Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“ (Das Debüt 2023)

Birobidschan
Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus … Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Das Thema von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman Birobidschan lautet vordergründig Heimatlosigkeit und stellt die Frage, wo die Heimat liegt, wo sie gefunden werden kann, und ob sie nicht als Ort zwischen den Menschen, in den Verhältnissen und Erinnerungen der Menschen untereinander besteht und nur auf diese Weise Realität erlangt. Der Ort Birobidschan, eingeführt als die Möglichkeit eines neuen sozialistischen Paradieses, liegt an der russisch-chinesischen Grenze, fast am Pazifik, genauer am Ochotskischen Meer, aber seine Geschichte, sein geographischer Standort spielen bei Doten-Dreyfus keine Rolle, auch nicht seine relative Nähe zum Ort des bislang ungeklärt gebliebenen Tunguska-Ereignisses. Dotan-Dreyfus improvisiert in Birobidschan über Menschen und ein dörfliches Zusammenleben, das so überall auf der Welt sich abspielen könnte:

[Miriam] lehnte sich gegen den Baumstamm und sprach über den Feiertag [Sukkot]. »Findest du es nicht eigenartig, dass wir schon so lange in Häusern wohnen und trotzdem einmal im Jahr durch diese peinlichen Laubhütten an eine Zeit erinnern, in der wir angeblich kein sicheres Zuhause hatten?«
»Weiß ich nicht«, antwortete [Dmitri] verlegen, »ich habe kein Zuhause.«

Tomar Dotan-Dreyfus aus: „Birobidschan“

Inhalt/Plot:

Birobidschan besitzt keinen herkömmlichen Plot. Von allen Handlungsfäden besitzt die Suche nach dem Mörder von Boris, dem ältesten Bewohner und Fischer in Birobidschan, die größte Ähnlichkeit mit einem solchen, ohne dass dieser aber zu Ende geführt wird. Dutzende Figuren tauchen auf und mindestens vier Zeitebenen scheinen relevant, nämlich die Jahre 1932, 1941, 1990 und 2003. Diese vier Zeitpunkte können jeweils vier Figuren zugeordnet werden. 1932 erlebt der fünfjährige Boris Klayn an der polnisch-belarussisch-ukrainischen Grenze eine Nahtoderfahrung und erfriert beinahe. Nur mit Hilfe eines geheimnisvollen Mädchens entkommt er dem Tod:

Eine Welle plötzlicher Wärme überschwemmte ihn. Es war das erste Mal, dass er das Mädchen sah. Sie bewegte sich nicht, schaute ihn nur an, starrte sogar. Auf den ersten Blick war ihre Haut kaum vom Schnee zu unterscheiden, ihre Haare waren schwarz und kitzelten angenehm, als sie sich schließlich zu ihm beugte, ihr kleines Ohr auf seine Brust legte und dem Schlagen seines Herzens lange Minuten zuhörte.

Boris zieht fünf Jahre später mit seiner Mutter in das von der Sowjetunion proklamierte „jüdische sozialistische Paradies“ an der chinesischen Grenze, das besagte Birobidschan, und nach ihm, 1941 kommen etliche Waisenkinder nach, darunter auch Julia, die von dem Bahnarbeiter Schimon Josephow adoptiert wird. Julia wird eine selbstbewusste Künstlerin und versucht die Bevölkerung von Birobidschan mit Ausstellungen für ihre Kunstleidenschaft zu begeistern. Ohne Erfolg. Ihre Tochter heißt Sulamith:

»Hallo, Sulamith!«, grüßte [Boris] die, die später die Mutter von Joel und Alex sein würde, zu diesem Zeitpunkt aber noch eine junge Frau war und gerade in den Hof geeilt kam.
»Grüß dich, Boris. Hast du vielleicht meine Mutter gesehen?«
»Das schönste Mädchen unter den Neuen.«
Die Neuen, so nannte man in Birobidschan nach all den Jahren noch immer die Kinder, die eines Tages aus dem Westen gekommen waren.

Vom Vater Sulamiths wird nur erzählt, dass seine Tochter im Aussehen nach ihm kommt. Die Künstlerin Julia lebt allein und zieht ihre Tochter groß, die wiederum zwei Kinder zur Welt bringt: Joel und Alex. Joel von Isaak, der bald darauf mit seiner Familie wegzieht und Sulamith alleine zurücklässt, und Alex von Vladimir, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach St. Petersburg zieht. Sulamith lässt sich davon nicht beirren. Ihre beste Freundin Josephin hat schon mehr an ihrem Beziehungspech zu knabbern. 1990 rennt ihr Gregory, der Vater ihrer Tochter Rachel, davon und verschwindet spurlos im Wald rundum Tunguska und 2003 stirbt ihr Ehemann Jakov bei einem Eisenbahnunglück:

Es war Frühling, und die ganze Stadt war auf den Beinen, um den Gründungstag Birobidschans vor sechsundfünfzig Jahren zu feiern. Josephins Trauerschrei warf sich in die Parade, die gerade durch die Straße zog, und explodierte dort wie eine Rauchgranate.

Zwischen und durch diese Ereignisse hindurch verweben sich nun die Schicksale der Figuren, die lose durch das immer wieder auftauchende geheimnisvolle Mädchen, das Boris das Leben rettete, und den etwas mystisch-erscheinenden Ort Birobidschan, der zwischen den Dimensionen zu schweben scheint, zusammengehalten werden.

Stil/Sprache/Form:

Dem episodenhaften Erzählen ist durch seinen magischen Realismus à la Haruki Murakami und Gabriel García Márquez alles erlaubt. Der Erzähler darf ohne Rücksicht auf Plausibilität und Erzählstruktur alles aus dem Ärmel schütteln. Kompositorisch besitzt Birobidschan schon allein deshalb, aufgrund seines Potpourri-Charakters, wenig Anspruch, von der Menge der Namen abgesehen, die alle gemerkt und deren Verwandtschaftsgrade in Bezug gesetzt werden müssen. Die Figuren werden aber nur spärlich und mit wenig Intensität eingeführt und lassen sich im Grunde nur sehr oberflächlich als Vater, Mutter, Kind unterscheiden. Dotan-Dreyfus‘ Sprache bleibt die meiste Zeit karg und zurückhaltend, nur um dann plötzlich in absonderlichen Überschwang abzudriften:

Er schaute in ihre runden Augen wie Moses in das ihm verbotene Land.
[…] Die Sonne marschierte geradewegs in den Himmel in ihren Kriegsfarben Rot und Orange und verbrannte die dunkle Nacht
[…] Eine frische Sehnsuchtswelle nach seinem Heimatsschtetl brach sich in seinem Herzen wie an einem Wellenbrecher, und als das Wasser sich zurückzog, blieben winzige Salzkörnchen schmerzend zwischen den Felsen seines Herzens.

Die sehr unausgewogene Sprachfärbung erzeugt adjektivisch gebrochene Metaphern und ein Oxymoron nach dem anderen, die den Textfluss gefährlich unterbrechen und unterstellterweise beabsichtigt Verwirrung zu stiften versuchen. Teilweise, wie auch die nicht angegebenen Zeitpunkte, scheint der Roman Birobidschan nur auf Konfusion und retrograder Zeitlichkeit ausgelegt zu sein:

Gregory öffnete das Fenster, und der Wind drang ganz langsam ins Zimmer und nicht etwa zerstörerisch, wie es manchmal in diesen verlassenen Gebieten geschah, wo der Wind aus vergeudetem Potenzial zu bestehen schien. Wind kannte keine Grenzen, genauso wenig wie ein Nichts, das einst ein Potenzial war.

Dotan-Dreyfus legt es nicht auf eine harmonische Sprache an. Seine Beschreibungen, Figurenüberzeichnungen und Vorliebe für die Farbe Rot illustrieren eine zugrundeliegende Metaphorik, nämlich die des Sündenfalls, des verlorenen Paradieses, wie der Erzähler, der sich selbstdurchgestrichen dazwischen schaltet, offenherzig preisgibt:

Manchmal will ein Schriftsteller wie ich in seinem Text, etwas wirklich Schlechtes schreiben. Etwas, das sein Schreiben vielleicht zu billiger Literatur macht – eine leidenschaftsvolle Sexszene beispielsweise, die innerhalb des Text keinerlei Existenzgrund hat. Sie dient weder der Handlung noch hat sie einen ästhetischen Nutzen. Kitschig, werden die Kritiker sagen.

Wird der Zusammenhang rekonstruiert, entsteht ein ziemlich klares Bild, das sein Zentrum bei der besagten Buche hat, an welchen sich Julias Bruder mit neunzehn Jahren erhängt hat, an welchem Boris gelehnt, erschossen worden ist, wo Dmitri, der Boris erschossen haben soll, sein erstes Date verpatzt. Die Buche selbst ist wie im alten Testament der zentrale Ort des Sündenfalls, denn:

Im Verlauf der Zeit würde das Dorf sich vergrößern, weitere Wälder würden von dort in Laufnähe liegen, und die Buche würde zu einem romantischen Ort für die hormongetriebenen Jungs und Mädchen werden, die ihre ersten Schritte in die Welt der inneren Sonnenuntergänge wagten und auf Entdeckungsreise zueinander (und manchmal zu sich selbst) von dieser Buche ausgehend aufbrachen.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Hintergründig nämlich zerstören die Menschen in Birobidschan ihr eigenes Paradies. Boris, als er fünf Jahre alt war, hätte dem Mädchen folgen können, aber entschied sich dagegen. Sie, die Leben brachte, bringt fortan Tod. Gregory und Sascha begegnen diesem Mädchen auf ihrem Roadtrip nach Tunguska, als sie mit einem Gewehr, das Gregory im See von Birobidschan gefunden hat, auf Jagd gehen. Gregory schießt auf das Mädchen aus scheinbarer Notwehr, als sie (?) sich in der Form eines hungrigen Kragenbären über den an der Buche gelehnten Boris hermacht. Gregory trifft aber Boris und sich das Mädchen in Luft auflöst:

Aber bevor [Sascha] irgendeine Silbe aus seinem Mund brachte, zersprang ein Donner in  seinem Ohr. Dieser künstliche Donner kam von Gregory, er hatte abgedrückt. Boris wurde getroffen. Er schrie kurz auf, bevor ein ewiges Schweigen ihn eroberte. Sascha erstarrte. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft,  Gregory zu fragen, warum er das getan hatte.

Gregory verschwindet daraufhin und Sascha denkt nur noch an den japanischen Ehrenselbstmord Harakiri und stirbt schließlich bei dem Versuch, von Russland aus nach Japan hinüber zu schwimmen. Dreizehn Jahre später taucht das Mädchen in Birobidschan wieder auf. Rachel und Joel wollen es in ein Waisenhaus nach Moskau bringen und sterben ebenso bei dem Versuch, aber dieses Mal durch einen Autounfall. Auf ihrem Roadtrip betrügt nämlich Rachel ihren Lebenspartner Alex, der, den Betrug ahnend, nach ihr sucht. Er rennt zu Dmitri, wo er sie zu finden hofft, aber:

Die Tür von Dmitris Hütte stand offen und quietschte, als Alex seine Hand an sie legte. Das Erste, was er sah, war ein langer Gewehrlauf, der auf ihn gerichtet war. Am anderen Ende des Laufes saß eine schwarze, schaudernde Gestalt. Trotz der Dunkelheit war deren schweißnasse Stirn deutlich zu sehen, sie glänzte im Mondlicht.

Er findet Dmitri, der wegen seines Gewehrs unter Verdacht steht, Boris erschossen zu haben, aber beteuert es nicht gewesen zu sein. Der Mord hängt schwer über Birobidschan. Dmitri, der nicht schießen kann, noch nie geschossen hat, erzählt plötzlich von dem mysteriösen Mädchen und davon, dass er nie geliebt hat und diese auch körperlich nicht umsetzen konnte. Im Anschluss wird ein verpatztes Date von ihm erzählt und stellt so das Nicht-Schießen-Können in einen sexuellen Kontext, zumal er sonderbarerweise denkt hinzufügen zu müssen, dass er nicht schwul sei. Er gibt völlig desillusioniert Alex das als Phallussymbol interpretierbare Gewehr, das dieser im See von Birobidschan versenkt, wo es Gregory dreizehn Jahre zuvor gefunden hat.

Zum zweiten Mal in dieser Woche warf er etwas in die vermeintliche Unendlichkeit des Sees. Man sollte meinen, dass der Junge, nachdem der Fünfhundert-Rubel-Schein wieder herausgefischt worden war, daraus gelernt hätte und seine Methode, Dinge in Birobidschan verschwinden zu lassen, ändern würde. Doch der ganze Tag hatte ihn derart erschüttert, dass seine Erfahrungen wie ausgelöscht waren und er nicht mehr logisch denken konnte. Und außerdem war es ihm gar nicht so wichtig, dass die Sache spurlos verschwand. Eine solch große Bedeutung hatte sie auch nicht.

Bevor Alex aber das Gewehr in den See versenkt, hat er Sex im Freien mit Josephin, der Mutter seiner Freundin Rachel, die den Tod von Jakov und das Verschwinden ihrer Tochter verarbeiten muss. Wieder steht das Gewehr in direkter Verbindung mit der Sexualität, und dieses Gewehr bleibt anscheinend auch in Gregorys Besitz, denn er scheint der wahre Mörder von Boris zu sein, da Gregorys Leiche nie gefunden wurde und Julia ihn sogar hier und da des Nachts beim Streichen von Josephins Haus beobachtet hat:

Rachel sah ihren Vater [Gregory] nie wieder, aber er sah sie. Ab und zu war er da, im Hintergrund, zwischen Bäumen und Büschen, als würde er in diesem Zeitpunkt in Tunguska, im Wald, im ewigen Hintergrund feststecken. Sogar die Beerdigung von Jakov beobachtete er aus der Ferne. So gern hätte er hingehen und Josephin noch einmal umarmen wollen. Aber die Distanz … man gewöhnte sich nicht nur an sie, man wurde davon abhängig.

Daraus lässt sich aus vielen Gründen keine wirkliche Moral flechten. Ein Versuch sähe so aus: Gregory wird im Paradies depressiv, da er sich langweilt. Er findet ein Gewehr, schießt damit, um als selbsterfüllende Prophezeiung später, als Geist und Verschollener, den Gründer des Paradieses, Boris, zu erschießen, der dem Mädchen, das mit einer Bärin verwechselt wird, auf den Weg der Liebe nicht folgen wollte. Die Vertreibung aus dem Paradies gelingt:

Der Mord an Boris veränderte die Zeit in Birobidschan, wie die Atombombe von Hiroshima die der ganzen Welt verändert hatte. Die Möglichkeit des Bösen war auf einmal da, und das war unumkehrbar. Anders war Birobidschan nicht mehr. Was die verängstigten Einwohner besonders erschreckte, war der Gedanke: Einer von ihnen war in der Lage, einen anderen zu töten.

Die biblisch aufgeladene Metaphorik täuscht nicht über diese viel zu überlagerte, und nach allen Seiten hin ausfransende Sprache hinweg. Die Idee, Männer folgen nicht dem Weg der Liebe, folgen nicht ihren Frauen und erzeugen dadurch Hass und Gewalt und zerstören das Paradies, findet keinen Abschluss und dreht auch die abrahamitische Version des Sündenfalls nicht um. Die conclusio bleibt aus. Zu viele Nebenstränge stören, ohne die Metapher des verlorenen Paradieses zu beleben und ihm Konturen und Farben, gar biblisch anmutende Mystik zu verleihen. Das Motiv mag alt sein, aber es hätte mehr Verve, Dichte und Überzeugung verdient gehabt. Literarisch kommuniziert Tomer Dotan-Dreyfus eindeutig mit Tomer Gardi aus Eine runde Sache. Nur lässt dieser keine Möglichkeit aus, humor- und schwungvoll über die Stränge zu schlagen, bspw. bei der Beschreibung der Sintflut:

Als ich aufstehen könnte stand die Arche noch am Gipfel des Kunst Ararats, doch die Welle hat uns alle zerstreut. Schnell in die Arche, schrie der Adler, los, zurück in die Arche! Wir haben keine Zeit mehr, zurück in die Arche! Rex kugte mich an, noch ein letztes mal, drehte sich um, began zu schwimmen, in Richtung die Arche. Über mich in die Luft war der Adler, die Anderen eilten sich jetzt in Richtung die Arche, das Wasser war jetzt fast im Gipfelhohe, der Adler flog hoch über mich und dann senkte er in meine Richtung.

Tomer Gardi aus: „Eine runde Sache“

In verballhorntem Deutsch radebricht der Erzähler über eine imaginierte Sintflut und zieht alle Register der Sprachkunst samt seines treuen Schäferhundes Rex, der ihm die Schuld an dem Schlamassel gibt:

Dü Flüt! Dü Ürchü! Üch hüb üs dür jü güsügt!
Ich schaute ihm an. Das war ja Absurd.
Würüm hübü üch wühl üf düch üntür düm Üpfülbüm güwürtüt?!
Ich weiß nicht warum, das hab ich auch dammals nicht verstanden, was hat es aber dammit zu tun?

Tomer Gardi aus: „Eine runde Sache“

Gardi und auch Dotan-Dreyfus schreiben in der Tradition eines Ephraim Kishon. Der eine bejaht die Tradition und ergötzt sich an der Sprachimagination und Worthuberei, der andere konstruiert ein Metaphernturm in der Art eines Turmes von Babel, aber hilft nicht einmal dabei, ihn wonnig einstürzen zu lassen. So steht er, der Roman Birobidschan wackelnd, um Gleichgewicht kämpfend, um die Pointe der Vergeblichkeit gebracht, am Schluss etwas traurig und mittellos dar.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Voland & Quist Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche auf Kommunikatives Lesen lese ich im Rahmen des Das Debüt-Literaturpreises von Magdalena Saiger Was ihr nicht seht.

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