Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“ (Das Debüt 2023)

Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus … Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Das Thema von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman Birobidschan lautet vordergründig Heimatlosigkeit und stellt die Frage, wo die Heimat liegt, wo sie gefunden werden kann, und ob sie nicht als Ort zwischen den Menschen, in den Verhältnissen und Erinnerungen der Menschen untereinander besteht und nur auf diese Weise Realität erlangt. Der Ort Birobidschan, eingeführt als die Möglichkeit eines neuen sozialistischen Paradieses, liegt an der russisch-chinesischen Grenze, fast am Pazifik, genauer am Ochotskischen Meer, aber seine Geschichte, sein geographischer Standort spielen bei Doten-Dreyfus keine Rolle, auch nicht seine relative Nähe zum Ort des bislang ungeklärt gebliebenen Tunguska-Ereignisses. Dotan-Dreyfus improvisiert in Birobidschan über Menschen und ein dörfliches Zusammenleben, das so überall auf der Welt sich abspielen könnte:

[Miriam] lehnte sich gegen den Baumstamm und sprach über den Feiertag [Sukkot]. »Findest du es nicht eigenartig, dass wir schon so lange in Häusern wohnen und trotzdem einmal im Jahr durch diese peinlichen Laubhütten an eine Zeit erinnern, in der wir angeblich kein sicheres Zuhause hatten?«
»Weiß ich nicht«, antwortete [Dmitri] verlegen, »ich habe kein Zuhause.«

Tomar Dotan-Dreyfus aus: „Birobidschan“
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Grit Krüger: „Tunnel“ (Das Debüt 2023)

Romane besitzen ein eigenes Zeitmaß und vermögen es, in raumzeitliche Bedeutungszonen zu entführen. Sie eignen sich daher auch und insbesondere dafür, psychische Abgründe, seelische Labyrinthe, emotionale Sackgassen auszuloten. Das narrative, in sich vielschichtige Netz simuliert die Zustände zwischen Alptraum und Hoffnung in allen Schattierungen. Tunnel von Grit Krüger, das ich im Rahmen des Das Debüt-Bloggerpreises 2023 gelesen habe, handelt von einer jungen Mutter namens Mascha, die aussichtslos, perspektivenlos durch ihr Leben treibt und eine Entscheidung zu treffen hat und trifft: Ein Abenteuer, koste es, was es wolle, muss her.

1.200 Euro: Hydraulischer Rettungssatz, Schere und Spreizer vom Feuerwehrfachbedarf, gebraucht, Expresslieferung, Ratenzahlung möglich. Mascha zögert. Das Gerät zerschneidet Autowracks, öffnet Stahltüren und wird auch einen Weg finden, mit einem Bohrkopf fertigzuwerden, der im Boden steckt. Mascha schluckt. 1.200 Euro in schleichenden Raten weniger für Spaghetti und Toast – aber auch 1.200 Euro, die sie spüren wird, hier und jetzt. Mein Keller, denkt sie, mein Reich, mein Raum.

Grit Krüger aus: „Tunnel“
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Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer … Friede, Freude, Eierkuchen?

Von phantastischer Literatur lässt sich nur vor dem Hintergrund eines entzauberten Weltbildes sprechen. Erst wenn alles scheinbar erklärbar, rationalisierbar und mit Wahrscheinlichkeitsattributen versehbar geworden ist, gibt es eine diesen Erwartungshorizont durchbrechende Fiktionalität, die vordem lediglich Teil einer mystisch aufgeladenen Welt gewesen ist. Phantastik zeichnet sich nämlich in Abgrenzung zum Märchen und zur Fantasy-Literatur dadurch aus, dass die Ambiguität der anderen Welt thematisiert und mit einer wahrscheinlichen (realen, quasi deterministischen) kontrastiert wird, indessen das Märchen oder das Fantasy-Setting die Imagination absolut setzt und immersiv wirken lässt. Gebrochene Fantasy schreiben Mary Shelly, Edgar Allan Poe oder im deutschen Sprachraum Alfred Kubin mit Die andere Seite oder Gustav Meyrink Der Golem, in deren Tradition Jorge Luis Borges und auch Haruki Murakami stehen, der nun einen neuen Roman herausgebracht hat mit dem Titel Die Stadt und ihre ungewisse Mauer:

Waren wir ein Liebespaar? Konnte man das so nennen? Ich weiß es nicht. Doch zumindest waren wir, du und ich, fast ein Jahr lang unzertrennlich. Und irgendwann schufen wir uns eine besondere geheime Welt, nur für uns beide – die wundersame Stadt, umgeben von der hohen Mauer.

Haruki Murakami aus: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
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Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Das späte Leben von Bernhard Schlink … ein schwacher Trost voller Fragezeichen.

Die Konfrontation mit dem Tod kennt viele Gesichter. Es gibt die, die ihn glühend bekämpfen, wie ein Johann Wolfgang Goethe in seinem West-östlicher Divan; die, die ihn stoisch zur Kenntnis nehmen wie ein Michel de Montaigne in seinen Essais; jene, die durch ihn hindurch in die Gesamtheit ihrer Lebensexistenz gelangen und Erinnerungswelten entfachen wie Hermann Broch in Der Tod des Vergil, oder auch die, die ihn flüchten, sich betäuben, bspw. mit Sex wie Michel Houellebecq in Vernichten, oder mit Nachrichten an die Nachwelt trösten wie Irvin D. und Marilyn Yalom in Unzertrennlich. Bernhard Schlink gehört mit seinem neuesten Roman Das späte Leben eher zu den letzteren. Sein Protagonist flieht den Tod:

Beim Abschied vom Arzt hatte er die nötige Entschlossenheit aufgebracht, und er würde es auch bei den Begegnungen mit Frau und Sohn. Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, würde ihm nicht dazwischenkommen. Er zog den Mantel aus, machte Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer. Er wusste, dass, was der Arzt gesagt hatte, ihn noch nicht wirklich erreicht hatte. So war es immer schon gewesen.

Bernhard Schlink aus: „Das späte Leben“
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Friedrich Hölderlin: „Der Tod des Empedokles“

Der Tod des Empedokles … naturgesättigter Idealismus auf Abwegen.

Viele Zeitgenossen wie Achim von Arnim sahen in Friedrich Hölderlin eine Art „Mythenseher“. Insbesondere in seinen späten Hymnen und Balladen wie Brod und Wein, Patmos oder Der Rhein (1800-1806) verdichten sich Hölderlins Natur- und Antikenauffassung. Neben seinen Übersetzungen von Sophokles Werken wie Antigone arbeitete er auch einige Jahre an seiner Tragödie Der Tod des Empedokles (1797-1800). Sie blieb unvollendet, in ihrer Fragmentarizität aber strahlt sie eine hochindividuelle Rätselhaftigkeit aus, die viele Sprach- und Philosophieprobleme der Moderne vorausahnt:

EMPEDOKLES.
Vergehn? ist doch
Das Bleiben, gleich dem Strome den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heilge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab,
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle,
Frägst du, wohin? Die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern, und er endet nicht.

Friedrich Hölderlin aus: „Der Tod des Empedokles“ (Erste Fassung)

Im Folgenden lege ich die erste Fassung von Der Tod des Empedokles meinem Lesebericht zugrunde. Sie ist von allen möglichen Rohformen und Ausarbeitungen die am weitest gediehene, und als Textgrundlage nehme ich die von Friedrich Beißner erstellten historisch-kritischen Stuttgarter Ausgaben.

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Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes … ein etwas anderer Erlenkönig

In Peter Handkes Die Ballade des letzten Gastes kehrt ein verlorener Sohn heim. Das Thema der Rückkehr, die Odyssee, die ihren Abschluss findet und einen Neuanfang erlaubt, verknüpft Handkes Text, der nicht als Roman ausgewiesen ist, mit Birgit Birnbachers Wovon wir leben und mit Thomas Hettches Sinkende Sterne, der ebenfalls explizit auf Homer eingeht. Handkes Ballade beginnt mit dem Motto:

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?
[bei Johann Heinrich Voß übersetzt als: „Wo entflieh ich alsdann?“]

Homer aus: „Odyssee“ [20/43]
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Lutz Seiler: „Kruso“

Kruso von Lutz Seiler … Georg-Büchner-Preis 2023

Der poetische Wiedergänger von Christoph Hein heißt Lutz Seiler. Wo Hein nüchtern, karg, zurückhaltend schreibt, poetisiert Seiler, spielt mit der Sprache, experimentiert mit Phrasen und ornamental ausgeschmückten Prosastanzen. Beide verbindet das Thema: Die DDR. In seinem Roman-Debüt Kruso nimmt Seiler direkt Bezug auf Heins Der Tangospieler und moduliert, paraphrasiert, improvisiert über den angegebenen Rahmen und zwar lyrisch. Beide Protagonisten ziehen aus, um Ruhe zu finden, ziehen für einen Sommer auf die Insel Hiddensee, in eine Höhle und arbeiten dort in einer Gaststätte namens „Zum Klausner“:

Vom Schiff her zog sich eine gepflasterte Terrasse mit Tischen und Biergartenstühlen fast bis an den Steilhang heran. Die äußeren Reihen der Tische waren überdacht und ähnelten Futterkrippen für die Tiere des Waldes. Auf der Schiefertafel neben dem Eingang stand mit schwungvoller Schrift etwas geschrieben, aber Ed war noch zu weit entfernt. Links vom Eingang, über einem Schiebefenster des hölzernen Vorbaus, der zum Radkasten des Dampfers gehörte, hing eine kleine, steife Fahne mit der Aufschrift EIS. Rechts davon, in der Mitte des Vorbaus, war ein handgefertigtes Schild aufgeschraubt: ZUM KLAUSNER.

Lutz Seiler aus: „Kruso“
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Knut Hamsun: „Hunger“

Hunger von Knut Hamsun. Ein Selbstexperiment auf Abwegen … Literaturnobelpreis von 1920.

Typischerweise gilt Knut Hamsun, Literaturnobelpreisträger von 1920, als Wegbereiter für die literarische Moderne. Rhetorisch verklärt heißt es, dass er mit seinem 1890 erschienenen Debütroman eine ganz neue Form des Erzählens, eine völlig auf sich bezogene, sich und seinen eigenen Assoziationen überlassene Erzählfigur antizipiere, die im inneren Monolog und Zwiegespräch, in einer sich selbst beobachtenden Art und Weise die Welt erlebt und von diesem Erleben berichtet. Je nach Perspektive gilt dies aber bereits für den Minnegesang eines Walter von der Vogelweides des Mittelalters (um 1200), für Friedrich Hölderlins Hyperion in der Frühromantik (1797) oder für Die Gesänge des Maldoror von Lautréamont (1874). Horizonterweiternd jedoch erweist sich Hamsuns detaillierte, an die Übelkeit angrenzende physiologische Betrachtungsweise psychischer Vorgänge:

[Der Knochen] schmeckte nach nichts; ein erstickender Geruch von altem Blut stieg von ihm auf, und ich mußte mich sofort erbrechen. Ich versuchte es wieder. Wenn ich es nur bei mir behalten könnte, würde es wohl seine Wirkung tun; es galt, den Magen zu beruhigen. Ich erbrach mich wieder. Ich wurde zornig, biß heftig in das Fleisch, zerrte ein Stückchen ab und würgte es mit Gewalt hinunter. Und es nützte doch nichts; sobald die kleinen Fleischbrocken im Magen warm geworden waren, kamen sie wieder herauf. Wahnsinnig ballte ich die Hände, war vor Hilflosigkeit dem Weinen nahe und nagte wie ein Besessener; ich weinte, daß der Knochen naß und schmutzig wurde von den Tränen, erbrach mich, fluchte und nagte wieder, weinte, als wollte mir das Herz brechen, und übergab mich abermals.

Knut Hamsun aus: „Hunger“ [Übersetzung: Julius Sandmeier]
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Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Annette, ein Heldinnenepos … Deutscher Buchpreis 2020

Im Zuge des explorierenden Lesens gehe ich, bislang, unregelmäßig die Buchpreistitel der letzten Jahren durch. Eine Übersicht der bereits gelesenen Titel findet sich hier. Nach Echtzeitalter von Tonio Schachinger, Blutbuch von Kim de l’Horizon und Antje Ravik Strubels Blaue Frau befinde ich mich nun im Jahr 2020: Anne Weber erhielt den Deutschen Buchpreis für Annette, ein Heldinnenepos:

Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.
Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf
diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch
Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Anne Weber aus: „Annette, ein Heldinnenepos“
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Charlotte Gneuß: „Gittersee“

Lebendig, frech und unübersichtlich … „aspekte“-Literaturpreis 2023

Gittersee von Charlotte Gneuß steht im Zusammenhang der DDR-Vergangenheitsbewältigung. Mit  Bettina Wilperts Herumtreiberinnen (2022) teilt es die Beschreibung der Jugend von in der DDR aufwachsenden Mädchen und die Sehnsucht nach den Sternen. Vergleichbar u.a. Jan Weiler in Der Markisenmann (2022) beschreibt Gneuß, wie die Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit das Privatleben der Betroffenen zerstört. Zusammen mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (2023) geht die Protagonistin auf die Suche nach der Familienvergangenheit, insbesondere ihres Opas Emil, und wie Hari Kunzru in Red Pill (2021) wird psychologisch differenziert beschrieben, wie die Akquise einer Minderjährigen für die IM-Tätigkeit gelingt. Im Gegensatz zu all den genannten Romanen bleibt Gneuß‘ Ton in Gittersee aber derb, humorvoll, lebendig und dreist und erinnert so an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Im Zentrum des Romans steht die sechzehnjährige Karin Köhler, die den Minenarbeiter Paul liebt:

Als Paul am Freitag mit seiner Schwalbe in den Hof geknattert war, hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt, das Kleid glattgestrichen und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert. Klar hatte ich Lust, aber die Kleine könnte jede Minute aufwachen, und dazu war heute Waschtag.

Charlotte Gneuß aus: „Gittersee“
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