1906 erschien das Debüt von Robert Musil, als dieser sich noch als Volontärassistent an der Technischen Hochschule Stuttgart verdingte und alsbald zum Studium der Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik in Berlin einschrieb. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß blieb Musils einzig vollendeter Roman, da von Der Mann ohne Eigenschaften, sein zweiter Roman, 1930 nur der erste Teil erschien und Musil diesen vor seinem Tod 1942 nicht zu vollenden vermochte. Das steht im Zusammenhang mit seinem literarischen Ansatz der psychologischen Mikroskopierung, die schnell ins Ausufernde gerät. In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß jedoch konzentrierte er seinen Stil bis aufs Äußerste:
Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand. Aber sooft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müsste, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen. Und endlich ließ er nach. Es schloss sich eng um ihn, und die Erinnerungen wuchsen in unnatürlicher Verzerrung.
Robert Musil aus: “Die Verwirrungen des Zöglings Törleß”
Die unaufhörliche Division wird später im Der Mann ohne Eigenschaften zum stilistischen Prinzip erhoben. Bei Die Verwirrungen des Zöglings Törleß findet sie dichotomisch noch einen Abschluss, nämlich in der bloßen Beiordnung von Nenner und Zähler zum Verhältnis ohne Ergebnis. Mathematisch wäre dann Törleß die Darstellung eines periodischen, nicht endenden Bruches (bspw. ein Drittel), wohingegen Der Mann ohne Eigenschaften die Vivifizierung des Geistes, wie Musil sie nennt, zu einem irrationalen, also inkongruenten Maßstab verklärt (bspw. das Verhältnis von Umfang zum Durchmesser eines Kreises, also π).
Beim Törleß findet alles noch in einem sehr umgrenzten Rahmen statt. Der kleine Törleß verlässt aus Ehrgeiz und eigenem Anstreben heraus das sichere elterliche Heim, um im Konvikt zu W. eine Erziehung zu genießen, die ihm zu Höherem auf seinem Lebenswege geleiten sollte. Im Konvikt herrscht äußerste Strenge und das Heimweh setzt ihm alsbald zu. Er schreibt viele Briefe nach Hause und verherrlicht in seinen Erinnerungen die Eltern, bis das Heimweh plötzlich abflaut:
Als dann sein »Heimweh« weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine endlich erwartete Zufriedenheit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefüllten in sich erkannte er, dass es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhandenkam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte.
Mit diesen Worten nun hebt die Struktur und das Thema des ganzen Romanes an: Törleß‘ Versuche, seine Gefühle zu durchdringen, die darin enden, dass er diese verdrängt oder einfach vergisst, statt sie zu durchschreiten. Seine Form der Verarbeitung besteht nämlich in der Konfusionierung, in der Analyse, in der „unaufhörlichen Division“ des ihm sich Darstellenden, bis es sich unter der Hand in Luft auflöst wie die Erinnerung an „seine lieben Eltern“. Unterstützt wird die Szene mit dem Heimweh durch die Beschreibung einer Freundschaft zu einem gläubigen, der Religion sehr zugetanen Prinzen, den Törleß anfangs aufgrund seiner geschmeidigen und dezenten Verhaltensweisen sehr verehrt, dessen Gläubigkeit ihm aber dann doch zum Gespött gereicht, woran die noch junge Freundschaft unwiederbringlich zerbricht:
Seit der Zeit hatten sie [der Prinz und er] auch kein Wort wieder zueinander gesprochen. Törleß war sich wohl dunkel bewusst, dass er etwas Sinnloses getan hatte, und eine unklare, gefühlsmäßige Einsicht sagte ihm, dass da dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas Feines und Genussreiches zerschlagen habe.
Hier klingt der Maßstab und das Messen wieder an, die im Finiten oder im Irrationalen enden können. Das Fremde wird dem eigenen Denken unterworfen, bis es verschwindet. Gleich auf den ersten Seiten kündigt sich der zentrale Topos an, dass Törleß die auf ihn einbrandenden Gegensätze nicht zu synthetisieren vermag und sie stattdessen im Konflikt, also durch mehr oder weniger Grobschlächtigkeit zu lösen versucht. Die Gegensätze werden in der dichten Szene mit der Dorfprostituierten Božena klar gesetzt: die Mutter, die für das Reine, das Offene, den Frieden steht, und ihr gegenüber Božena, die den Sex, das Dunkle, das schmutzige Geheimnis verkörpert, von der sich Törleß angezogen und zugleich abgestoßen fühlt. Zwischen diesen Gegensätzen pendelt er wie Buridans Esel zwischen den gleichweit entfernten Heuballen hin und her, ohne sich entscheiden zu können.
Was ist es, das es ermöglicht, dass diese Božena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücken kann? Dass sie sich in der Enge desselben Gedankens an jene herandrängt? Warum berührt sie nicht mit der Stirne die Erde, wenn sie schon von ihr sprechen muss? Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck gebracht, dass hier gar keine Gemeinsamkeit besteht? Denn, wie ist es doch? Dieses Weib ist für mich [Törleß] ein Knäuel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte ….«
Die These und Antithese bricht über den Zögling Törleß ein. Sie treibt den Roman voran und auf sie kommt die Erzählung stets wieder zurück. Das unversöhnliche Nebeneinander-Stehen der Liebe zu seiner sanften, sich ihrem Ehemann unterordnenden Mutter und der Begierde nach der ruchlosen, bärbeißigen, selbstbewusst und unabhängigen Božena illustriert Törleß‘ pathologische Gemütsverfassung zwischen Unterwürfigkeit und Freiheitsstreben. Sie zeigt aber auch an, dass die Idealisierung der Mutter keine Liebe und die Dämonisierung von Božena keine Begierde darstellt. Törleß weiß schlicht nicht, was er begehrt, und weil er nicht weiß, was er begehrt, kennt er das Ich nicht, das all seine Gedanken begleitet. Er kennt sich selbst nicht und so wird sein Leben von der Mechanik der Ereignisse geprägt, ergreift entweder diese oder jene Partei, ohne die Wahl, die ihm gestellt wird, je in Frage zu stellen:
So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinnig. Das Einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden Allgemeingefühle heraus in sein Bewusstsein hob, war das Ticken seiner Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzchen wackelte es hinter dem trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwommen …
Die äußerlich festgesetzte Zeit, das Ticken der Uhr, die automatische Sinngebung ordnet Törleß‘ Emotionen, da er diesen andersweitig nicht beizukommen vermag. Aus seiner Sicht gibt es nur die zwei Optionen, die Begierden zu unterdrücken oder den Begierden freien Lauf zu lassen. Sie aufzuheben, ihren Sinn anzuverwandeln, sie zu durchschreiten, zu vervollkommnen, kann ihm nicht in den Sinn kommen. Die Opposition zieht sich allzu unvermittelt durch sein ganzes Wesen und trennt und zerteilt die Welt in ein impressionistisches Allerleihrauh, zu Rauwaren, eine Folge buntscheckiger Ereignisse, ohne inneren Sinn, ohne Substanz und Verdichtung. Er driftet und zerfließt vor seinem eigenen inneren Auge:
In dem Schlafsaale hörte man nur das ruhige und gleichmäßige Atmen der Zöglinge, die nach der Arbeit des Unterrichtes, des Turnens und des Laufens im Freien ihren gesunden, tierischen Schlaf gefunden hatten. Törleß horchte auf die Atemzüge der Schlafenden. Das war Beinebergs, das Reitings, das Basinis Atem; welcher? Er wusste es nicht; aber einer von den vielen, gleichmäßigen, gleichruhigen, gleichsicheren, die sich wie ein mechanisches Werk hoben und senkten.
Einer der leinenen Vorhänge hatte sich nur bis zur halben Höhe herunterrollen lassen; darunter leuchtete die helle Nacht herein und zeichnete ein fahles, unbewegliches Viereck auf den Fußboden. Die Schnur hatte sich oben gespießt oder war ausgesprungen und hing in hässlichen Windungen herunter, während ihr Schatten auf dem Boden wie ein Wurm durch das helle Viereck kroch.
Dies alles war von einer beängstigenden, grotesken Hässlichkeit.
Diese Schlüsselszene enthält in nuce Musils Romanidee. Törleß schwankt zwischen den Extremen. Es gibt nur das Tierische und das Mechanische. Das Leben genügt entweder dem einen oder dem anderen. Dazwischen gibt es nichts als Häßlichkeit, und da das Leben nicht als geordnetes Törleß entgegentritt, breitet sich ein kolossaler Ekel und ein Gefühl von Abscheu vor allem und jedem in ihm aus. Die Topik Mutter vs. Božena transponiert sich in die Beineberg/Reiting vs. Basini, und wieder sitzt Törleß zwischen den Stühlen. Er lässt sich von Basini wie von Božena verführen, genießt zugleich aber auch die Bestrafung Basinis durch Reiting und Beineberg oder das Lästern und das Herabsehen der Leute auf Božena. Ihm geht es nur um die geistige Reinhaltung seiner selbst, also die Umwertung des Kindergebetes:
Ich bin klein, mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein – Amen.
Törleß ersetzt „Herz“ durch „Geist“ und „Jesus“ durch „Vernunft“ und akzeptiert die selbstgesetzten, inneren seelischen Grenzbezirke, als unüberschreitbar. Er lässt sich treiben, genießt die Verwahrlosung als Beobachter, aber hält sich, droht Strafe und Verantwortung, aus allem heraus. Konsequenterweise zerplatzt der Komplott am Ende des Romans wie eine Seifenblase. Törleß wusste von nichts und lebt unbescholten sein Leben weiter. Er hat sich lediglich an der, seiner Meinung nach, Unvollkommenheiten der anderen berauscht und ist sich keinerlei Schuld bewusst, wie er im Rückblick, gegen Ende des Romans, bestätigt:
So dass, als er einmal von jemandem, dem er die Geschichte seiner Jugend erzählt hatte, gefragt wurde, ob diese Erinnerung nicht doch manchmal beschämend sei, er lächelnd folgende Antwort gab: »Ich leugne ganz gewiss nicht, dass es sich hier um eine Erniedrigung handelte. Warum auch nicht? Sie verging. Aber etwas von ihr blieb für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben.«
Im entscheidenden Augenblick, als die Konviktleitung ihn zu Rede stellt, gibt er dann nur Phrasen dessen wieder, was er von Beineberg oder aus dem Unterricht gehört hat. Er weicht der Frage einfach aus, spricht von Seele, bekennt sich aber nicht zur Religion, spricht über Philosophie, aber bleibt der Logik skeptisch gegenüber. Die Leitung sieht sich mit einem Mischmasch aus Synkretismen konfrontiert und entlässt ihn straffrei.
Jetzt senkte er die Stimme, und, wie von seinem Leide ergriffen, fügte er hinzu: »… Jetzt ist das vorüber. Ich weiß, dass ich mich doch geirrt habe. Ich fürchte nichts mehr. Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen …. Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen ….« Er schwieg. Er fand es ganz selbstverständlich, dass er nun gehen könne, und niemand hinderte ihn daran.
Musil entwirft mit Die Verwirrungen des Zöglings Törleß einen Anti-Entwicklungsroman, einen Gegenentwurf zu Friedrich Hölderlins Hyperion, Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre oder James Joyces Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Törleß erwacht nicht zum Künstler. Musil zeichnet den Möglichkeitsraum eines solchen Erwachens klar nach, um dann das Sich-Verschließen dieses Raumes zu inszenieren. Was Törleß als Möglichkeit von der Erzählposition in Aussicht gestellt wird, wird von ihm nicht ergriffen. Besonders der Vergleich mit Joyces Roman, der 1916 erstmals in Buchform erschien, zeigt die Parallele. Auch in diesem wird zu Anfang das Leben in einem Internat beschrieben, und auch dort gibt es die Assoziationen im Schlafsaal. Ganz ähnlich angelegt liest sich bei Joyce (in der Übersetztung von Klaus Reichert) das Einschlafen Stephen Dedalus, der Hauptfigur des Romans:
[Stephen] erschauderte und gähnte. Es würde herrlich sein im Bett, nachdem die Laken einigermaßen warm geworden waren. Zuerst waren sie so kalt beim Reinkriechen. Ihn schauderte, als er dran dachte, wie kalt sie zuerst waren. Aber dann wurden sie warm, und dann konnte er schlafen. Es war herrlich, müde zu sein. Er gähnte wieder. Nachtgebete und dann Bett: er erschauderte und wollte gähnen. In ein paar Minuten würde es herrlich sein. Er spürte ein wohliges Glühen von den kalten schaudernden Laken hochkriechen, wärmer und wärmer, bis er sich überall warm anfühlte, so ungemein warm; so ungemein warm, und doch erschauderte er ein bisschen und wollte immer noch gähnen.
James Joyce aus: “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann”
Bei Musil heißt es:
Langsam zog sich der Traum von Törleß zurück, – langsam wie eine seidene Decke, die über die Haut eines nackten Körpers hinuntergleitet, ohne ein Ende zu nehmen. Aber doch wich sein Lächeln bald wieder einer sonderbaren Unruhe. War er denn in seinen Gedanken auch nur um einen Schritt wirklich weiter gekommen? […] Abermals bemächtigte sich eine tiefe Unlust und förmlich körperliche Übelkeit seiner. So lag er minutenlang, vom Ekel ganz ausgehöhlt. Dann aber trat plötzlich wieder die Empfindung in sein Bewusstsein, wie sein Körper an allen Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des Bettes berührt wurde.
Im Gegensatz zu Törleß erfährt sich Stephen nicht von außen und verdinglicht. Die Erzählposition bleibt gleich, aber eine andere Wahrnehmungsform sich selbst gegenüber wird erzählt. Stephen erfreut sich an seinen Empfindungen. Er lässt sie gewähren, erforscht und durchlebt sie, öffnet sich für die Vielfalt des Erlebnisses und erfährt sie nicht als Gegensätze, vielmehr als sich verstärkende Momente einer Erfahrung, eines verdichtenden, zur Dichtung geeigneten Augenblicks, und so schließt die Kindheit in Joyce Roman auch mit folgenden Worten:
Er wollte nicht spielen. Er wollte in der wirklichen Welt dem unstofflichen Bild begegnen, das seine Seele so unablässig schaute. Er wusste nicht, wo er danach suchen sollte oder wie: aber eine Vorahnung, die ihn weitertrieb, sagte ihm, dieses Bild werde, ohne jegliches offenkundige Tun seinerseits, seiner Wege kommen. [Stephen und Mercedes] würden sich in aller Stille begegnen, als seien sie einander wohlbekannt und hätten sich zum Rendezvous verabredet, vielleicht an einem der Tore oder an einem geheimeren Ort. Sie würden allein sein, umgeben von Dunkel und Stille: und in jenem Augenblick der allerhöchsten Zärtlichkeit würde er verklärt. Er würde sich unter ihren Augen in etwas Ungreifbares auflösen, und dann, innerhalb eines Augenblicks, würde er verklärt. Schwäche und Scheu und Unerfahrenheit würden von ihm abfallen in jenem magischen Augenblick.
James Joyce aus: “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann”
Die Poesie bleibt im Rhythmus. Die Liebe, die Begegnung der Liebenden lässt sich nicht erzwingen, und so entfaltet und öffnet sich ein lyrischer Raum in Stephen, den er sprachlich zu gestalten versucht, ein Geheimnis, das gleich nah zu all seinen Worten, Gefühlen und Gedanken steht. Im Gegensatz zu Törleß trennt Stephen das Geheimnis, das Rätselhafte nicht von sich ab, verklärt es nicht zu einem Ding-an-sich, das mit ihm, der reinen Geistigkeit, nichts zu tun hat. Stephen wird deshalb Künstler, sich und die Welt erforschend, und beschließt den einengenden Verhältnissen zu entfliehen. Törleß geht den unversöhnlichen Weg der Abspaltung, der in Inspirationslosigkeit endet:
Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff zu der Türe, die hinüberführe, schon in der Hand gefühlt, nur sei er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, dass er auf die Hilfe philosophischer Bücher verzichten müsse, und auch kein rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da, wie er ihn wiedergewinnen wolle. Er machte einige Male Versuche, in seinen Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne dass jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte.
Mit denselben Mitteln, mit derselben Intensität beschreiben James Joyce und Robert Musil das Aufwachsen in einem Konvikt und die sexuellen Konflikte der Heranwachsenden, nur mit völlig verschiedenem Ausgang. Robert Musil zeichnet, auf unheimliche, fast bedrohliche Weise nach, wie ein Leben aufhört, sich nicht entfaltet, sich für den Stillstand entscheidet und an den sich selbst herangetragenen Herausforderungen zerbricht. Eine Leere bleibt zurück, die durch die letzten Sätze und Zeilen von Musils Debütroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß pfeift, ein trauriger Wind der Gezeiten, ein zaghaftes Klopfen, das letztlich verebbt, aber im Unterdruck der Empfindung das Lesen hinaufträgt, dorthin, wo Musils Exposition und Kunst gelingt, egal, welchen Gegenstand sie sich nimmt.
tl;dr … eine Kurzrezension gibt es unter diesem Link.
Materialien zu Törleß finden sich hier [noberto42].
Mit 16-17 etwas muss ich ihn gelesen haben – den Törless. Mein Bruder erinnerte mich dieser Tage daran. Und nun bringen mir deine Zitate das Schaudern des Erkennens zurück (“Er machte einige Male Versuche, in seinen Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne dass jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte.”) Großartig dein letzter Abschnitt.
Der “Mann ohne Eigenschaften” wurde dann meine Leib-und-Magen-Lektüre. Das Gegenstück zum Törless war mir Hans Henny Jahnns “Perudja”, und zum “Mann ohne Eigenschaften Jahnns “Fluss ohne Ufer”. Dazwischen Benns “Verlorenes Ich” und verzweifelte Versuche, sich herauszuwinden aus den Trümmern kindlicher Unschuld und ins Leben zu kommen, Schwierige Zeiten.
…
Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten –
die Mythe log.
Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen.
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen
– allein bei wem?
Ach, als sich alle einer Mitte neigten
und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,
und alle rannen aus der einen Wunde,
brachen das Brot, das jeglicher genoß –
oh ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorne Ich umschloß.
Hallo, G…
Nicht nur die Mythe log, auch Benn hat gelogen, vielmhr getäuscht: Tiefsinn vorgetäuscht, von dem wir uns wieder befreien mussten.
Ein Gruß unbekannterweise!
Liebe Gerda, Danke! Als ich den Blog vor zwei Jahren aus einer Laune heraus begann, geschah dies allein aus dem Grunde, mich mitzuteilen, mit dem insgeheim gehegten Wunsche, solche Antworten, Kommentare wie deinen zu erhalten, die mich weiterführen, mich motivieren, neue Leseeindrücke zu wagen, über meinen unfreiwillig vorhandenen geistig-ästhetischen Tellerrand zu schauen. Dein Kommentar beglückt mich! Ich habe Hans Henny Jahn nie gelesen, und das werde ich nun nachholen können. Ich beginne mit deinen vorgeschlagenen Texten, und auch der Benn, der gerne in diese Untiefen hinab taucht. Er getraut sich zwischen die Gitterstäbe einer selbstgemauerten Existenz zu schauen, die Törleß sich als naturgegeben weiszumachen versucht. Das Gedicht kannte ich nicht – es passt ganz wunderbar. Herzliche Grüße!!
Es ist nur der zweite Teil des Gedichts. Ich wollte deinen Kommentarraum nicht überstrapazieren.
Hans Henny Jahnn war für mich damals unglaublich wichtig, ich habe alles von ihm gelesen, verschlungen, wieder und wieder. Heute? Ich weiß nicht, ob ich es noch ertragen könnte. Ich bin auch räumlich nun sehr weit von jener Welt entrückt, die damals meine Welt war. Die Waage neigt sich in die andere Richtung, und so gilt Benns “die Mythe log” nicht mehr so unbedingt für mich. 🙂
Tatsächlich habe ich es auch so verstanden. “die Mythe” lügt doch nur, wenn sie mit Grenzbegriffen, wie dem Unendlichen erschlossen werden soll. Sie entzieht sich der simplifizistischen Entweder-Oder-Logik. Sie lässt sich mit anderen Worten nicht erzwingen, egal wie lange Törleß bohrt – die Welt zerdacht, dann und erst dann lügt die Mythe, weil die eigenen Strukturen der Welterfahrung lügen (1/0 ist nicht unendlich, sondern eine sinnlose Formel). In Musils Zitat wird dies deutlich:
“Ein Lächeln des Entzückens über den Reichtum der Einfälle, das er noch immer wie zerstreut festhielt, bekam langsam einen kaum merklichen schmerzhaften Zug …
Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.
Aber sooft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst.”
Die Lüge ist in ihm – die Konklusion trifft nicht das Objekt der Aussage (die Mythe), sondern das Subjekt, das sich verschließt und sich dann wundert, dass die Welt an Zauber verliert 🙂
Deine Buchbesprechungen sind für mich oft, sehr oft, so dass sie kein Stein auf dem anderen lassen. Klarsichtig, reflektierend, in Beziehung setzend. Oft ist etwas in Bewegung gesetzt, wirft neue Gedanken auf .
Manche Texte sind so komplex, dass ich eine von vielen möglichen Perspektiven wählen muss – insofern wirkt die Zusammenfassung sehr eingeengt. Andererseits versuche ich ein gewisses Moment herauszuarbeiten, das mir auffiel. In diesem Falle habe ich eigentlich gar nichts über die Sprache geschrieben, mehr über die Struktur, die kreisenden inhaltlichen Bewegungen, weniger Dramatik, als Korrespondenz. “Törleß” lässt sich immer wieder unter anderen Gesichtspunkten lesen, aber diese Leere, die sich einstellt, das Stochern im Ungewissen schien mir ein durchgängiger Gedanken gewesen zu sein. Schön, wenn’s neue Gedanken aufwirft! Viele Grüße und Danke fürs Kommentieren!
Ich möchte auf eine Masterarbeit hinweisen: „Die Übertragung von Motiven aus Maeterlinks Trésor des Humbles in Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (https://docplayer.org/166182159-Masterarbeit-master-s-thesis.html) von S. D. C. Bonvarlet (Wien 2017).