
Existenzialistische Romane leben nicht von der Sprache. Sie kommen spröde, trocken, in einfachen Sätzen, fast alltagssprachlich daher wie Albert Camus in Der Fremde oder Der Fall, Simone de Beauvoir in Alle Menschen sind sterblich, Jean-Paul Sartres Der Ekel, sein unvollendeter Romanzyklus Die Wege der Freiheit oder Ernesto Sabato in Der Tunnel. Sie verhandeln philosophische Themen, drehen sich um Thesenuntersuchungen und illustrieren mehr Fragen, als dass sie einen literarischen Stoff bearbeiten und durchformen. Mit anderen Worten, die Erzählung bleibt sekundär. Primär steht die Frage im Zentrum, was ist Freiheit, wie frei ist der Mensch wirklich, wie viel Freiheit ist eigentlich möglich und erträglich. Jan Weiler hat ebenfalls einen existenzialistischen Roman geschrieben: Der Markisenmann. Er kommt vielleicht siebzig Jahre zu spät, aber das spricht nicht gegen ihn und erlaubt ihm sogar ein gewisses Maß an spielerischer Leichtigkeit.
»Ich finde bis heute, dass ich es nicht anders verdient habe. Ich habe das alles getan, und ich muss es wiedergutmachen. Es wäre nicht angemessen, wenn ich danach einfach ein erfolgreiches angenehmes Leben geführt hätte. Mit einer anderen Frau, irgendwo, mit einem tollen Job. Ich habe akzeptiert, dass diese Halle mit diesen Markisen und den Schrauben und dem alten Kombi mein Leben sein soll. Ich muss das so lange machen, bis keine Markisen mehr da sind.«
Jan Weiler aus: “Der Markisenmann”
Der dort in direkter Rede spricht heißt Ronald Papen, die eine der beiden Hauptfiguren des Romans, der von der anderen, nämlich seiner Tochter Kim, in der Ich-Perspektive erzählt wird. Die Dinge, die erzählt werden, sind bereits geschehen und liegen etwa ein Jahrzehnt zurück. Die Erzählerin lässt die Geschichte ihres Vaters, ihrer Eltern, Mutter und Stiefvater, ihren eigenen Werdegang und Übergang ins Erwachsenensein Revue passieren. Über vieles ist Gras gewachsen, und so schwankt der Erzählton zwischen Nachsicht und Einsicht, denn es ist allerhand schief gelaufen in ihrer Jugend. Sie war aggressiv, erhielt schlechte Noten in der Schule, blieb sitzen, klaute und brachte schließlich das Fass zum Überlaufen, als sie ihren Halbbruder Geoffrey während eines Grillabends aus Frust und Hilflosigkeit in Brand setzte:
Ich erzählte, wie Geoffrey mit den Fackeln angetanzt kam, wie Heiko [der Stiefvater] mich vor allen Leuten lächerlich gemacht hatte, wie ich mit dem Spiritus herumgespielt und dann einfach auf die Flasche gedrückt hatte. Ich sagte, dass ich schuld sei, für immer. Und dass sie nicht mehr gewusst hatten, was sie mit mir machen sollten.
Der Markisenmann behandelt also das Thema Schuld. Wie mit Schuld umgegangen wird, wie das Leben sich verändert, sobald die eigene Schuld übernommen, akzeptiert, erkannt wird. Kim erzählt von ihren Erkenntnisprozessen, ihren Fehleinschätzungen, dem Lernen und Aufwachsen, dem Begreifen, dass Entscheidungen und Taten ungewollte und dauerhafte Konsequenzen haben. Weilers Roman behandelt insofern ein sehr typisches existenzialistisches Thema, nämlich wie Momente, Augenblicke, sich tief und fest in das eigene Leben und das der anderen einschreiben und alles weitere fortan bestimmen und einfärben. In Kims Fall gibt es zwei Momente: einen vor ihrer Geburt, der sich zwischen Kims Mutter Susanne und ihrem Vater abgespielt und sich in der DDR, im Jahr 1988 in Beelitz ereignet hat; und der andere 2005, als sie aus Frust ihren Halbbruder in Brand setzte und als Strafe zu ihrem leiblichen Vater nach Duisburg musste. Diese drei Erzählzeiten, 1988, 2005 und Jetztzeit, fungieren als These, Antithese und Synthese in bekannter Entsühnungs- und Vergangenheitsbewältigungsmanier. Der Beginn, die These, ist Kims Geburt und frühe Trennung von ihrem Vater; die Anti-These, die Rückkehr zum besagten Vater, den sie nie wirklich kennengelernt hat; und die Synthese, das Durchschreiten der Konflikte hin zu einer neuen Existenzweise.
Manchmal macht man Dinge, die man später kaum noch erklären kann. Hunderte Entscheidungen, die man über den ganzen Tag trifft, bleiben unergründet. Es lohnt sich auch gar nicht, ihnen hinterherzusinnen, denn sie haben ganz einfache Ursachen: Man hat Hunger. Man möchte in die Sonne. Man will reden. Man möchte einen Film sehen. Man braucht eine Luftpumpe. Es sind schnelle Entscheidungen, und sie sind unwichtig. Doch manchmal kommen sie aus einem Teil der Seele, den man nicht kontrollieren kann. Man muss sich von einem Schmerz befreien, von einem Schmerz, den man nicht in Worte fassen kann, der so unerträglich ist, dass es für die Linderung nur eine einzige Möglichkeit zu geben scheint.
Weilers Roman kommt sehr lapidar daher. Wie ein Roman von Albert Camus, unprätentiös, schnörkellos, geradeheraus. Kurze, kleine Sätze, die wenig Aufhebens um sich machen. Sein Thema liegt auf der Hand: Verantwortung, Vergebung, Schuld und Kränkung. Er handelt von Altlasten, Kontaktabbrüchen, Unfähigkeiten, über sich hinauszuwachsen. Sein zentrales Motiv dreht sich insofern um Taten, die nie wieder rückgängig gemacht werden können, die den Charakter des Handelnden, der Figuren, offenbaren. Im Falle von Ronald Papen ist es der Betrug an seinem besten Freund Heiko, der Verlust seiner großen Liebe Susanne, die Zerstörung seiner kleinen heilen Welt mit dem Resultat, sich fortan mit neuen Augen sehen zu müssen. Albert Camus fasst es in seinem Kurzroman Der Fall wie folgt zusammen:
Wer einem Gesetz anhängt, fürchtet das Gericht nicht, denn es stellt ihn in eine Ordnung, an die er glaubt. Die höchste aller menschlichen Martern ist indessen, ohne Gesetz gerichtet zu werden, und in ebendieser Marter leben wir.
Albert Camus aus: “Der Fall”
Clamence, die Hauptfigur in Der Fall, ein selbsternannter Bußrichter, erzählt von seinem Weg der Selbsterkenntnis, von dem unaufhaltsamen Entblößen seines wahren Charakters durch die Reihung von Taten, die allesamt feige, eitel und ängstlich gewesen sind. Diese Selbsteinschätzung und Scham kreieren die besagten Martern, von denen Clamence spricht, das selbstgegebene und unentrinnbare Erinnyengesetz, sich plötzlich und unfreiwillig mit einem neuen Selbstbild konfrontiert zu sehen, das ganz und gar nicht dem gewünschten und erhofften entspricht. Die Erinnerungen, einmal geformt und ins Bewusstsein getreten, wollen diese Bilder, Schuldgefühle, diese Scham nicht mehr verschwinden lassen. Sie bleiben, denn, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Logik sagt, das Wesen muss erscheinen. Im Falle von Clamence bewirkt dies beispielsweise die unterlassene Hilfeleistung auf der Pont Royal, als sich eine Frau in die Tiefe stürzt und er sie retten hätte können, es aber nicht tat, aus fadenscheinigen Gründen.
Ich hatte schon etwa fünfzig Meter zurückgelegt, als ich das Aufklatschen eines Körpers auf dem Wasser hörte; in der nächtlichen Stille kam mir das Geräusch trotz der Entfernung ungeheuerlich laut vor. Ich blieb jäh stehen, wandte mich jedoch nicht um. Beinahe gleichzeitig vernahm ich einen mehrfach wiederholten Schrei, der flussabwärts trieb und dann plötzlich verstummte. In der unvermittelt erstarrten Nacht erschien mir die zurückgekehrte Stille endlos. Ich wollte laufen und rührte mich nicht. Ich glaube, dass ich vor Kälte und Fassungslosigkeit zitterte. Ich sagte mir, dass Eile nottat, und fühlte, wie eine unwiderstehliche Schwäche meinen Körper überfiel.
Albert Camus aus: “Der Fall”
Clamence versucht sich zu rechtfertigen, aber vergebens. Er weiß, wie er gefühlt hat. Er weiß, was er getan hat, und kommt nicht umhin, sich fortan als Feigling und Heuchler zu sehen. Dasselbe gilt für Ronald Papen in Der Markisenmann. Nachdem er seinen besten Freund Heiko Mitulla betrogen, belogen und versucht hat, diesem seine Partnerin, Kims Mutter, auszuspannen, aber rundherum scheitert und auffliegt, nimmt er alle Schuld auf sich. Er zieht sich zurück, geht auf Heikos Geheiß nach Duisburg, verschwindet aus dem Leben seines besten Freundes und aus dem seiner kleinen, nur wenige Jahre alten Tochter. Noch mit sechzehn weiß Kim zwar, dass Heiko nicht ihr leiblicher Vater ist, verspürt aber dennoch kein Interesse, ihren Vater kennenzulernen. Das ändert sich auch nicht, als sie ihn zum ersten Mal sieht:
Der Zug ging pünktlich, brauchte nicht einmal eine Stunde nach Duisburg, und als ich gegen 17 Uhr ausstieg, waren es deutlich über dreißig Grad. Die Sonne blendete mich, während ich das Gleis nach einem Geschäftsmann absuchte. Als der Zug weiterfuhr, leerte sich der Bahnsteig, und es blieb nur ein Mensch übrig, der als der feine Herr Papen infrage kam. Er kam auf mich zu, und ich war wirklich auf Anhieb vollkommen enttäuscht.
Kims Vater besitzt keine geheimnisvolle Aura. Er wirkt heruntergekommen, arm, vom Leben gezeichnet, unscheinbar, uninteressant. Er wohnt auf einem Gewerbegebiet und entpuppt sich als Markisenverkäufer, der seine Tage damit zubringt, Balkone auszuspähen, wo Markisen fehlen, um den entsprechenden Mietern dann alte Markisen aus seinem noch aus der DDR stammenden Lagerbestand anzubieten. Sein Problem: Er will nicht mehr lügen. Er akzeptiert seine Existenz als Strafe, als Sühne, als Bürde, als das einzige, was ihm von seinem früheren Leben bleibt, denn die Markisen hat er von Heiko übernommen, der sich mit diesem Danaergeschenk an seinem Freund zu rächen versucht hat.
Mein Vater verschwand im Halbdunkel und kehrte wenig später mit zwei Stoffrollen unter den Armen wieder zurück. Er ging zu seiner Werkbank und lud sie dort ab.
»Ich kann Markisen in jeder gängigen Breite anbieten. Und zwei Dessins.« Damit rollte er erst den einen, dann den anderen Stoff aus. Zum Vorschein kamen die beiden abstrusesten Muster, die ich je gesehen hatte. Diese Markisen waren derart scheußlich, dass ich unwillkürlich lachen musste. Während die eine aus einer Melange von braunen, gelben und orangefarbenen Farbverläufen bestand, bestach die andere durch ein schreiendes Neongrün mit gelben und blauen geometrischen Mustern darin. Es war grotesk.
Der lakonische Stil zeichnet die Erzählweise von Der Markisenmann aus. Ronald Papen nimmt sein Schicksal ohne Widerrede an. Wehrt sich Kim am Anfang noch, versucht sie für ihn verärgert, später sogar beschämt zu sein, kümmert sich Papen um nichts mehr. Er nimmt die Markisen, die zwei alten DDR-Dessins ›Kopenhagen‹ und ›Mumbai‹, und versucht sie an den Mann und die Frau zu bringen, und zwar auf rührend ehrliche Weise, bis Kim der Kragen platzt und sie sich Methoden, Narrative, Verkaufsstrategien ausdenkt, wie Papen sein Geschäft auf Vordermann bringen könnte. Papen geht darauf ein, aber vor allem nur, um seiner Tochter wieder näherzukommen. Katalytisch jedoch vollendet sich durch Kims Ideen Papens Wandlung vom DDR- zum BRD-Bürger. Er kommt in der kapitalistischen Marktwirtschaft an, die mittels Slogans und Werbekampagnen, Sprüchen und Narrativen funktioniert, um den Fetischcharakter der Ware zu nähren. Wie Papen in der bundesrepublikanischen Gegenwart ankommt, gelingt Kim der Abschied von der Kindheit und Erwachsen-Werden, ihr eigenes Coming-of-Age, indem sie beginnt, vollständig und reflektiert ihre Taten als ihre Entscheidungen zu akzeptieren und mit den Konsequenzen zu leben. Sie ist insofern die Wiedergängerin von Clamence, der in Der Fall zu dem unbekannten Gegenüber sagt:
Keine Entschuldigung, nie und für niemand, das ist der Grundsatz, von dem ich ausgehe. Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand. Bei mir wird nicht gesegnet und keine Absolution erteilt. Es wird ganz einfach die Rechnung präsentiert: Soundso viel macht es.
Albert Camus aus: “Der Fall”
Kim, die, statt ins sonnige und aufregende Miami zu fliegen, in Duisburg auf einem Gewerbehof, inmitten von Schrott, Trinkern, Spielern und Lebenskünstlern ihren Sommer verbringt, fasst es, bei dem Gedanken, was sie ihrem Bruder angetan hat, ähnlich:
Merkwürdigerweise war es das. Dieser Ort war weder Florida noch Mallorca, im Grunde war es überhaupt kein Ort. Vor uns im Kanal dümpelte ein alter Kahn herum, und die Mücken tanzten vor meinem Gesicht Lambada. Außerdem war mir wegen unseres Gespräches und meiner Schuld, meiner bis an das Ende meiner Tage geltenden Schuld, schlecht. Aber auf eine ganz bezaubernde Weise war dieser Ort friedvoll, sicher und bei aller Brüchigkeit des Anlegers, auf dem wir standen, im dunkler werdenden Sonnenlicht tatsächlich: schön
Der Gewerbehof erzeugt ein Limbo, eine Auszeit. In dieser Parallelwelt heilen Papen und Kim, indem sie durch das engmaschige Ruhrgebiet fahren und DDR-Markisen verkaufen. Sie nehmen diese Tätigkeit auf sich, um ihrer sinnlos gewordenen, aus den Ufern getretenen kommunikativen Existenz einen neuen Handlungshorizont zu verleihen. Dieser besteht nicht nur aus dem Verkauf der Markisen selbst und den Geschichten, die sie beim Verkauf erzählen, den Rollenspielen und der Performance, sondern auch aus der lebenslangen Wartung, die Papen meint, für die Markisen anbieten zu müssen. Er weiß nämlich, dass die DDR-Markisen einen kleinen Defekt besitzen, eine Sollbruchstelle an der Kurbelschraube, die alle Jahre ausgetauscht werden muss. Neben den Verkäufen verbringt er seine Zeit am Feierabend und an den Wochenenden damit, an seiner Drehbank eine Ersatzschraube zu entwickeln, als Forschung und Wiedergutmachung und krönender Abschluss seiner Strafe:
Jahre verbrachte Ronald Papen mit Versuchen, die Schraube nachzubauen und zu verbessern, was ihm nicht gelang. Also entwickelte er Techniken, damit sie wenigstens nicht bereits bei der Montage der Markise brach oder das Gewinde zerstörte. Und er ging aus Schuldbewusstsein und Freundlichkeit schnell dazu über, den Kunden eine lebenslange Garantie einzuräumen, weil die Schraube auch gerne mal brach, wenn man die Kurbel betätigte. Oder wenn Wind aufkam.
Der Markisenmann von Jan Weiler nimmt nicht nur die Thematiken existenzialistischer Romane auf. Er orientiert sich im Stil und Theatralik an den Werken von Albert Camus‘ Theater fürs Absurde und seinem Begriff des modernen Menschen in der Revolte. Ist Kim die Wiedergängerin von Clamence, so Papen der vom Sisyphos. Schlichte Narration, eingängige Sätze, hier und da ein Witz, etwas Melancholie, beigemischt mit Ruhrpottallegorien und einem Potpourri aus dem BRD-Sommer 2005 samt iPods, Bravo Hits, Puhdys, Britney Spears und Fußballergebnissen vom Meidericher Sportverein Duisburg, Schalke 04 und FC Bayern, entwickelt sich ein staubiger, sentimentaler Zauber zwischen zu viel Bier am Nachmittag, zu vielen Fehlern und eigenen Unvollkommenheiten. Weilers Roman exploriert in diesem Sinne narrativ, wie zu leben sei, wenn zu viel Schuld, Scham und Altlasten die Schritte schwer werden lassen. Was übrig bleibt, beschreibt Camus in Der Mythos des Sisyphos:
In dieser Hinsicht ist die Folge seiner [des Menschen] Werke nur eine Sammlung von Niederlagen. Aber wenn diese Niederlagen alle denselben Unterton behalten, hat der Schöpfer das Bild seiner eigenen Lage zu wiederholen gewußt, hat er das sterile Geheimnis, das er besitzt, zum Klingen gebracht.
Albert Camus aus: “Der Mythos des Sisyphos”
In den Fängen der Parzen vergeht die Schuld nicht. Sie bleibt. Kim hat aus purer Bosheit ihren Bruder verletzt und fürs Leben gezeichnet, Papen seinen besten Freund und beste Freundin betrogen und belogen. Beide, in einer Reise durch die Nacht, wie Orpheus und Eurydike suchen den Weg aus der Unterwelt zurück ans Tageslicht. Unermüdlich beweisen sie ihren Willen, aus ihren Fehlern lernen zu wollen. Was nämlich bleibt, nachdem der Stein der Schuld ins Rollen gebracht und die Hoffnung auf Vergebung entfacht worden ist, ist die lebenslange Mühe und Arbeit des Sisyphos:
Es ist zudem das erschütternde Zeugnis für die einzige Würde des Menschen: die eigensinnige Auflehnung gegen seine Lage, die Ausdauer, in einer für unfruchtbar erachteten Anstrengung. Sie erfordert eine tägliche Anstrengung, Selbstbeherrschung, die genaue Abschätzung der Grenzen des Wahren, Maß und Kraft. Sie begründet eine Askese.
Albert Camus aus: “Der Mythos des Sisyphos”
Weilers Der Markisenmann bleibt zwar an der Oberfläche der antiken Tragödien und existenzialistischen Widersprüche zwischen Existenz und Essenz, Sein und Schein stehen. Nichtsdestotrotz behandelt er jedoch ein schwerwiegendes, selten so austariertes Thema, wie es den einzelnen nämlich ergeht, nachdem sie Schuld auf sich geladen haben. Nicht wie es zur Schuld kam, sondern was nach der Einsicht passiert, schuldig zu sein, davon handelt Weilers Roman.
Ich lernte meinen Vater kennen, wenn er niedergeschlagen, aber ungebrochen von seinen einsamen Verkaufstouren kam, und wenn er heiter bis euphorisch seine Abschlüsse notierte. Am Ende kannte ich sogar die traurige Lebensgeschichte von Ronald Papen. Nur meinen Vater habe ich selten gespürt, denn diese Rolle vermochte er nicht zu spielen. Und ich denke, er wollte es auch nicht. Nach so vielen Jahren ins Leben seiner Tochter zu fallen wie ein Konzertflügel aus dem fünften Stock und nach dem Aufprall einfach dort weiterzuspielen, wo er knapp vierzehn Jahre vorher aufgehört hatte, wäre unmöglich gewesen.
Ein sehr bedenkenswerter, besinnlicher, sentimentaler und doch leichter Roman, der sich von einigen Albernheiten abgesehen, schamlos neben Der Fall, Der Fremde, Die Pest oder Die Wege der Freiheit in die Reihe der existenzialistischen Romane stellen kann. Er kondensiert die Essenz dieser Erzählform, indem er durch seine Konstruiertheit und Unglaubwürdigkeit gerade glaubwürdig, ja bedenkenswert wird. Die sentimentale Melancholie schwingt durch die Seiten und zwischen den Zeilen mit, dass Vergebung gerade diejenigen ereilt, die von ihr nicht einmal mehr zu hoffen wagen.
Eine Kurzrezension findet sich hier.
Mich beeindrucken Deine Kontextualisierungen sehr.
Ich versuche das Leseerlebnis mit diesen Kontextualisierungen zu verstärken, ein wenig wie mit einer Linse, ohne aber den Blick auf das Gelesene zu verzerren. Es gelingt nicht immer, aber in diesem Annähern und Entfernen ergeben sich für mich sehr inspirierende Einsichten. Sobald diese ein Eigenleben gewinnen, mag ich das Gelesene danach noch mehr. Freut mich sehr, wenn’s gefällt. Vielen Dank für deinen Kommentar!!
Die Einsichten inspirieren durchaus auch deine Leser:innen.
Mir geht es wie der Mützenfalterin.