Jon Fosse: „ Der andere Name“

Trauerarbeit … Literaturnobelpreis von 2023.

Der andere Name vom Literaturnobelpreisträger 2023 Jon Fosse thematisiert eindringlich die Themen Verlust, Tod, Glaube und Hoffnung. Die monolithische Textgestalt erinnert an Hermann Brochs Der Tod des Vergil und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, jedoch mit der Leichtigkeit eines Samuel Becketts aus Der Namenlose versehen. Wo Bernhard und Broch gegen die Verzweiflung anschreiben, sich in seitenlangen Sätzen gegen das Nichts erwehren, gibt sich Fosse in an Meister Eckhards Mystizismus angelehnter Schicksalsgläubigkeit dem Verschwinden anheim und hofft auf ein Leuchten im Dunkeln:

[…] alles ist aufgeräumt, alles ist an seinem Platz und er liegt nur da und zittert und denkt gar nichts, er zittert nur, und dann denkt er wieder, dass er aufstehen und losgehen soll, und dann wird er die Tür hinter sich absperren und dann rausgehen und er wird zum Meer hinuntergehen und ins Wasser gehen, immer weiter ins Wasser gehen, bis die Wellen über ihm zusammenschlagen und er im Wasser verschwindet, wieder und wieder denkt er das, sonst gibt es nichts, sonst ist da die Dunkelheit des Nichts, die ihn dann und wann, in plötzlichem Aufblitzen, wie ein Leuchten durchfährt, und ja, ja dann wird er von einer Art Glück erfüllt und er denkt, irgendwo gibt es wohl ein leeres Nichts, ein leeres Licht […]

Jon Fosse aus: „Der andere Name“

Inhalt/Plot:

Der andere Name umfasst zwei Tage des Lebens eines Malers, der in Dylgja lebt, einem abgeschiedenen Dörfchen an einem Fjord, nicht weit von Bergen, das mit seinem älteren Namen Bjørgvin bezeichnet wird. Der Maler heißt Asle und lebt gut von seiner Malerei, die in der ‚Galleri Beyer‘ jährlich zur Weihnachtszeit ausgestellt wird. Sein Nachbar Åsleik hilft ihm bei allen Arbeiten rundum das Haus, wofür dieser Einkäufe, Nahrungsmittel und einmal im Jahr auch eines der Gemälde erhält. Asle hat seine Frau Ales verloren, hat mit dem Trinken und Rauchen aufgehört, lebt zurückgezogen und vermisst sie. Neben Åsleik gibt es noch einen weiteren Maler, der in Bjørgvin lebt, ebenfalls mit Kunstmalerei sein Geld verdient und zu allem noch denselben Namen trägt, allein lebt, aber immer noch trinkt, und desweiteren eine Frau namens Guro, mit der Asle einst, noch während er trank, eine Affäre gehabt hat:

[…] und dann sagt sie, ich kann sie gerne besuchen, sie wohnt immer noch in derselben Wohnung wie früher, im Schmalgang 5, erster Stock, sagt sie und dann sagt sie, ich werde mich doch wohl an sie erinnern? so besoffen kann ich nicht gewesen sein? und ich muss mich daran erinnern, dass sie auch  mit mir im Hotel Heimen gewesen ist? sie, Silje oder wie sie nun heißt, denn vielleicht war es eine andere? vielleicht Guro? ja sie hat sogar einmal im Hotel Heimen im selben Bett mit mir geschlafen, sagt sie, und sie erinnert sich daran […]

Plottechnisch erweist sich nun Der andere Name als äußerst vielschichtig und komplex. An der Existenz von Åsleik, dem Nachbarn, Asle, dem Malerfreund und Silje/Guro gibt es keinen Zweifel. Mit ihnen führt der Protagonist direkte Konversation, und auf der Handlungsebene ereignet sich so etwas wie ein Minimalplot. Der Protagonist fährt einkaufen, kehrt zurück und merkt, dass er vergessen hat, nach Asle zu sehen. Ihn überkommt ein schlechtes Gewissen. Er fährt wieder zurück nach Bjørgvin und findet besagten Asle vor Guros Wohnung im Schnee liegen. Er bringt ihn zu einer Arztstation, nimmt sich Asles Hund Brage an, und beschließt ob der fortgeschrittenen Zeit, in der Stadt, in einem Hotel zu übernachten, verläuft sich aber. Guro hilft ihm den Weg zu finden, hilft ihm mit dem Hund. Am nächsten Tag holt er den Hund ab und fährt zurück nach Dylgja. Müde von den Ereignissen fällt er ins Bett und Brage huscht ihm unter die Decke:

[…] und dann rufe ich Brage und er kommt sofort und springt auf das Bett und schlüpft unter die Decke und ich packe uns beide gut in die Decke und Brage legt sich an meine Seite, gut unter der Decke, und ich packe mich gut in die Decke ein und ich fühle mich so müde so müde und dann spüre ich Ales neben mir im Bett liegen und wir umarmen einander fest und wir wärmen einander und ich darf nicht an Ales denken, nicht jetzt, und dann sage ich, ich bin so müde und jetzt will ich schlafen und sie soll auch gut schlafen und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis wir einander wieder sehen […]

Neben der äußeren Handlung gibt es noch einen fortlaufenden, die Handlung überlagernden Erinnerungsvorgang, der jedoch alles andere als klar konturiert wird. Es taucht nun die verstorbene Schwester Alida auf, die gleich in mehrfacher Weise erinnert wird, sowohl von Ales wie von Asle, dem befreundeten Kunstmaler. Hinzukommt Guro, so heißt die Schwester von Åsleik, so heißt aber auch die Freundin von Asle, die sowohl den Ich-Erzähler wie dessen Freund kennt, sich aber selbst auch Silje nennt. Im Fortgang der Handlung wird klar, dass die Szenen, die Erinnerungsweisen sich überschneiden, überlagern, sich durchmischen sollen. Erinnerungen erscheinen als Wirklichkeiten und Wirklichkeiten als Erinnerungen:

[…] und ich sehe Åsleik von hinten mit den beiden Tüten in der Tür stehen und ich weiß auf einmal, dass ich genau diesen Moment nie im Leben wieder vergessen werde, denn es ist ein Blinken, es ist ein Licht darin, strömt ein Licht da rein oder strömt ein Licht da raus, wie ich Åsleik von hinten in der Tür stehen sehe, seine runden Schultern, den fast kahlen Kopf mit einem Kranz aus grauen Haaren, und dann kann ich seinen langen grauen Bart sehen, ich glaube, er hat ihn kaum je mal gestutzt, seit ihm der Bart wächst, denke ich […]

Inhaltlich bleibt es bei den vielleicht 36 Stunden und zwei Fahrten, hin und zurück, von Dylgja nach Bjørgvin, und Erinnerungen an den Beziehungsbeginn mit Ales, an die Kindheit mit der Schwester Alida, an die kleinen Aufgaben und Sorgen, die sich im Alltag stellen, und die unermessliche Einsamkeit der Figuren, die sich nicht trösten können, die allein sind, verlassen, krank und/oder schwach und doch voller Hoffnung, nicht länger allein bleiben zu müssen.

Stil/Sprache/Form:

Der andere Name erweist sich als eine verschriftlichte Form der Fuge und auch des Gregorianischen Gesanges mit Gebeten, Anrufungen und Erinnerungen dazwischen. Fosses Text erhält etwas Karges, Reduziertes, ständig in Gemäuern und Kreuzgängen Widerhallendes. Im Zentrum steht auch seine Beziehung zu Gott und das Bild zweier sich kreuzender Linien, Braun und Lila, oder eben hell und dunkel, silhouettendurchfurchtes Licht und Schatten:

[…] und dann gehe ich hin und stelle mich vor die Staffelei und ich sehe das Bild an, gehe näher hin, gehe etwas zurück, und ich sehe, dass die schwarze Dunkelheit aus dem Bild leuchtet, fast aus dem gesamten Bild leuchtet schwarze Dunkelheit, ja ich habe kaum jemals die schwarze Dunkelheit so aus einem Bild leuchten sehen, denke ich und ich bleibe stehen und sehe das Bild an und ich denke, dieses Bild ist fertig, an diesem Gemälde werde ich nichts mehr tun, und dieses Bild werde ich nicht verkaufen […]

Um dieses Bild, das von Anfang an im Text erwähnt wird, drehen sich die Gedanken, und als Åsleik es benennt, streitet sich der Protagonist mit ihm. Åsleik bezeichnet es als „Andreaskreuz“, und der Ich-Erzähler ärgert sich darüber. Das Benennen vernichtet das Dunkle, das Geheimnis. Er wehrt sich gegen das Benennen. Wie die Namen nicht wirklich von ihm zugeordnet werden, wie Erinnerung und Wirklichkeit miteinander verschwimmen, so darf die Wirklichkeit, die Tatsächlichkeit nicht mit Bezeichnungen vernebelt, verunsichtbart werden:

[…] ich sehe die beiden sich kreuzenden Striche und dann höre ich Åsleik Andreaskreuz sagen, mit seinem bäurischen Stolz sagt er Andreaskreuz und ich spüre einen Widerwillen gegen das ganze Bild, mit dem Bild ist nichts mehr anzufangen, man kann es nur noch wegtun, es wegschaffen, denn es ist fertig, so unfertig es noch sein mag […] es ist tot, es sind nur zwei Striche, zwei Linien, die einander kreuzen, es hat nicht das Licht in sich, das ein gutes Bild haben muss, es ist schlicht und einfach kein Bild, es ist ein Andreaskreuz […]

In diesem Konflikt reflektiert sich Fosses Schreibweise so gut wie gar nichts zu beschreiben, so gut wie überhaupt nicht dem Sinnlichen mit Worten zu nah zu rücken. Er bleibt entfernt. Es heißt ‚Die Mutter‘, ‚Der Vater‘, ‚Die Schwester‘. Es gibt ‚Die Straße‘, ‚Die Arztstation‘, ‚Das Krankenhaus‘ oder ‚Das Bild‘. Nur abstrakte Kategorien, gesprochen aus großer Distanz, dienen die Wörter nur als Verknüpfungspunkte, Überlagerungsknoten der Kommunikation, denn das Sinnliche, das Eigentliche, das Wahre lässt sich nicht bezeichnen, dafür gibt es nicht genügend Wörter, und deshalb würden alle Wörter nur Verschiedenes in einen Topf werfen und hierdurch verunstalten. Das Wort selbst bekommt auf diese Weise, nicht ausgesprochen, vermieden, der Name der Dinge, eine unheimliche, sakrale, transzendente Bedeutung:

[…] ein Licht von Gott, ja das ist ein schöner Gedanke, denke ich, denn das Wort Gott selbst besagt, dass es Gott gibt, denke ich, allein schon, dass es das Wort und den Begriff Gott gibt, deutet darauf hin, dass es Gott gibt, denke ich, oder wie auch immer es sich nun damit verhält, so ist das jedenfalls ein Gedanke, der sich denken lässt, ja wenn vielleicht auch nicht mehr als das, aber ganz sicher ist es so, dass das Licht umso sichtbarer wird, je dunkler, je schwärzer es ist […]

Das Benennen, die Bezeichnung verweist auf die Existenz des Benannten. Auf diese Weise versichert sich Asle der Unvergänglichkeit der Dinge, der Liebe. Es mögen seine Mutter aus Barmen, sein Vater verstorben sein. ‚Die Mutter‘, ‚Der Vater‘ sind jedoch ewig. Sie verbleiben als Ideen, als Verbindungspunkte, zeitlos, mit ihm, seinem Denken, da sein Denken, so will es Asle, in den Kategorien die Ewigkeit des Kosmos erfasst. Asle, Fosses Ich-Erzähler, erweist sich hier als Begriffsrealist und Vertreter des ontologischen Gottesbeweises nach Anselm von Canterbury in seinem Proslogion:

Und sicherlich kann “das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann”, nicht im Verstande allein sein. Denn wenn es wenigstens allein im Verstande ist, kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit da sei – was ja größer ist. Wenn also “das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann”, allein im Verstande ist, so ist eben “das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann”, etwas, über dem doch ein Größeres gedacht werden kann. Das aber kann gewiß nicht sein.

Anselm von Canterbury aus: „Prologion“

Mit anderem Worten, je abstrakter Asle die Welt fasst, desto ewiger wird sie. Die höchste Abstraktion, alle heißen gleich, alle sind gleich, alle sind Mensch, Brüder und Schwestern, ununterscheidbar, verbürgt die Unvergänglichkeit, die Ewigkeit des Bestehenden, der Ideen, und hiermit werden alle Spuren, jede Tat, jede Einzelheit und Detail zugunsten der Unsterblichkeit ausgelöscht. Die Einsamkeit im Konkreten, im einzelnen Leben, die Asle deutlich spürt und unter der er von Anfang an im Roman leidet, wird, zumindest als Idee von Kunst und Religion, durch die Vereinigung im Abstrakten überwunden. Aus diesem Ansatz erklärt sich der äußerst nüchterne, adjektivlose, detaillose, namenlose, kategoriale Stil, den Fosse in Der andere Name anwendet.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Jon Fosses Roman besitzt viele Anknüpfungspunkte. Die Wiederholungen, das Insistieren, die Radikalität des Textes und Stiles sucht die Nähe zu Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, in der sich der Ich-Erzähler Franz-Josef Murau von seiner Familien- und Landesgeschichte freizuschreiben versucht. Bei Fosse will Asle die Bilder, die ihn bedrängen „wegmalen“. Aus dieser Warte aus gesehen realisiert Fosse eine ahistorische, entwurzelte Variante von Bernhards Heimat- und Geschichtsschmerz, indem Asle der Fragilität der Existenz selbst zu entkommen sucht.  Hier meldet sich zugleich ein sehr starker Bezug zu Samuel Becketts Spätprosa, insbesondere Der Namenlose, der ebenso spröde, einfach, abstrakt, aber eindringlich, unheimlich über die Existenz, das Erleben schreibt:

Das Schweigen, ein Wort über das Schweigen, im Schweigen, das ist das schlimmste, über das Schweigen sprechen, dann mich einschließen, jemanden einschließen, das heißt, was soll das heißen, ruhig, ich bin ruhig, ich bin eingeschlossen, ich bin in etwas, es ist nicht ich, das ist alles, was ich weiß, lassen wir das, nämlich, einen Ort machen, eine kleine Welt, eine kleine Welt machen, sie wird rund sein, diesmal wird sie rund sein, das ist nicht sicher, mit niedriger Decke, mit dicken Mauern, warum niedrig, warum dick, ich weiß nicht […]

Samuel Beckett aus: „Der Namenlose“

Die Sätze hören nicht auf, kreisen, wiederholen, versuchen sich selbst zu entkommen und kommen doch immer wieder auf das Dunkle, das Geheimnis, das Unerkennbare des eigenen Lebens zurück, seinen Sinn. Anders jedoch als Beckett und Bernhard thematisiert Fosse noch das Thema Schuld und schlechtes Gewissen und erscheint unter diesem Gesichtspunkt als eine Variation auf Knut Hamsuns Hunger.

Viele Analogien bestehen zwischen diesen beiden Romanen. In beiden steht ein Künstler im Mittelpunkt und das Geldverdienen mit Kunst (Artikelschreiben bei Hamsun, Bilder verkaufen bei Fosse). Beide beschreiben ein irres, verwirrtes Herumstreichen durch die Stadt, die beide Romane mit ihrem veralteten Namen bezeichnen (Oslo/Kristiania – Bergen/Bjorgvin). Beide Protagonisten verfügen nicht über die Fähigkeit mit Zahlen umzugehen und erscheinen unfähig, anderen Tätigkeiten nachzugehen. In summa, fokussieren sich Hunger und Der andere Name auf die entrückte Stellung absoluten Ausdrucksverlangens gegenüber dem Alltag und den eigenen Mitmenschen. Obwohl beide Protagonisten angewiesen sind auf sie und ihre Hilfe, ihre Spenden, ihre Aufmerksamkeit, sehen sie auf sie herab, wie Asle auf Asleik:

[…] und Asleik sagt, das ist das reinste Feine-Leute-Essen, sagt er und er sagt das Wort Feine-Leute-Essen noch einmal, Feine-Leute-Essen ja, sagt er und wieder ist es, als ob Asleik stolz darauf wäre, dass er dieses Wort kann, denn so ist er eben, manche Wörter muss er besonders betonen, muss sie wiederholen und das ist mit einem Wort wie Andreaskreuz noch verständlich, denn gar nicht so viele Leute wissen, was es bedeutet, aber Feine-Leute-Essen, ein so gewöhnliches Wort, ein veraltetes Wort, ja warum sollte man stolz darauf sein, das zu können?

Das schlechte Gewissen schimmert in jeder Hinsicht bei Knut Hamsuns wie Jon Fosses Protagonist hindurch. Sie fühlen die Abhängigkeit. Sie fühlen sich der Gnade ihrer Mitmenschen ausgesetzt, denn sie können nicht für sich sorgen. Sie verbleiben in ihren eigenen Dimensionen, aus denen sie stets für kurze Zeit herausfallen, wenn sie Hunger haben, wenn es ihnen kalt ist, wenn sie sich allein fühlen, durstig werden. Sobald diese Verlangen aber gestillt sind, erheben sie sich über das Triviale, wie auch der Literat in Hamsuns Hunger, der der Wirtin Geld für Kost und Logie zurückgeben muss:

Da steckte ich den Schein wieder in den Umschlag, knülle das Ganze fest zusammen, kehre um und gehe zur Wirtin, die mir vom Tor aus immer noch nachschaut und werfe ihr den Schein ins Gesicht. Ich sagte nichts, äußerte keine Silbe, ich beobachtete nur, ehe ich ging, dass sie das verknüllte Papier untersuchte … He, das konnte man ein Auftreten nennen! Nichts sagen, das Pack nicht anreden, sondern einen großen Geldschein ganz ruhig zusammenknüllen und ihn seinen Verfolgern vor die Füße werfen. Das konnte man ein würdiges Auftreten nennen! So mußte man sie behandeln, diese Tiere!….

Knut Hamsun aus: „Hunger“

Der Literat schuldet der Wirtin Geld, die ihn lange ausgehalten hat. Dankbarkeit aber kennt er nicht. Fosses Protagonist geht zarter vor, aber auch er fühlt sich unangenehm von Guro, der armen und einsamen Trinkerin, und auch von Asleik, dem ungebildeten, aber hilfreichen Nachbarn, berührt. Er entflieht in Entsagung, aber auch in Distanznahme zu ihrer Einfachheit. Ihm steht der Sinn nach Höheren. Das Höhere ebnet Vergangenheit wie Zukunft ein. Sie konfrontiert mit dem Nichts, das aber auch vom schlechten Gewissen befreit, von jeder Verantwortung, von allen Fesseln, die Asle plagen:

[…] aber, um die Wahrheit zu sagen, eigentlich schäme ich mich, Kunstmaler zu sein, Kunstmaler, nur wofür sonst würde ich taugen? Jedenfalls jetzt, so alt, wie ich jetzt bin? Nein ich bin leider nicht für so viel anderes zu gebrauchen als dafür, Bilder zu malen, denn ich war immer ungeschickt, ja bei allem, nur nicht wenn ich zeichne oder male […]

Um der Scham zu entfliehen, geißelt Asle sich wie ein Märtyrer, lässt von allen Sinnenfreuden ab, konzentriert sich nur noch auf das aller Allgemeinste, das Wort selbst, die Kunst, das Leuchtende Dunkel, denn diese verbürgen in ihrer Ferne und Reinheit die Existenz einer Dimension, in der die einzelnen nicht mehr auf sich, auf die eigene Endlichkeit und Fehlbarkeit und Verlassenheit zurückgeworfen werden. Auf diese Weise thematisiert Fosse in Der andere Name mit atemloser Intensität Schuld, Scham und die Angst vor der Einsamkeit, die sich durch Abstraktion und Distanz zu immunisieren sucht, bei diesem Versuch aber scheitert und letztlich Schutz und Wärme durch einen kleinen treuen Hund findet namens Brage.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.

Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

10 Antworten auf „Jon Fosse: „ Der andere Name““

  1. Christiane – Home of abc.etüden ;-) Christiane lebt im Süden Hamburgs, hat einen bunten Schreib-/Gedichte-Blog und einen Regenblog und schreibt, fotografiert und liest gern ;-) https://365tageasatzaday.wordpress.com/ https://regensucherin.wordpress.com/
    Christiane sagt:

    Danke, ich finde deine Besprechung hochinteressant, glaube aber, dass das nicht leicht zu lesen ist bzw. sich nicht leicht erschließt, oder?

    Spontanassoziation: Rainer Maria Rilke

    Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
    Sie sprechen alles so deutlich aus:
    Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

    Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wissen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

    Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
    Die Dinge singen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Dinge um.

    Geschrieben am 21. November 1898 in Berlin-Wilmersdorf

    YouTube verzeichnet eine sehr empfehlenswerte Rezitation von Oskar Werner, und, wenn man bisschen sucht, eine alte Aufnahme aus dem Rilke-Projekt von Xavier Naidoo. Zu Letzterem lässt sich (zu Recht) viel sagen, aber DAS hat er gut gemacht.

    Vormittagskaffeegrüße am Feiertag 🌧️🌳🍃☕🍪

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, das Gedicht von Rilke passt wunderbar. Ich hatte es bereits an anderer Stelle verwendet, hier aber passt es noch viel mehr. Wie Rilke geht Fosse sehr weit und tief in die Materie und den Empfindungsklang der Sprache. Schön, dass du das Gedicht angefügt hast! Vielen Dank. Ich hatte auch das Gefühl, ich hätte mich viel länger fassen müssen, irgendwie, andererseits gibt es hoffentlich einen Eindruck von dem Text, was einen erwartet, wenn Fosse anfängt zu sprechen, zu dichten, zu schreiben! Vielen Dank und Feierabendgrüße!!

  2. marinabuettner – Berlin – Über ein viertel Jahrhundert lang habe ich als Buchhändlerin gearbeitet Inzwischen bin ich immer noch Leserin aus Leidenschaft, aber auch auf die schreibende Seite gewechselt. Ich bin Lyrikerin und illustriere, male und tusche in Berlin.
    marinabuettner sagt:

    Was ich nicht herauslesen konnte: Hat Dir der Roman denn gefallen?

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, es ist oft nicht zu leicht herauszulesen, aber wenn ich schreibe “[…]auf diese Weise thematisiert Fosse in Der andere Name mit atemloser Intensität Schuld, Scham und die Angst vor der Einsamkeit[…]” hat es mir mehr als gefallen. Danke dir für den Tipp! Durch dich ist mir Jon Fosse erst ein Begriff geworden. Viele Grüße!

      1. marinabuettner – Berlin – Über ein viertel Jahrhundert lang habe ich als Buchhändlerin gearbeitet Inzwischen bin ich immer noch Leserin aus Leidenschaft, aber auch auf die schreibende Seite gewechselt. Ich bin Lyrikerin und illustriere, male und tusche in Berlin.
        marinabuettner sagt:

        Ok. Verstehe. Das freut mich! Mir war die Nähe zu Beckett gar nicht so bewusst …
        Viele Grüße!

  3. Wenn du auch die weiteren Teile des Werkes lesen willst, hast du dir ja allerhand vorgenommen, lieber Alexander. Wie du diese ersten beiden Teile beschreibst, scheinen sie sehr ähnlich wie Fosses “Melancholie” , das 2001 erschienen ist, den emotionalen Innenraum eines Menschen auszuleuchten, auszuhallen, mit ähnlichen Stilmitteln wie in den neueren Werken. Es hat mich damals sehr gepackt, und auch beim kürzlichen Wiederlesen ging es mir erneut nahe.
    Danke, dass du immer wieder mit großer Hingabe auch und gerade die sperrigen Werke der Literatur hier vorstellst und uns nahebringst.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, der nächste Band liegt schon hier. Doch ich lese Fosse nicht hintereinander weg – das geht mir zu sehr durch Mark und Bein, habe auch erst über die Lektüre etwa eine Woche später anfangen können nachzudenken. Im Grunde würde ich gerne Beckett davor lesen, dessen Trilogie, aber Zeit ist knapp, für jeden, aber leider erinnere ich mich nur noch sehr schwammig an meine vormalige Beckett-Lektüre vor Jahrzehnten. Ob ich sehr viel Fosse lesen werde, bleibt abzuwarten. Es handelt sich schon um sehr dunkle, sehr intensiv-ängstliche Gefühle, die mich da umwabern. Aber es steckt ein Zauber in seinen Versuchen, ein Zauber, sich von dem zu befreien, ohne wegzuschauen, und das weiß ich zu schätzen. Danke, Ule, dass du meine Besprechungen magst. Ich werde mir auch weiterhin die größte Mühe geben, meinen Leseaspekt herauszuarbeiten, egal wie schwierig das auch manchmal wird (bei Fosse war es sehr schwierig). Viele Grüße!!

  4. Ja, die intensive Angst und den Zauber bei Fosse habe ich auch sehr empfunden. Da entstehen beim Lesen immer wieder Impulse, abzubrechen, das Buch wegzulegen. Aber das misslingt jedes Mal, weil man eingesperrt ist in seine Ängste.

  5. Hab die Besprechung – mal wieder – gern gelesen. Nicht aber das Buch, MEINE Beziehungen zu Gott sind gestört. Hehe. Vergesst nicht, dass Gott Adam bat, alle Dinge zu benennen, was uns ja bekanntlich in den Materialismus geführt hat. Die Materialitaet, die Beckett, ja wohl auch Rilke, irgendwie, Thomas Bernhard, Fosse, zu überwinden versuchen…Gruss! T.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Also, die Beziehung von Fosse zu Gott sind auch gestört, auf eine gewisse Weise, denn er rudert und schwimmt und lebt in einer unsicheren, quasi stark abstrahierten Gläubigkeit – was in dem Buch vor allem heraus kommt, ist die Einsamkeit, die Trauer, der Verlust. Er vermisst seine Frau über alles und deshalb erscheint alles grau in grau. Mich hat das Buch in dieser Beziehung sehr überzeugt. Viele Grüße!

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