Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Paradigma eines freien, befreiten Erzählens …

Franz Kafka hat den größten Teil von seinem fast beendeten Roman Das Schloß in der Ich-Perspektive geschrieben und danach, per Hand, in seinem Manuskript in die Er-Perspektive umgeschrieben. Die Streichungen lassen sich in den Originalabschriften einsehen. Die Entscheidung zeigt den wesentlichen Aspekt auf, den die Erzählperspektive im Medium Roman innehat. Brigitte Reimann hat eine außergewöhnliche Wahl für ihren ebenfalls nur beinahe beendeten Roman Franziska Linkerhand gewählt:

„Da hast du [Franziskas Bruder Wilhelm] ja Glück gehabt“, sagte Franziska kalt… in diesem Augenblick verachtete ich ihn, einen Heuchler und Feigling, der sich für seinen Freund nicht engagieren wollte. Ich wäre lieber nobel gestorben… Mit siebzehn ist man ein strenger Richter über andere, und man urteilt hart, prinzipientreu; selbst ungeprüft, prüfte ich meinen Bruder.

Brigitte Reimann aus: „Franziska Linkerhand“

Reimann schreibt ihren Roman aus der personalen Erzählperspektive der heranwachsenden Franziska Linkerhand, der Protagonistin, und durchmischt, wie das Zitat zeigt, die Erzählung durch Einschübe aus der Ich-Perspektive, die den zeitlichen und räumlichen Abstand zur Figur Franziska verringern und von einer auktorialen Erzählinstanz analysieren lassen. Dieser Erzählperspektivwechsel ist ungewöhnlich. Beispiele sind rar. Eines wäre von António Lobo Antunes‘ Fado Alexandrino:

Das Rückgrat klopfte vor Schmerzen, er war mit dem Nacken gegen die Fußleiste des Büros gestoßen, Schultern und Schenkel zitterten ihm (Wegen des fehlenden Essens? Wegen des Schlages? Wegen der Scheißangst?), Der Guevara wirkt etwas matt, gebt ihm ein paar kleine Klapse zur Aufmunterung, und die Kerle haben mir eine gewaltige Tracht Prügel gegeben, Herr Hauptmann, während ihr Chef, an den Schreibtisch geflegelt, unverändert leutselig zuguckte.

António Lobo Antunes aus: „Fado Alexandrino“

Mit anderen Worten, Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand reiht sich ein in die großangelegten literarischen Erzählversuche des 20. Jahrhunderts, um die Komplexität und die in sich differenzierte Realität des vergesellschafteten Seins narrativ abzubilden.

Inhalt/Plot:

Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand entspricht am ehesten einem Entwicklungsroman. Personal wird das Leben von Franziska erzählt, der Tochter eines Verlegers, der im Nachspiel des Zweiten Weltkrieges von der Besatzungsmacht enteignet wird. Franziska erzählt von den letzten Tagen des Krieges und den ersten des Friedens. Sie ist acht Jahre alt. Ihr Lebensweg berichtet fernerhin von ihrer ersten Liebe, der Ehe mit dem Arbeiterkind Wolfgang, ihren Studienjahren und ihren Umzug nach Neustadt, einer aus dem Nichts gestampften Siedlung, wo sie als engagierte Architektin danach strebt, eine auf die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung angepasste Stadt zu entwickeln.

Jetzt, gegen elf Uhr, glich die Asphaltbahn [in Neustadt] einem toten Flußarm zwischen Ufern, die niemals ein Mensch betreten hat. Die Lampen an Peitschenmasten schütteten aus ihren platten Eidechsenköpfen eine Flut von kaltem grünem Licht, Filmlicht, das zartere Halbschatten ertränkte und alles Kantige und Gradlinige, Häuserecken und gezirkelte Wege überbetonte und eine künstliche Welt schuf, eine Atelierstraße mitten durch das ungeheuer vergrößerte Modell einer Stadt aus Gips, Leim und Pappmaché.

Die Entwicklung geht von einer bildungsbürgerlichen Existenz innerhalb eines musisch und literarisch gebildeten Elternhauses aus und sucht einen Wirkungsort in der Planung und Verwirklichung einer neuen Gesellschaft und einer ihr gemäßen Wohnweise und Großstadtplanung. Franziska Linkerhand spiegelt Werner Bräunigs Rummelplatz, wo Christian Kleinschmidt, ein Professorenkind, ins Bermsthal zur Wismut-AG geht wie Franziska in Reimanns Roman nach Neustadt, obwohl sie gute Chancen bei ihrem Professor Reger hat und ihr eine Karriere als Architektin von Prestigeobjekten offenstünde. Sie sucht aber die Herausforderung im Wilden Osten, in Neustadt, wo sie auf den Pragmatiker Schafheutlin stößt, der von den intellektuellen Höhenflügen ihres Professors nichts hält. Es kommt sofort zu Diskussionen:

[F.] spürte nicht, daß Schafheutlin ihr auf seine trockene und schulmeisterliche Art entgegenzukommen, daß er gerecht zu sein versuchte: er kannte Reger, ahnte schillernde Verführung; ungefestigte Jugend, sagte er sich, darf man nicht einem pomphaften Individualisten anvertrauen, man läuft Gefahr, sie der Realität und ihren Forderungen zu entfremden.

Schafheutlin und Franziska nähern sich, entfernen sich. Sie starten aus verschiedenen Richtungen. Ein roter Faden durch den Roman wird die Auseinandersetzung über Architektur bleiben, wiewohl diese sehr emotional und charaktertypologisch gehalten ist und nicht ins Detail auf die Konzeptionen von bspw. Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Oscar Niemeyer gehen. Es geht eher um die Auseinandersetzung von Temperamenten, ähnlich wie in Der Zauberberg von Thomas Mann zwischen Hans Castorp, Naphta und Settembrini.

Schafheutlin war ihr sofort und entschieden unsympathisch, ein untersetzter, kurzhalsiger, kraushaariger Mann Mitte dreißig, dessen von Natur gutmütig und freundlich gebildetes Gesicht versteinert war durch einen Ausdruck von kalter Strenge und Argwohn. Dieser Mann, der als Bauingenieur tüchtig und gewissenhaft gewesen war, hatte seine neue Autorität wie einen Handschuh angezogen, er spielte die Rolle eines Vorgesetzten und spielte sie schlecht.

Zentral in Franziska Linkerhand steht die Auseinandersetzung zwischen Privatem und Öffentlichem, also die Frage, inwieweit die Gesellschaft, die Gesetzgebung, die Erwartung der anderen, der Vorgesetzten in das eigene Leben hineinreichen dürfen. Die Rolle, die Reimann anspricht, die Schafheutlin eben nur spielt, indem er sein Wesen in die Autorität hineinzwängt, passt nicht. Er wird ihr nicht gerecht, und Franziska zeigt ihm dies unverhohlen. Aber auch Franziska bricht aus ihrer Rolle als Architektin aus. Die beschränkenden gesamtgesellschaftlichen Bedingungen werden von ihr glattweg ignoriert, wenn sie sich spätromantischen Träumereien von der idealen Arbeiterstadt hingibt, für die alle Mittel fehlen.

„[Wilhelm, Franziskas Bruder] schläft immerzu ein, verstehen Sie? er schläft -“ und Schafheutlin sah mich unverwandt an, nein, er verstand es nicht, und seine Ahnungslosigkeit verletzte mich, und ich dachte, mein Bruder ist krank, und ich habe meinen Geliebten verloren, und ich bin verbannt, ich habe mich verbannt in diese Kleinstadt, in diese schäbige Baracke, und arbeite wie verrückt, schäbige Kleinarbeit, und sie verstehen einfach nichts und zerren an mir herum, Gertrud und die Bornemann und Schafheutlin, jeder auf seine Art, und plötzlich hatte ich ein boshaftes Verlangen, mich zu rächen […]

Die Trennung von Selbstverwirklichung und beruflicher Praxis gelingt weder Schafheutlin noch Franziska. Der eine trennt zu tief, denkt nur noch von Mangel zu Mangel; die andere trennt gar nicht, akzeptiert die Rahmenbedingungen nicht und träumt von einer besseren Welt. Sie erleiden beide Schiffbruch, suchen eine Liebe zu verwirklichen, die genauso wenig gelingt wie das neue Stadtzentrum für Neustadt und die Liebe Franziskas zu Wolfgang Trojanowicz, der das dritte Moment repräsentiert. Schafheutlin, der unglückliche Opportunist, und Franziska, die Träumerin, werden komplettiert von Trojanowicz, der resigniert hat.

Als Trojanowicz, ungefragt, versicherte, daß er zufrieden sei, weil unabhängig, Herr auf seinem Kipper, und ohne Wunsch außer dem einen: an Vergangenes nicht erinnert zu werden, schwieg sie bedrückt, wie durch einen Verlust betroffen. Ein Ehemaliger. Sie roch Herbstlaub, Chrysanthemen, Taxus, naß vom Regen. Die Augen unter den Lidern, die Lider hinter der Sonnenbrille versteckt, versuchte sie blind zu sein, um schärfer zu hören. Er sprach ohne falsche Munterkeit, ohne den Eifer eines Menschen, der sich selbst überzeugen muß. Seine Stimme enttäuschte Franziska […]

Zwischen dem sich aufopfernden Bruder Wilhelm, der als Physiker sich abarbeitet, aber nichts hinbekommt; dem ignoranten Professor Reger, der nur Gewandhäuser und Prestigebauten erzeugt, aber nicht praktisch zu wirken versteht noch es versucht; zwischen Opportunismus à la Schafheutlin, Hedonismus im Sinne von Jazwauk und der Resignation Trojanowicz‘ hin und her gerissen, bleibt Franziska nur der Ausweg pathetisch auf das eigene Wünschen und Wollen und Träumen zu insistieren, voller Mut und Verve das Selbst vor die Person zu stellen, das Ich vor Franziska, die Poetin vor die Architektin.

[Franziska] war aber nicht zornig auf die Meute, schon gar nicht auf Frau Hellwig, vielmehr auf etwas Ungreifbares, Unbegreifliches: das also ist Schicksal, dachte sie, diese niederträchtige Verkettung von Zufällen; sie war empört wie über einen krassen Fall von Ungerechtigkeit. „Sie haben keine Geduld“, sagte Frau Hellwig und lächelte ihr zu, und Franziska schüttelte den Kopf, nein, sie will das gar nicht erst lernen, Geduld, Selbstlosigkeit, die altmodischen Tugenden, die man den Frauen wie Handschellen anlegt. Jeder Mensch hat ein Recht auf sein eigenes Leben, sein Glück, die freie Wahl dessen, was er für sein Glück hält …

Aus diesem Dreigestirn Schafheutlin-Jazwauk-Trojanowicz bleibt Franziska nur der Ausweg, sich auf sich selbst zu fokussieren. Die Männer in ihrer Umgebung setzen die Gesellschaft zu absolut. Zwischen Opportunismus, Hedonismus und Resignation führt nur die poetische Selbstbestimmung heraus, sich nämlich nicht mit der Person zu identifizieren, die Person nur als Vehikel zu verstehen, sich selbst, sein eigenes Leben auf seine eigene Weise zu verwirklichen.

Detaillierte Inhaltsangabe:

Bevor ich zur Form komme, hier noch eine detaillierte Inhaltsangabe von Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand, die als Erinnerungsstütze dient und problemlos übersprungen werden kann:

Detaillierte Inhaltsgabe

  1. Franziska (F.) ist acht Jahre alt. Der Krieg geht zu Ende. Die Familie richtet sich ein, nun Teil der sowjetischen Besatzungszone zu sein. Wilhelm, der acht Jahre ältere Bruder, versorgt die Familie und beginnt Kernphysik zu studieren.
  2. F. ist fünfzehn, bekommt ihre Tage. Sie entwächst der Kindheit, verliebt sich in einen jungen aus der elften Klasse.
  3. F. ist siebzehn, begeistert sich für die neue Politik. Sie bandelt mit einem Freund ihres Bruders an, Django, aber verliebt sich in Wolfgang, einem Arbeiterkind. Sie schläft mit ihm.
  4. F. ist 25. Die Ehe mit Wolfgang Exß endet. Er trinkt, geht fremd und schlägt sie. Seine Familie raubt sie aus. Sie studiert Architektur und verehrt Reger, ihren Professor, aber sucht einen Neuanfang und kündigt.
  5. F. steht kurz vor der Abreise, sieht Django, aus dem Rebellen ist ein braver Physiklehrer geworden. Die Eltern ziehen nach Bamberg, sie nach Neustadt. Dort trifft sie ihren neuen Chef, einem Funktionär namens Schafheutlin (Sch.), ihre Kollegen Gertrude (G.), eine Alkoholikerin, und Mauricio Jazwauk (J.), einen Dandy. Im Lokal „Friedenstaube“ mit der Wirtin Hellwig (H.) sieht sie einen Mann, der Zeitung liest und wie ihr Bruder Wilhelm aussieht (Ben, B., eigentlich Wolfgang Trojanowicz, W.).
  6. Kindheitserinnerungen von F., Weihnachten, H.s Lebensgeschichte, erste Liebeleien mit J., der F. aber zu langweilig ist, Geschichte Neustadts, Sch. beklagt sich über F.s Generation, will anpacken, eine neue Zukunft schaffen mit dem Wenigen, das vorhanden ist.
  7. Lesung und Literaturszene in der DDR. Erzählung von B.s Ehe; Sch. und F. kommen sich näher. Geburt im Hochhaus, das Zusammenhalten der Bewohnerinnen. F. gibt Mathematiknachhilfe. Auf einer Exkursion kommt es zum Beinahezusammenstoß mit Kipperfahrer W.
  8. Sch. rezitiert aus Rilkes Panther. F. eröffnet Wohnberatung, besucht Sch. bei sich Zuhause, in Uhlenhorst, eine Ehe in der Krise. Erinnerungen F.s an die eigene gescheiterte Ehe. W. hilft F. in der Friedenstaube. Streit um F.s Versuch, G. zu retten. Reflexionen über Architektur. Neustädter Ingenieursball.
  9. Annähern und Entfernen mit W. Beschreibungen vom Meer. Zwiespältiges Verhältnis mit W.
  10. Versuchung F.s, Arbeit in Neustadt hinzuwerfen, ein Buch zu schreiben. F.s Verhältnis zur Mutter. Lebensgeschichte von W. Erster Kuss mit W.
  11. Ein Vorarbeiter tritt auf, genannt Yul Brynner (Y.). Geschichte von F.s Großmutter, Schauspielerin in der Weimarer Republik. F. geht ins Kino, trifft W. mit Lebenspartnerin Sigrid (S.). F. beschwert sich über T.s Art, Menschen zu analysieren. W. hin und her gerissen zwischen F. und S.
  12. Ausflug mit Y. Jahrhundertsommer. S. droht mit Selbstmord.
  13. Tod des Arbeiters Malte. Beerdigung. Hauswart erzählt vom Zirkus. Lebensgeschichte von W.
  14. F. unzufrieden mit ihrer Tätigkeit als Architektin. Reise nach Ahrenshoop. Kur. F. trifft jungen Maler. F. zieht in neues Haus, lernt die Nachbarn kennen. Bruder Wilhelm unzufrieden mit seiner Tätigkeit als Physiker. Dämonentanz im Büro von Sch. Selbstmord von G. Stadtzentrum wird doch nicht gebaut. F. publiziert Streitschrift.

Stil/Sprache/Form:

Wie bei sprachexperimentellen Entwicklungsromanen üblich (Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe, Hermann Hesses Das Glasperlenspiel oder Julio Cortázars Rayuela u.a.) steht der Plot jedoch nicht im Vordergrund. Mehr die Beschreibung, das Erleben, Leben, die Reflexion in diesem selbst:

Aber wäre sie denn, unentschlossen, an Phantasmen verloren, sich selbst hinhaltend mit irgendwann und irgendwie, wäre sie überhaupt jemals nach Neustadt gekommen, wenn sich nicht ereignet hätte, was wir nun doch erzählen müssen? Vielleicht wäre alles anders verlaufen […] sie hätte Karriere gemacht (oder, um das anrüchige Wort zu vermeiden: so wäre es systematisch weitergegangen) … aber nein, statt dessen sitzt sie in einem Verschlag, dessen Holzwände von der Sommerhitze ausgedörrt und gesprungen sind, beim Licht einer requirierten Bürolampe, und bekritzelt die Seiten eines Schulhefts mit ihrer winzigen flackernden Schrift in Druckbuchstaben: sie schreibt an einem Buch, das sie selbst vor Benjamin versteckt, und über das sie sich abergläubisch äußert, einfach so Zeugs, Geschreibsel, übrigens, man soll nichts beschreien …

Entscheidend ist hier die Auflockerung des Erzählgeschehens durch verschiedene Erzählperspektiven und Realitätsgrade der Reflexion. Die Möglichkeitsform durchbricht den narrativen Erzählgang. Der Wechsel von Ich-Perspektive zum personalen Erzählen, das Zwischenschalten einer auktorialen, alles komponierenden Instanz, und das Anrufen des idealisierten Geliebten namens Ben, so dass Franziska Linkerhand wie ein überlanger Brief erscheint, erzeugen ein lockeres Geflecht, um alle möglichen Assoziationen, Erinnerungen bruchlos einfügen zu können. Struktur und Anlage des Romans erlauben eine gleitende, schwebende Erzählhaltung, die sich an nichts als an die eigene Inspiration halten muss:

Die Jüngeren sind neugierig, aber schweigsam aus Takt, und die alten Zementhasen wundern sich über gar nichts mehr, die kennen ganz andere Typen […] die raunzen mit dir herum wie mit jedem anderen, zeigen dir aber Kniffe und Handgriffe … und schon gar nicht interessiert, wer du bist, diese alterslosen Wurzelmänner, die Rucksackbauern, die auf dem Fahrrad von ihren Dörfern rüberkommen, unterwegs Pilze und Beeren sammeln und Kaninchenfutter schneiden, jedes Stück Holz aufklauben, schuften, auf dem Bau und zu Haus, wo sie ein Schwein füttern, Gemüse ziehen, an ihrem Häuschen flicken, und die sich nichts gönnen, nicht mal eine Flasche Bier zu Mittag, sogar mit Worten geizen (bei manchen weiß man nicht, ob sie deutsch sprechen oder polnisch oder sorbisch), Geld zusammenscharren und sparen, sparen, wofür?

Zur Form von Reimanns Franziska Linkerhand lässt sich nur sagen, dass sie von Anfang an größtmögliche Assoziationsbreite erlaubt mit dem erfundenen Adressaten, den narrativen Setzungen, den beliebigen Wechseln und changierenden Perspektiven auf und zu den Personen, Figuren, Märchensituationen hin. Ihr Stil kann als Paradigma freier, ungebundener, sich selbst überlassener Erzählfreude gelten.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Brigitte Reimanns Roman zeichnet sich durch einen sehr innovativen Erzählperspektivwechsel aus. Sie verbindet die sprachexperimentellen Beschreibungen eines Claude Simons in Das Seil oder Die Straße in Flandern mit den fugenartigen Wechsel der Erzähler in Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe oder Julio Cortázars Rayuela, ohne die sichere Konsistenz zu verlieren, die das realistische Erzählen von Werner Bräunig in Rummelplatz und Christa Wolfs Der geteilte Himmel auszeichnen.

Reimann markiert mit dem Wechsel von der Ich- zu der Franziska-Perspektive, wobei das Ich klar Franziska selbst ist, ein Novum, das von Franz Kafka vorbereitet wurde, als er seinen Roman Das Schloß zuerst in der Ich-Perspektive schrieb, um dieses dann im Nachgang in die Er-Perspektive abzuändern. Auch hier ist das Ich und das Er dieselbe Person, der Träger der Erzählung. Das schreibende Selbst thematisiert sich als Person, wie andere es sehen, und als Ich, wie es sich selbst erlebt. Beim Schreiben verwischen sich die Grenzen. Kein Wunder, dass Kafka an ausgezeichneten Stellen zwischen diesen Perspektiven schwankend wird, bspw. am Schluss vom Der Proceß. Dort heißt es in der Max Brod-Version:

Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.

Franz Kafka aus: „Der Proceß“

Im Originalmanuskript steht hier aber unvermittelt eine Ich-Perspektive, bevor der Text schließt:

Wo ist das hohe Gericht? Ich habe zu reden! Ich hebe die Hände und spreize alle Finger. Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten.

Franz Kafka: „Der Proceß“ (Historisch-kritische Ausgabe)

Kafka antizipiert das freie Erzählen, das Reimann in Franziska Linkerhand realisiert. Auf Zeit und Raum muss die Erzählerin durch diese Konzeption nicht mehr achtgeben. Sie schwebt über den Dingen. Sie weiß von den zwei Seiten der sich durchbildenden Existenz. Ihr Schreiben taucht in die Situationen hinab, um es mit Leben und Details für den Adressaten, der direkt angesprochen, aber im Hintergrund bleibt, zu füllen. Erzählzeit und erzählte Zeit bewegen sich fluchtpunktartig aufeinander zu, bleiben aber unabhängig voneinander, und genauso beginnt ihr Roman auch:

Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei Jahren? Welche Straßen bist du gegangen, in welchen Flüssen hast du gebadet, mit welchen Frauen geschlafen? Wiederholst du nur eine geübte Geste, wenn du mein Ohr küßt oder die Armbeuge? Ich bin verrückt vor Eifersucht … Die Gegenwart macht mir nicht angst … aber deine Erinnerungen, gegen die ich mich nicht wehren kann, die Bilder in deinem Kopf, die ich nicht sehen kann, ein Schmerz, den ich nicht geteilt habe … Ich möchte mein Leben verdreifachen, um nachzuholen, die lange lange Zeit, als es dich nicht gab.

Die Verdreifachung gelingt als Erzählerin, als Franziska und als erlebtes Ich. Furchtlos, sich dem eigenen Inneren zu stellen, bezeichnet Walter Benjamin als Glück. Franziska Linkerhand legt als Roman von diesem Glück Zeugnis ab.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

2 Antworten auf „Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand““

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Entdecke mehr von Kommunikatives Lesen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%