Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“ (Das Debüt 2023)

Birobidschan
Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus … Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Das Thema von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman Birobidschan lautet vordergründig Heimatlosigkeit und stellt die Frage, wo die Heimat liegt, wo sie gefunden werden kann, und ob sie nicht als Ort zwischen den Menschen, in den Verhältnissen und Erinnerungen der Menschen untereinander besteht und nur auf diese Weise Realität erlangt. Der Ort Birobidschan, eingeführt als die Möglichkeit eines neuen sozialistischen Paradieses, liegt an der russisch-chinesischen Grenze, fast am Pazifik, genauer am Ochotskischen Meer, aber seine Geschichte, sein geographischer Standort spielen bei Doten-Dreyfus keine Rolle, auch nicht seine relative Nähe zum Ort des bislang ungeklärt gebliebenen Tunguska-Ereignisses. Dotan-Dreyfus improvisiert in Birobidschan über Menschen und ein dörfliches Zusammenleben, das so überall auf der Welt sich abspielen könnte:

[Miriam] lehnte sich gegen den Baumstamm und sprach über den Feiertag [Sukkot]. »Findest du es nicht eigenartig, dass wir schon so lange in Häusern wohnen und trotzdem einmal im Jahr durch diese peinlichen Laubhütten an eine Zeit erinnern, in der wir angeblich kein sicheres Zuhause hatten?«
»Weiß ich nicht«, antwortete [Dmitri] verlegen, »ich habe kein Zuhause.«

Tomar Dotan-Dreyfus aus: „Birobidschan“
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Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Das späte Leben
Das späte Leben von Bernhard Schlink … ein schwacher Trost voller Fragezeichen.

Die Konfrontation mit dem Tod kennt viele Gesichter. Es gibt die, die ihn glühend bekämpfen, wie ein Johann Wolfgang Goethe in seinem West-östlicher Divan; die, die ihn stoisch zur Kenntnis nehmen wie ein Michel de Montaigne in seinen Essais; jene, die durch ihn hindurch in die Gesamtheit ihrer Lebensexistenz gelangen und Erinnerungswelten entfachen wie Hermann Broch in Der Tod des Vergil, oder auch die, die ihn flüchten, sich betäuben, bspw. mit Sex wie Michel Houellebecq in Vernichten, oder mit Nachrichten an die Nachwelt trösten wie Irvin D. und Marilyn Yalom in Unzertrennlich. Bernhard Schlink gehört mit seinem neuesten Roman Das späte Leben eher zu den letzteren. Sein Protagonist flieht den Tod:

Beim Abschied vom Arzt hatte er die nötige Entschlossenheit aufgebracht, und er würde es auch bei den Begegnungen mit Frau und Sohn. Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, würde ihm nicht dazwischenkommen. Er zog den Mantel aus, machte Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer. Er wusste, dass, was der Arzt gesagt hatte, ihn noch nicht wirklich erreicht hatte. So war es immer schon gewesen.

Bernhard Schlink aus: „Das späte Leben“
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