Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

An den Abgründen vorbeigeschrieben … Nobelpreis für Literatur 2021

Wer nach der Bekanntgabe des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers nach einem Buch von diesem gesucht hat, wird nur in Glücksfällen ein Exemplar ergattert haben. Abdulrazak Gurnahs Romane und Texte sind im deutschsprachigen Raum schon lange nicht mehr aufgelegt worden und waren zu diesem Zeitpunkt selbst antiquarisch eine Seltenheit. Mit „Das verlorene Paradies“ liegt nun eine Neuauflage der Übersetzung von Inge Leipold vor, die das erste Mal 1996 erschienen ist. Der Roman behandelt die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Tansania. Der Protagonist ist Yusuf, dessen Aufwachsen und Erwachsenwerden zwischen Gewalt, Einsamkeit, Verzweiflung und Sprachlosigkeit beschrieben werden. Das dominierende Problem lautet Geld, und um Geld geht es auch, als Yusuf am Anfang des Romans von seinen Eltern als Pfand einem Händler namens Aziz überlassen wird. Gleich zu Anfang des Romans wird also klar, dass die Umstände wenig Raum für Besinnlichkeit, Romantik und Sanftheit lassen.

„Die vibarua, ihre [Yusufs Spielkameraden] Eltern, kamen von überall her, aus den Usambarabergen nördlich von Kawa, von den sagenhaften Seen im Westen des Hochlandes, aus den vom Krieg verheerten Savannen im Süden; viele kamen auch von der Küste. Sie lachten über ihre Eltern, äfften ihre Arbeitslieder nach und tauschten Geschichten über den abstoßenden, säuerlichen Geruch aus, den sie mit nach Hause brachten. Sie erfanden Namen für die Gegenden, aus denen ihre Eltern stammten, komische und hässliche Namen, mit denen sie sich gegenseitig beschimpften und verhöhnten. Manchmal prügelten sie sich, fielen übereinander her, traten sich und taten sich gegenseitig weh.“

Abdulrazak Gurnah aus: „Das verlorene Paradies“

Die Kolonialherrschaft und ritualisierte Machtstrukturen zeigen ihre rohe Gewalt. Geld, die Warenform der Existenz, dominiert alle zwischenmenschlichen Beziehungen, Geld und die diversen Religionen. Yusuf erscheint von Anfang an als blinder Fleck. Sein Innenleben existiert nicht. Er bleibt stumm, wird wie eine besonders wertvolle Ware umhergeschoben. Die Subjektivität bildet sich nicht aus. Weder eine besondere Empathie noch Antipathie offenbart sich. Er ist da, existenzialistisch unentworfen, als freies Paradigma, ohne moralischen Kompass, ohne Passion, Interessen oder Ambition. Zu eng, zu schwer lasten die Verhältnisse auf ihn. Er ist ansehnlich, gesund, und besitzt deshalb viel Wert. Sein Quasi-Verkauf im Alter von zwölf Jahren an den befreundeten Händler rettet der Familie für die nächsten Jahre das Auskommen.  

„Nie dachte er daran, sich zu erkundigen, warum er Onkel Aziz auf seiner Reise begleitete oder warum die Sache so plötzlich hatte entschieden werden müssen. Am Bahnhof sah Yusuf außer der gelben Flagge mit dem grimmigen schwarzen Vogel noch eine andere mit einem schwarzen, silbern eingefassten Kreuz. Die hissten sie, wenn die obersten deutschen Offiziere mit dem Zug fuhren. Sein Vater beugte sich zu ihm hinunter und schüttelte ihm die Hand. Er redete ziemlich lange auf ihn ein, und schließlich wurden seine Augen feucht. Später konnte Yusuf sich nicht erinnern, was er zu ihm gesagt hatte, aber Gott war darin vorgekommen.“

Die Stummheit von Yusuf beschränkt sich nicht auf seine Kindheitsjahre. Das Eingesperrtsein aufgrund von Gewalt, von Gewaltbeziehungen, unterminiert jedes Vertrauen. Selbst das Zuhören, Nachvollziehen, Begreifen fällt schwer. Er bringt nicht die innere Konstanz und Festigkeit auf, sich einer Situation gegenüber zu positionieren. Das Leben fliegt an ihm vorüber, ereignet sich über seinen Kopf hinweg und läuft hinter seinem Rücken ab. Nur die gemeinsame Gefangenschaft erlaubt hier und da so etwas wie Freundschaft wie die mit Khalil, einem anderen Sklaven von Aziz, der im selben Geschäft arbeitet und aus denselben Gründen an Aziz verkauft wurde wie Yusuf. Doch auch die Freundschaft mit Khalil pendelt zwischen intensiver körperlicher Auseinandersetzung, Ignoranz, Gehässigkeit und einer zeitweisen bedingungslosen Solidarität. Am jede jedoch bricht jeweils die Zerstrittenheit der Sprachgemeinschaft über sie herein, so dass oft nur Hohn und Spott zwischen dem arabisch-sprechenden Khalil und den Kiswahili-sprechenden Yusuf übrigbleiben.

„Wenn er [Kahlil] wütend war oder Angst hatte, stieß er einen nicht einzudämmenden Schwall Arabisch hervor, der die Kunden zu schweigendem, aber verständnisvollem Nachgeben zwang. Als er das zum ersten Mal vor Yusuf machte, musste dieser über sein Ungestüm lachen; da trat Khalil auf ihn zu und schlug ihn mitten auf die linke Wange. Die alten Männer lachten glucksend, wiegten sich hin und her und warfen einander vielsagende Blicke zu, als hätten sie die ganze Zeit gewusst, dass das passieren musste.“

Die Welt von Yusuf kennt im Grunde nur Feinde. Die Erwachsenen und späteren Mitstreiter, die Familie, die ihn verkauft, ihn belügt, die Freunde, die verraten und sich auf ihn stürzen, sobald etwas für sie herausspringt, das Wetter, die Landschaft, die Tiere, die ihn verfolgen, bedrohen, bedrängen, sobald er wehrlos in der Nacht unter freiem Himmel schläft. Natur wie Kultur sind als solche, als Landschaft, Heimat, als lebendiger Zusammenhang inexistent. Die Begriffe entfalten unter der Ägide Brutalität und ungezügelter Gewalt nicht ihre sich gegenseitig speisende Dialektik. Die Sterne leuchten weniger, geben weniger Anlass zum Träumen, sobald wilde Hunde des Nachts um einen herumschleichen und nur auf einen günstigen Moment warten, ihren Heißhunger zu stillen.  

„Auf dem Heimweg entdeckten sie Hunde, die sich in den Straßen, über die sich allmählich die Abenddämmerung senkte, zu regen begannen. Bei Licht besehen waren sie schwärig und knochig, ihr Fell räudig. Ihre Augen, im Mondschein so grausam, trieften bei Tageslicht und waren mit Klumpen von weißlichem Eiter verklebt. Schwärme von Fliegen schwirrten um die wunden Stellen auf ihrem Körper.“

Die Beschreibungen lassen auf Schritt und Tritt die dünne Haut spüren, die die Gewalt vom Frieden trennt, die Struktur vom Chaos, das Neben- und Miteinander vom Monströsen. Die Wehrlosigkeit, die Schwäche, die körperliche Unterlegenheit dominieren die Dynamik, ob im Geschäft Aziz‘, in der Familie von Yusuf, ob unter Freunden, oder auf den Wanderungen auf den Handelsrouten. In jeder Situation, bei jedem Ereignis wachen Männer, geben Männer Geleit und stecken den Rahmen ab. Sie erdrücken alles, insbesondere die Frauen.

„Schwere Düfte aus uralter Zeit hingen in der Luft, und aus den auf der Straße vor dem Haus aufgestellten Messingtöpfen stiegen Weihrauchschwaden auf. Sie überlagerten die Dünste der abgedeckten Abflussrinnen in der Mitte der Straße. Die Prozession, die der Braut das Geleit gab, wurde von zwei Männern angeführt, die eine große grüne Laterne in Form eines zwiebelförmigen Palastes mit einer Unmenge Kuppeln trugen. Neben der Braut gingen in zwei Reihen junge Männer; sie sangen und versprühten Rosenwasser auf die Menge, die die Straßen säumte.“

Ständiges Bewachen und Strafen ist an der Tagesordnung. Auch Yusuf ist als junger und schwächerer Mann aufgrund seiner vielbeschriebenen Schönheit stets das Ziel von körperlichen Übergriffen. Das Ergebnis drückt sich in einem abwesenden, freischwebenden Beobachter aus. Traumatisch, in sich gespalten, fern ab, von weit her, werden die Ereignisse beschrieben und gleichen mittelalterlichen Ikonen, in denen sich Farbprächtigkeit, Prunk, Ornamentalität und Perspektivenlosigkeit mischen, ja eine Zweidimensionalität eingeübt wird, die ein Blick von weit her auf die Begebenheiten zwischen den Menschen einübt, Fluchtpunkte und Mehrdimensionalität gar nicht zulassen, noch weniger freigeben oder wenigstens andeuten.

„Kleine Gehölze knorriger Dornbüsche sprenkelten die Ebene, die vereinzelte Aufwölbungen schwarzer Felsen mit dunklen Flecken durchzogen. Wogen von Hitze und Dunst stiegen von der glühenden Erde auf, drangen Yusuf in den Mund und ließen ihn nach Atem ringen. Bei einer Station, an der sie lange hielten, blühte ein vereinzelter Jakarandabaum. Malvenfarbene und purpurne Blütenblätter bedeckten den Boden wie ein schillernder Teppich.“

Die fehlende Tiefenschärfe erklärt die Nüchternheit, mit der die Menschen beschrieben werden, die eben nicht als die Innenwelt einer Außenwelt einer einzigartigen Innenwelt erkannt werden. Es fallen einfach gereihten Sätze, die nicht zu den teilweise bombastischen Beschreibungen einzelner Facetten der Welt passen. Die Menschen, alle, wirken plötzlich wie Fremdkörper und Störenfriede. Selbst der beschreibende Blick dankt ab. Yusuf sieht nicht. Er registriert, sobald er mit Empfindungen, Schmerz, Hoffnung, Verzweiflung oder Todesangst konfrontiert wird.

„Am Spätnachmittag kamen sie schließlich an den Fluss, und als sie auf dem unbewachsenen Uferstreifen standen, sahen sie, wie eine Frau, die ins Wasser gewatet war, von einem Krokodil angegriffen wurde. Die Dorfbewohner und die Reisenden hasteten zu der Stelle, wo der Kampf stattfand, konnten sie aber nicht retten.“

Die Sprache stumpft ab. Die Sätze werden kurz. Protokollartig werden furchterregende Ereignisse in eiskalter Nüchternheit beschrieben, die die lyrischen Abschnitte unterlaufen und so ein eigenartiges Stilgemisch erzeugen. Ein anderes Beispiel beschreibt den kalten Blick der Schaulustigen noch deutlicher. Nicht ein Krokodil zerfleischt eine Frau, sondern Hyänen einen Mann.

„In der Morgendämmerung brach im Lager ein verzweifeltes Geschrei und Geheule los, als sie entdeckten, dass Hyänen einen der schlafenden Träger angefallen und den größten Teil seines Gesichtes zerfleischt hatten. Blut und zähe, schleimige Flüssigkeit tropften von dem rohen Klumpen Fleisch, der noch übrig war. Vor Schmerzen schlug der Mann seinen Kopf wie wahnsinnig auf den Boden. Von überall her kamen Leute gerannt, um das Schauspiel zu betrachten, darunter Kinder, die sich erbittert durch die Menge wanden, um das Ganze aus der Nähe zu beobachten.“

Es bleibt unverständlich, weshalb sich die Kinder „erbittert durch die Menge wanden. Yusuf selbst beobachtet nur, schaut zu, als handle es sich um ein Gewitter, um Regen, um ein Naturereignis nichtssagender Grausamkeit. Menschenleben, so wird bald klar, zählen nicht viel in diesem Tansania. Yusuf selbst zählt nicht viel. Weder seine Geliebten noch seine Freunde, noch sein Onkel oder seine Familie. Er vergisst sie alle, gleitet von einem Moment zum anderen, versucht einen Tag nach dem anderen zu überleben. Nur die Herrscher, die Mächtigen, sind der eingehenderen Beschreibung wert, wie beispielsweise der Sultan.

„Der Sultan war ein hochgewachsener Mann in einem braunen Gewand, das mit einem geflochtenen Strohband um seine Taille geknotet war. Die straffen Wülste seines Oberkörpers schimmerten in dem spärlichen Licht. Er saß auf einem Stuhl ohne Lehne, die Ellbogen auf die Schenkel gestemmt, und umklammerte mit beiden Händen einen dicken geschnitzten Stock, den er zwischen seinen gespreizten Beinen aufgepflanzt hatte. Diese Stellung ließ ihn wissbegierig und aufmerksam erscheinen.“

Von sich selbst weiß Yusuf nichts zu berichten. Als Khalil ihn nach seinen Erfahrungen fragt, vergleicht er sich mit einem Tier, das in Yusufs Welt wie alle Tiere nicht viel zählt. Sein Vergleich wirkt dennoch nichtssagend, leer, beinahe hilflos. In indirekter Rede antwortet er holprig, unsicher, in unzusammenhängenden Assoziationen, die willkürlich herangezogen werden und verhindern, dass das Gefühl Yusufs nachvollziehbar wird.

„Er [Yusuf] erzählte Khalil, wie oft er sich auf der Reise wie ein Weichtier vorgekommen war, das seine Schale abgestreift hatte und nun ungeschützt ausgeliefert dalag, ein abscheuliches, bizarres Tier, das zwischen Schottersteinen und Dornen ziellos seine Schleimspur zog. So waren sie seiner Ansicht nach alle, stolperten blind mitten durch das Nirgendwo.“

Die Schottersteine fanden im ganzen Text keine Erwähnung, auch nicht die Dornen, die das Gehen und Vorankommen erschweren. Das Weichtier jedoch gleitet langsam, weshalb sollte es sich also ob seiner Weichheit und Langsamkeit an den scharfen Kanten stören, und doch liegt es zuerst ausgeliefert da, die Schale abgestreift, von der man keinen Begriff bekommt, was sie symbolisieren könnte, noch weniger, was unter der Schleimspur zu verstehen ist, die es ziellos wie eine Schleppe hinter sich herzieht. Fast als Musterbeispiel einer literarischen Katachrese mündet der Vergleich in ein blindes Stolpern, das mit dem Weichtier nun gar nichts mehr zu tun hat, zumal es plötzlich im Nirgendwo und nicht mehr zwischen Schottersteinen und Dornen stattfindet. Viele Stellen wirken derart zusammengestellt, konstruiert und verbaut, dass der Lesefluss stockt, Verwirrung und ein Gefühl von Beliebigkeit sich einstellen.

In Abdulrazak Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ hat es nie ein Paradies gegeben. Heimat, noch weniger ein Zuhause, können verloren gehen, wo niemand wohnt, und niemand wohnen möchte, noch die Ruhe findet, ein Lebensgefühl auszubilden. Die Zerrüttung eines gebeutelten Landes finden zwar inhaltlich eine deutliche Entsprechung. Kein gutes Haar wird an der Gewalt gelassen, weder an der eigenen noch an der fremden, weder an der kulturellen noch an der kolonialen. Jedoch fehlt es dem Text an innerer Kohärenz. Er ergibt kein Ganzes. Er bleibt sich selbst fremd, unentschlossen. Am Ende fühlt man mit einem sehr verengten, atemlosen Sprachgebilde mit, dem der Autor abhandengekommen ist. Vielleicht zieht sich deshalb Gurnah selbst zu Rate, als jemand von den fernen Gärten und Reisen eines Händlers spricht.

»Wie hat er geheißen?«
»Ein Händler«, erwiderte er.
»Das ist kein Name. Sag mir seinen Namen«, forderte sie und rieb sich an ihm, während er ihre runde, weiche Schulter streichelte.
»Sein Name war Abdulrazak«, erklärte er. »Eigentlich war es gar nicht der Onkel, der diese Worte gesagt hat. Er hat einen Dichter zitiert, der vor vielen Jahrhunderten in Herat gelebt und Gedichte über seine Schönheit geschrieben hat.«
»Woher weißt du das?«
»Weil sein Neffe es so erzählt hat.«

Es bleibt also beim Hörensagen, und so fühlen sich viele Passagen in Gurnahs Roman an, nämlich wie ein Versuch, sich dem Fernen zu nähern, ohne das Ferne zu kennen, das Fremde zu erfassen, ohne dem Fremden den ihm eigenen Raum gewähren zu wollen. Frantz Fanon beschreibt in seinem bekannten Buch „Die Verdammten dieser Erde“ den Stil Gurnahs sehr genau und nimmt diese Form des kolonisierten Intellektuellen im Jahre 1961 antizipatorisch vorweg:

„So [aus den Rückzugsbewegungen] erklärt sich zur Genüge der Stil der kolonisierten Intellektuellen, die diese Phase des sich befreienden Bewusstseins ausdrücken wollen. Ein unausgeglichener, sehr bilderreicher Stil, denn das Bild ist die Zugbrücke, die es den unbewussten Energien erlaubt, in die umliegenden Weiden auszuschwärmen. Ein nervöser, rhythmischer Stil, durch und durch von Eruptivität erfüllt. Farbig, von der Sonne gebräunt und gewaltsam.“

Frantz Fanon aus: „Die Verdammten dieser Erde“

Gurnahs Roman wirkt deshalb wie ein erster, noch sehr vorsichtiger Versuch, sich dem Allerschrecklichsten letztlich wirklich zu stellen. In „Das verlorene Paradies“ bleibt der Vorhang jedenfalls vorerst geschlossen, aber man erahnt unweigerlich den Schmerz, der sich den Worten gewollt-ungewollte noch einmal zu entziehen vermocht hat.

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