
Typischerweise gilt Knut Hamsun, Literaturnobelpreisträger von 1920, als Wegbereiter für die literarische Moderne. Rhetorisch verklärt heißt es, dass er mit seinem 1890 erschienenen Debütroman eine ganz neue Form des Erzählens, eine völlig auf sich bezogene, sich und seinen eigenen Assoziationen überlassene Erzählfigur antizipiere, die im inneren Monolog und Zwiegespräch, in einer sich selbst beobachtenden Art und Weise die Welt erlebt und von diesem Erleben berichtet. Je nach Perspektive gilt dies aber bereits für den Minnegesang eines Walter von der Vogelweides des Mittelalters (um 1200), für Friedrich Hölderlins Hyperion in der Frühromantik (1797) oder für Die Gesänge des Maldoror von Lautréamont (1874). Horizonterweiternd jedoch erweist sich Hamsuns detaillierte, an die Übelkeit angrenzende physiologische Betrachtungsweise psychischer Vorgänge:
„Knut Hamsun: „Hunger““ weiterlesen[Der Knochen] schmeckte nach nichts; ein erstickender Geruch von altem Blut stieg von ihm auf, und ich mußte mich sofort erbrechen. Ich versuchte es wieder. Wenn ich es nur bei mir behalten könnte, würde es wohl seine Wirkung tun; es galt, den Magen zu beruhigen. Ich erbrach mich wieder. Ich wurde zornig, biß heftig in das Fleisch, zerrte ein Stückchen ab und würgte es mit Gewalt hinunter. Und es nützte doch nichts; sobald die kleinen Fleischbrocken im Magen warm geworden waren, kamen sie wieder herauf. Wahnsinnig ballte ich die Hände, war vor Hilflosigkeit dem Weinen nahe und nagte wie ein Besessener; ich weinte, daß der Knochen naß und schmutzig wurde von den Tränen, erbrach mich, fluchte und nagte wieder, weinte, als wollte mir das Herz brechen, und übergab mich abermals.
Knut Hamsun aus: „Hunger“ [Übersetzung: Julius Sandmeier]