AFD, Black Lives Matter, über die finanziellen Schwierigkeiten der Kreativbranche und deren Einstufung als nicht systemrelevant schreibt. Zum Roman wird der Text, der eigentlich eine Glosse sein möchte, durch die Einführung der Figur Dora, einer Werbetexterin, die das lose Miteinander des ungleichzeitig Gleichzeitigen verknüpft.

Dora lebt in einer zerrütteten Beziehung mit einem Umweltaktivisten, der wegen der Überbevölkerung persönlichen Nachwuchs ablehnt, die Apokalypse beschwört und auf diese Weise die Werbeeinnahmen der Webzeitschrift, für die er schreibt, ankurbelt. Sie zieht aus Berlin weg nach Bracke in Brandenburg, wo sie sich ein kleines, bruchreifes Haus gekauft hat und von ihrem Nachbarn Gote mit den Worten begrüßt wird, er sei der hiesige Dorfnazi. Es beginnt eine Reise der Annäherung, des Kommunizierens, der Eingewöhnung, in der Dora aus ihrem abstrakten Konsumreich und Diskurshimmel wieder zurück auf die Erde verpflanzt wird, an der Seite eines Wölfe schnitzenden, trinkenden, Ausländer beleidigenden, aber doch allzu realen, da gewalttätigen Neo-Nazis. Sprachlich glatt und journalistisch makellos fließen die Sätze bei Zeh nur ineinander, verweben kunstfertig Naturbeschreibungen mit Politischem, Gartenarbeit mit Psychologie, genaue Charakterisierungen mit naturalistischen Szenarien. Dramaturgisch bis in die letzten Zeilen hinein komponiert und souverän verfügt, liest sich alles einfach und schnell, zügig und sinnvoll.

„Strommasten, Windräder, die flachen Hallen stillgelegter Agrarbetriebe. Dann Spargelfelder, schier endlos. Streng parallel angelegte Wälle, von spiegelnder Folie bedeckt. Ein kubistisches Wellenmeer. Ein paar Häuser, ein Stück Wald. Zwischen den Ästen ein Eichelhäher. Dora sieht ihre Mutter, das breite Lachen, das blonde Haar.“

Juli Zeh

Kubistisch, pointillistisch, in schnellen nachgestellten Phraseologien verändert Zeh Erzählgeschwindigkeit und -pose, Beobachtungshöhe und Tiefenschärfe. Bald erinnert man sich an Franz Beckenbauer und sein eigenes persönliches Sommermärchen 2006:

„Wer es sich leisten kann, unser Land vom Hubschrauber aus anzusehen, wird schnell feststellen: Wir leben in einem Paradies. Deutschland ist ein wunderschönes Land.“

Franz Beckenbauer

Zeh will uns wieder daran erinnern, und ihre sprachlichen Fertigkeiten heben ab, mischen, verknubbeln, verwirbeln die Grenzen, legen das Ungewohnte im Gewohnten frei, bringen das Nahe als das Unheimliche wieder näher und entzaubert politische Anschauungen als aufgesetzt, oberflächlich, setzt die Kleinkariertheiten wieder zu einem Gesamtbild zusammen. Sie tritt in die Fußstapfen Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, der schon 1918 wusste, worum es eigentlich geht, und was die Politiker aller Couleur vermissen lassen:

„Der Politiker, der philanthropische Revolutionär und Zivilisationsliterat, der ein Demagog großen Stils, nämlich ein Menschheitsschmeichler ist und, wenn er von Menschlichkeit spricht, ausschließlich des Menschen Hoheit und Würde im Sinne hat, während sein Widerspiel, der von ihm so genannte Ästhet, beim Worte ›Menschlichkeit‹ mehr des Menschen Schwäche, Ratlosigkeit und Erbärmlichkeit zu meinen geneigt ist, – der philanthropische Politiker also, angeblich so sehr um Menschenwürde besorgt, gerade er ist es (und nicht etwa irgendein ›Ästhet‹), der mit Hilfe des Ehrenbegriffes ›Menschlichkeit‹ das Leben um allen Ernst, alle Würde, alle Schwere und Verantwortlichkeit zu bringen sucht, wie schon sein Verhältnis zur Justiz, zur Schuldfrage, zur Todesstrafe zeigt.“

Thomas Mann aus: Betrachtungen eines Unpolitischen.

Es geht schließlich auch in Zehs Roman über die Schwere, Wahrhaftigkeit, Realität von dem Neonazi Gote, seine Wurzeln, seine Echtheit, seine Direktheit, wenn er Würstchen grillt und Portugiesen als Kanaken bezeichnet und über Araber schimpft, und das Verbot des Horst-Wessel-Liedes mit dem Kontaktverbot in Pandemiezeiten gleichsetzt. Im Gegensatz aber zu Thomas Mann, der sich seiner unläuterbaren Deutschheit rühmt und provokant, polemisch, mit protofaschistoider und maßlos selbstbewusster wagnerianischer Geste auftritt, vermag Zeh dieses Kunststück nur über eine tote, aalglatte journalistische Sprache zu Wege zu bringen, die aus der Hubschrauberperspektive jede Kontur ins Unwesentliche verwischen lässt, die irgendwann, je länger sie herauszoomt und heranzoomt, in ein Detail fokussiert, zwischen kosmischer Makroskopie und psychologischer Mikroskopie pendelt, den Überblick verliert und mit dem bösen Blick Hegels nur Atome oder eben Schopenhauers Platonismus zurücklässt:

„Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede, von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.“

Arthur Schopenhauer aus: Die Welt als Wille und Vorstellung

Der Roman „Über Menschen“ scheitert notwendig an sich selbst – die Sprache verrät Ratlosigkeit. Sie blüht nirgendwo, wie auch keine Landschaften in Brandenburg blühen. Sie gerät nie ins Laufen, stolpert, wankt, bleibt in den eigenen Fallstricken flatus vocis hängen und scheitert auf Tritt und Schritt am eigenen Vorhaben, Menschlichkeit im Hass zu finden, Mitmenschlichkeit in Gewalt, Freundlichkeit in der ekelverzerrten Fratze eines Steine werfenden „Über-Menschen“ aus Bracken Brandenburg. Sie stolpert, wankt und schwankt aber nicht stilistisch, sondern poetisch, lyrisch, literarisch. Stilistisch einwandfrei, geschmeidig wie die künstliche Nachtigall in Hans Christian Andersens Märchen gleitet die Sprache an der Wirklichkeit wie Wassertropfen an der Haut von Enten ab und verliert sich ins Ewiggleiche, ins Gemurmel des Menschlich-Allzumenschlichen.

„Sie stellt sich vor, in den Weltraum zu fliegen. Wie es wäre, in Schwerelosigkeit zu schweben, umgeben von Dunkelheit, Kälte und Stille. Nachts will Dora weg. Nicht nur ins Robert-Exil, nicht nur aufs Land, sondern richtig weg. Auf fundamentale Weise. Vielleicht sterben. Oder ins All, zu Alexander Gerst, über den man gelegentlich etwas in der Zeitung lesen konnte, bevor nur noch über Corona geschrieben wurde.“

Juli Zeh

Die Außenperspektive unreflektiert beibehaltend hinterlässt der Roman eine bedrückende Kälte und Leere, da der Sprache ihre Substanz, das Verstehen, geraubt wird. Der Preis fürs Verstehen des Nichtverstehens lautet nämlich konsequent nichts mehr verstehen. Es bleibt dann nichts übrig, als in der Schwebe zu bleiben, mit Beckenbauer weiterhin im Hubschrauber über Deutschland zu fliegen und wohlwollend zu kommentieren, wo andere auf der Straße beleidigt, angegriffen, körperlich bedroht, verbal diffamiert, vergewaltigt, zusammengeschlagen, missbraucht, genötigt und kleingehalten und unterdrückt werden. Nur von der Deutungshöhe des Entrückten lässt sich sagen:

„Horst Wessel und Hortensien. Könnte der Anfang eines dadaistischen Gedichts sein. Natürlich steht nirgendwo geschrieben, dass Neonazis keine Hortensien mögen. Komisch ist es trotzdem. Eine Bedrohung des lebenswichtigen Irrtums, man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten.“

Juli Zeh

Der Zynismus schlägt sich bahn dort, wo die Sprache ins Unverbindliche gleitet, wenn alles nur noch Spiel, Verstehen ohne Verständnis, Bedeutung ohne Sinn, und Sinn ohne Kommunikation vermittelt wird. Wörter besitzen keine festgelegten Bedeutungen. Ihre Unschärfe lässt überhaupt erst Kommunikation und Verständnis zu, ein Spiel eingeübter Praxis im Miteinander – aber Unschärfe selbst, wie postmodern auch immer begriffen, heißt und impliziert gerade eben nicht Beliebigkeit. Eine Träne über einen Neonazi zu vergießen, selbst rein symbolisch, als Provokation, als Gedankenanstoß, Wölfe, selbst aus Holz, zurück nach Brandenburg zu wünschen, auf dass es dort blühe wie im Heideggerschen Schwarzwald auf der Holzbank und die Meute die Beute jagen darf, heißt dem Radikalismus das Wort zu reden. Kalt läuft es einem den Rücken hinunter. Harmloses umwickelt Barbarisches, den Wolf im literarischen Schafspelz:

„Die Vögel schweigen. Vermutlich hocken sie aufgeplustert in den Nestern, die Flügel angelegt, und lassen die Tropfen an ihrem gefetteten Gefieder abperlen.“

„Und zwar in passender Menge. Es dürfen nicht zu viele sein, wie bei Tauben oder Spatzen, die die eigene Häufigkeit bedeutungslos macht.“

Juli Zeh

Sätze schreiben heißt kommunizieren. In keiner vorstellbaren Kommunikation dürfen einzelne fliegende, fiepende Tauben und Spatzen, die sich in der Wärme eines freundlichen Gestirns tummeln und hoppelnd ihre existenzielle Leichtigkeit genießen, bedeutungslos werden, nur weil es viele von ihnen gibt. Es gibt kein Verständnis und Verstehen in der Bedeutungslosigkeit. Das Kind nicht beim Namen zu nennen, hilft genauso wenig, wie es den nackten Kaiser wärmt, wenn seine nicht vorhandenen Kleider von den Untertanen über den Klee gelobt werden. Der Kaiser friert und das Kind stirbt, und so gibt es in „Über Menschen“ auch keine Menschen, nur noch ein unverbindliches, ins Leere verweisendes „Über“ als leere Geste, die kleine gehorsame Nachtigall des schamerfüllten Souveräns, der nicht mehr weiß, wovon er spricht.

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