Im Zuge des explorierenden Lesens gehe ich, bislang, unregelmäßig die Buchpreistitel der letzten Jahren durch. Eine Übersicht der bereits gelesenen Titel findet sich hier. Nach Echtzeitalter von Tonio Schachinger, Blutbuch von Kim de l’Horizon und Antje Ravik Strubels Blaue Frau befinde ich mich nun im Jahr 2020: Anne Weber erhielt den Deutschen Buchpreis für Annette, ein Heldinnenepos:
Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs. Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.
Lebendig, frech und unübersichtlich … “aspekte”-Literaturpreis 2023
Gittersee von Charlotte Gneuß steht im Zusammenhang der DDR-Vergangenheitsbewältigung. Mit Bettina Wilperts Herumtreiberinnen(2022) teilt es die Beschreibung der Jugend von in der DDR aufwachsenden Mädchen und die Sehnsucht nach den Sternen. Vergleichbar u.a. Jan Weiler in Der Markisenmann(2022) beschreibt Gneuß, wie die Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit das Privatleben der Betroffenen zerstört. Zusammen mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (2023) geht die Protagonistin auf die Suche nach der Familienvergangenheit, insbesondere ihres Opas Emil, und wie Hari Kunzru in Red Pill (2021) wird psychologisch differenziert beschrieben, wie die Akquise einer Minderjährigen für die IM-Tätigkeit gelingt. Im Gegensatz zu all den genannten Romanen bleibt Gneuß‘ Ton in Gittersee aber derb, humorvoll, lebendig und dreist und erinnert so an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Im Zentrum des Romans steht die sechzehnjährige Karin Köhler, die den Minenarbeiter Paul liebt:
Als Paul am Freitag mit seiner Schwalbe in den Hof geknattert war, hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt, das Kleid glattgestrichen und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert. Klar hatte ich Lust, aber die Kleine könnte jede Minute aufwachen, und dazu war heute Waschtag.
Entdeckung der Poesie als innere Grenze der Prosa.
Interpretationsmodelle (6):Niklas Luhmann gilt trotz schmissiger Buchtitel wie Liebe als Passion oder Reden und Schweigen als sehr abstrakter Soziologie. Seine systemtheoretische Herangehensweise verunmöglicht einfache, selbstreferenzielle Urteile und verknüpft eher, als dass Fakten isoliert, gegeneinander ausgespielt und Wertparadoxien erstellt werden. Mit Luhmanns Theorie lässt sich keine Ideologie unterfüttern. Sie steht windschief zu herkömmlichen Binnendifferenzierungen und sieht in Meinungen, Urteilen eher den Ausgangspunkt zur Theorieentfaltung als ein wie auch immer anvisiertes Ziel. Verknüpfen, entfalten, verbinden, Zusammenklänge finden beschreibt sein Verfahren, das dennoch, wie eine Anekdote beweist, sehr reale Anfangsgründe besitzt:
[Auf die denkbar blödeste Frage, warum er so funktionalistisch und sachlich denke] antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert. Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.
Sinkende Sterne von Thomas Hettche liest sich vor allem als Roman über Romane, als Literatur über Literatur, als das Erzählen übers Erzählen. Diese Verweisstruktur bringt Gefahren mit sich. Umberto Ecos ausschweifendes Das Foucaultsche Pendel oder auch Passagen in Die Insel des vorigen Tages spielen auf der Klaviatur des Zitats und der Permutationen des Gelesenen, also sekundär Erinnerten, und ufern zum Teil aus. Popliteratur insgesamt verliert oft den erzählerischen Rahmen und sprengt alles zugunsten einer kulturellen und universell-gültigen Verweisstruktur auf. Oft bleiben nur Assoziationen, nur Fragmente, Bruchstücke eines Erzählens übrig, so auch bei Hettche in Sinkende Sterne:
Was geschehen sei, als die Frist abgelaufen war, wollte [Marietta] wissen. Ich freute mich so sehr, sie wiederzusehen, dass es mir ganz unnötig schien, jetzt davon zu sprechen. ‚Männer sind sinkende Sterne‘, dachte ich. Isabelle Huppert hat diesen Satz, der mir sofort einleuchtete, vor ein paar Jahren in einem Interview gesagt.
Ein Phantomschmerzspiel … Spiegel Belletristik-Bestseller (November 2023)
Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:
Mama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.