Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“

Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse (1/5): Einer Erfahrung ein historisches Bild zu verleihen und jenes aus dem Fluss der Zeit herauszubrechen, gehört zu den erstaunlichsten Wirkungsweisen eines Romans. Die Verwandlung von Kontinuität in Diskontinuität erlaubt es, rückläufig wieder anzuschließen und Kommunikationspotentiale zu erschließen, die sonst anderweitig vor sich hinschlummern müssten, ohne ihren Erfahrungsgehalt entfalten zu können. Katerina Poladjan hat den 80ern Jahren der kurz vor ihrem Ende stehenden Sowjetunion ein Kleinod entrissen und in „Zukunftsmusik“ zu einer Allegorie auf Veränderung verwandelt. Der Roman glänzt und schimmert und funkelt.

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Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Rezension. Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv"
Weder zu laut noch zu leise, eine Poesie des Zwischenraumes … Nobelpreis für Literatur 2020.

Der Gedichtband von Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“, Nobelpreisträgerin für Literatur aus dem Jahre 2020, erzählt von einer fernöstlichen Ding- und Sprachsanftheit. Die Gedichte werden im Zusammenhang mit dem „Tao-Tê-King“ von Laotse, mit Karl Kraus‘ Text „Die Sprache“ und Bertolt Brechts „Svendborger Gedichte“ gelesen und besprochen. Weder schweigen noch schreien, sondern sagen und hören scheint die poetologische Devise von Glück zu sein.  

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Jessica Lind: „Mama“

Vom Fürchten und anderen existenziellen Ängsten … auf der Shortlist des Bloggerdebütpreis

Eine Hütte, verlassen im Wald, ohne Kontakt zur Außenwelt, ein Pärchen auf den Spuren der Vergangenheit – aus diesem Stoff werden für gewöhnlich Horror-Romane gezimmert. Keine Hilfe weit und breit, auf sich allein gestellt, mit den eigenen Urängsten, Schwächen und Hoffnungen konfrontiert, gerät für die Figuren in diesen Machwerken schnell alles außer Kontrolle. Ein bekanntes Beispiel stellt Stephen Kings „Shining“ (Hotel statt Hütte) und „Das Spiel“ dar, die nichts für zartbesaitete Gemüter sind. Jessica Linds Roman „Mama“ ist es auch nicht. Nur aus andersgearteten Gründen. Verbreitet Stephen King in seinen erbarmungslosen Schockern, die noch nach Jahren Gänsehaut der unangenehmen Sorte erzeugen, mit etwas billigen, aber wirksamen literarischen Mitteln Horror, gelingt Lind dies ohne jedwede Abartigkeiten. Lind schreitet vielmehr den schmalen Grat der eigenen Zivilisiertheit ab, gerät aber hier und da aus dem Gleichgewicht und lässt einen teilweise übers Unheimliche und Bodenlose taumeln, mit rudernden, ausgebreiteten Armen einer sinnlos gewordenen Sinnsuche. Lesend bleibt man in ständiger Angst um Josef und Amira und ihre Tochter Luise befangen, um jene Familie, die sich in der besagten Hütte von ihrem Stadtleben zu erholen sucht.

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Michel Houellebecq: „Vernichten“

Gefangen zwischen Sentimentalität und Selbstverdruss … Spiegel Belletristik-Bestseller 03/2022

Typische Männerliteratur schwadroniert schnell zwischen Anklage und Selbstmitleid, zwischen der Sentimentalität der guten alten Zeit und Aggression gegen die neue, schnelllebige. Politik steht im Zentrum von ihnen allen. Max Billers „Der falsche Gruß“ verknüpft Geschichtsklitterung mit pubertärer Gefallsucht. „Es ist immer so schön mit dir“ von Heinz Strunk geht aufs Ganze und verliert sich durch Selbst- und Publikumsbeschimpfung ins Bodenlose. Oder die Persiflage „Es war einmal in Hollywood“ eines Quentin Tarantinos zelebriert ein nebulöses „Ach, wie schön war es“ einer gesetzlosen, unkontrollierten Film- und Schauspielerwelt der Gewalt- und Sexexzesse. Nahtlos reiht sich Michel Houellebecqs Roman „Vernichten“ ein.  

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