Toni Morrison: „Menschenkind“

Menschenkind
Dem Monströsen literarisch die Stirn geboten … Nobelpreis für Literatur 1993

Die Menschheitsgeschichte wartet mit vielen Abgründen auf. Die Sklaverei gehört dazu. Ihren Horror zu beschreiben, die Erinnerungen an die Verbrechen aufrechtzuerhalten, fordert das geschichtsträchtige Schreiben heraus. Unter die zahmen und umstrittenen Varianten gehören Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte (1852) oder Alex Haleys Wurzeln (1976). Toni Morrison, afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin von 1993, schlägt eine härtere Gangart der Geschichtsvergegenwärtigung ein. Wie bei William Faulkner in Schall und Wahn steht in ihrem Roman Menschenkind aus dem Jahr 1987 eine schwarze Köchin im Zentrum des Geschehens. Ihr Name ist Sethe:

Ein Weißer kommt, um Denver zur Arbeit abzuholen, und Sethe geht auf ihn los. Der Babygeist kehrt als böser Geist zurück und macht, dass Sethe auf den Mann losgeht, der sie vor dem Erhängen gerettet hat. In einem sind sich alle einig: zuerst haben sie das Etwas gesehen und dann nicht mehr. Als sie Sethe zu Boden geworfen und ihr die Eishacke aus der Hand genommen hatten und zurück zum Haus schauten, war es fort.

Toni Morrison aus: “Menschenkind”

[Triggerwarnung: Die US-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison verwendet in ihren Zitaten teilweise die Sprache der Sklavenhalter und benutzt das N-Wort. Ich zitiere Toni Morrison unverändert.]

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Sylvie Schenk: „Maman“

Maman
Autofiktion ohne Dampfhammer … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Die Mutter und die DDR sind die dominierenden Themen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der letzten Jahre. Die Mutter dient als Reflexionsfläche, Sehnsuchtsraum und Enttäuschungsverarbeitung über die eigene, als kritikwürdig empfundene Gesamtexistenz. Lange Jahre, beredte Beispiele aus den Schriften im Dunstkreis der Frankfurter Schule lassen sich leicht finden, stellte die Mutter eine Art Schutzraum dar. Die Zeiten scheinen vorbei. Die Mutter ist feige wie in Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig. Sie ist nicht durchsetzungsfähig wie in Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter. Sie ist gar gewalttätig wie bei Anne Rabe in Die Möglichkeit von Glück oder schlichtweg emotional misshandelnd wie in Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen.  Sylvie Schenk in ihrem Roman Maman beschäftigt sich auch mit ihrer Mutter:

Mit festen Abläufen und gewissen Einkäufen versuchte Maman, sich aus der ganzen Chose zu retten. Ich sehe sie meistens an zwei Orten: im Erker des Wohnzimmers, wo sie strickte, eigentlich kein Erker, es sah nur wegen eines Wandschranks so aus, der als Bibliothek umfunktioniert wurde […] Der zweite Ort ist der Gussheizkörper des Wohnzimmers. Dort stand sie oft im Winter, die Hände hinter dem Rücken direkt an den Rippen der Heizung. Sie fror ständig. Sie tupfte sich oft die Nase mit einem Taschentuch, einem mit Langettenstichen umsäumten Stück Stoff, das sie in den Kleider- oder Jackenärmel stopfte, wenn es in ihren Röcken keine eingenähten Taschen gab.

Sylvie Schenk aus: “Maman”
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Hanna Bjørgaas: „Das geheime Leben in der Stadt“

Das geheime Leben in der Stadt
Eine sehr entspannte, konstruktive, freundliche, weitreichende Zeitgeistkritik

Die Blickweise auf die Umwelt erhält viel Aufmerksamkeit, sobald es die Verhältnisse zwischen Menschen betrifft. Das eigene Verhalten zur Umwelt, die geradezu synästhetische Position im eigenen Weltgeschehen findet viel seltener Zuspruch und Aufmerksamkeit. Hier wird das Selbst zu seinem eigenen Anderen, reflektiert rückhaltlos über sich und seinen Bezug, seine Aufmerksamkeit für das, was sein eigenes und kein anderes Selbst umgibt. Nicht die anderen, sich selbst betrachtend erforscht es in der Bewegung den eigenen blinden Fleck. Michael Crichton hat so etwas in Im Kreis der Welt in Bezug auf einen Kaktus getan. Douglas Adams in Die Letzten ihrer Art für die vom Aussterben bedrohten Tiergattungen wie den Komodowaran. Humberto R. Maturana hat diese zweite Reflexion in Biologie der Realität reflektiert. Hanna Bjorgaas wendet diese Form der Selbst- und Fremderforschung in Das geheime Leben in der Stadt auf das Leben in der Betonwüste an und erweitert so den Blick auf diese, für viele bestimmende moderne Daseinsweise:

An meinem ersten Tag wieder zurück in Oslo hatte ich keine anderen Pläne, als meinen Jetlag durchzustehen. Ich lief durch die Straßen und versuchte anzukommen. Die Tauben vor der U-Bahn pickten auf etwas herum, das wie ein platt getrampeltes Rosinenbrötchen vom Kiosk aussah. Die Spatzen lärmten in den Ziersträuchern. Alles um mich herum schien allein von Menschen gemacht. Die wunderbare, komplexe Natur, aus der ich gerade zurückgekehrt war [die Pinguine in der Antarktis], war zu dem hier reduziert worden: Spatzen und Stadttauben, harte Oberflächen und rechte Winkel. Eine armselige Landschaft. Ich drehte mich um und wollte nach Hause.

Hanna Bjørgaas aus: „Das geheime Leben in der Stadt“
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Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“

Die Inkommensurablen
Sprachfreudige Ideologiekritik im Vorkriegswien … Longlist des Deutschen Buchpreises 2023

Raphaela Edelbauers neuer Roman Die Inkommensurablen lebt von dem Zauber, den die Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts ausstrahlte. Er steht im Zusammenhang mit dem kollektiven Unbewussten eines Carl Gustav Jungs, mit dem Geheimnisvollen der Mathematik des Unendlichen eines Georg Cantors und dem nationalistischen Zeitgeist eines Vorkriegswiens im Jahre 1914, auf das die kommenden Schrecken des 1. Weltkrieges noch warten. Sprachlich und stilistisch stellt sich Edelbauers Roman in die Tradition eines Robert Musils aus Der Mann ohne Eigenschaften, Alfred Kubins Die andere Seite und Hermann Hesses Die Morgenlandfahrer. Zwischen den Zeilen schimmert ein Unbehagen an einem selbstbezogenen ästhetisch-begründeten Hedonismus hindurch, dem David Foster Wallace auf eigenwillige Weise in Unendlicher Spaß eine Absage erteilt. Im Gegensatz zu diesem verbleibt Edelbauer aber ganz und gar klassizistisch:

Wer die Karlskirche betritt, befindet sich in zu Stein gewordenem Gedächtnis. Sie ist aber – ganz als hätte ihr Grazer Architekt auch der österreichischen Seele als Ganzem ein Denkmal setzen wollen – nicht nur ein eklektizistisches Kind eines Vielvölkerstaates. Sie ist auch ein Meisterstück abgeschlossener Vereinzelung. Fischer von Erlach orientierte sich beim Bau an den Schriften des Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniz, und so ist die Karlskirche, ganz wie Wien selbst, Monade: fensterlos und gegen Veränderung indifferent.

Raphaela Edelbauer aus: “Die Inkommensurablen”
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Umberto Eco: „Die Insel des vorigen Tages“

Die Insel des vorigen Tages
Die Liebe zur Sprache als Sinnsuche auf den Sieben Weltmeeren …

Umberto Eco, Verfasser von dem Roman Der Name der Rose, aber auch von kulturkritischen Schriften wie Apokalyptiker und Integrierte, besitzt eine ganz eigene Vorstellung vom Genre des Unterhaltungsromans. Seine Bücher spielen mit dem enzyklopädischen Wissen.  Sie setzen nicht Wissen voraus, aber kulturell-historisches Orientierungsvermögen – so scheint es. Wer aber den Wissenschaftler der Semiotik zu sehr in den Gaukler des Erzählens übergehen lässt, verpasst, was den Romanen von Eco, auch in Die Insel des vorigen Tages, vorrangig bleibt, nämlich ungetrübte, sich selbst überlassene, über sich hinausgreifende Sprachfreude:

Jede Woge glitzert in schimmernder Rastlosigkeit, hier windet eine Dampfsäule sich empor, dort gurgelt ein Strudel und reißt eine Quelle auf. Bündel ekstatischer Meteore bilden den Gegengesang zur aufrührerischen und in Donnergetöse zerborstenen Luft, der Himmel ist ein Flimmern von fernsten Lichtern im Wechsel mit tiefster Finsternis, und Roberto schreibt, er habe schäumende Alpen gesehen in schlüpfrigen Furchen, die den Schaum zu Garben verwandelt hätten, und der Ceres Früchte seien in Blüte gestanden zwischen funkelnden Saphiren, und von Zeit zu Zeit seien rotglühende Opale hervorgebrochen, als habe die tellurische Tochter Proserpina das Kommando übernommen und ihre fruchttragende Mutter vertrieben.

Umberto Eco aus: “Die Insel des vorigen Tages”
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Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“

Unterm Staub der Zeit
Unbewusstes Geschichtserleben … Spiegel Belletristik-Bestseller (April 2023)

Wie in jeder Hinsicht so gibt es auch in Bezug auf Geschichte eine direkte, aggressive Art, sich mit ihr zu befassen, oder Abstufung des Indirekten, bis hin zum sanften Aufmerken. Aggressive Sorten der DDR-Aufarbeitung suchen die Konfrontation wie Anne Rabe in Die Möglichkeit von Glück, Hari Kunzru in Red Pill oder Bettina Wilpert in Herumtreiberinnen. Eine Mittelstellung nimmt Helga Schubert beispielsweise in Vom Aufstehen oder Der heutige Tag ein. Jenny Erpenbecks Kairos oder Christoph Heins Unterm Staub der Zeit gehört einer sehr langsamen, zarten Vergangenheitsaufarbeitung an und steht in der gegenwärtigen Literaturlandschaft als Antipode von Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren gegenüer. Im Gegensatz zu diesem fällt Hein die Grenzziehung schwer:

Unsinn, Bert. [Die Abriegelung von Ost-Berlin, von der] der Kerl im Radio erzählt, das geht gar nicht. In Berlin gibt es hundert Straßen, die von Ost nach West und von West nach Ost führen. Selbst wenn sie die alle sperren, dann gibt es noch unterirdisch die U-Bahn und alle möglichen Kanäle. Dann ist da die Spree, ich brauche nur in einer mondlosen Nacht zweihundert Meter zu schwimmen und bin in Westberlin. Da können sie nichts machen. Und außerdem ist da noch die Grüne Grenze, das sind Hunderte Kilometer, die können sie ja nicht mit Stacheldraht verrammeln. Hunderte von Kilometern, nein, da wird es immer genügend Stellen geben, wo man bei Tag und Nacht rüberspazieren kann.

Christoph Hein aus: “Unterm Staub der Zeit”
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