Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“

Unterm Staub der Zeit
Unbewusstes Geschichtserleben … Spiegel Belletristik-Bestseller (April 2023)

Wie in jeder Hinsicht so gibt es auch in Bezug auf Geschichte eine direkte, aggressive Art, sich mit ihr zu befassen, oder Abstufung des Indirekten, bis hin zum sanften Aufmerken. Aggressive Sorten der DDR-Aufarbeitung suchen die Konfrontation wie Anne Rabe in Die Möglichkeit von Glück, Hari Kunzru in Red Pill oder Bettina Wilpert in Herumtreiberinnen. Eine Mittelstellung nimmt Helga Schubert beispielsweise in Vom Aufstehen oder Der heutige Tag ein. Jenny Erpenbecks Kairos oder Christoph Heins Unterm Staub der Zeit gehört einer sehr langsamen, zarten Vergangenheitsaufarbeitung an und steht in der gegenwärtigen Literaturlandschaft als Antipode von Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren gegenüer. Im Gegensatz zu diesem fällt Hein die Grenzziehung schwer:

Unsinn, Bert. [Die Abriegelung von Ost-Berlin, von der] der Kerl im Radio erzählt, das geht gar nicht. In Berlin gibt es hundert Straßen, die von Ost nach West und von West nach Ost führen. Selbst wenn sie die alle sperren, dann gibt es noch unterirdisch die U-Bahn und alle möglichen Kanäle. Dann ist da die Spree, ich brauche nur in einer mondlosen Nacht zweihundert Meter zu schwimmen und bin in Westberlin. Da können sie nichts machen. Und außerdem ist da noch die Grüne Grenze, das sind Hunderte Kilometer, die können sie ja nicht mit Stacheldraht verrammeln. Hunderte von Kilometern, nein, da wird es immer genügend Stellen geben, wo man bei Tag und Nacht rüberspazieren kann.

Christoph Hein aus: “Unterm Staub der Zeit”

Inhalt/Plot:

Christoph Heins Unterm Staub der Zeit spielt im Nachkriegsberlin, Ende der 1950er. Daniel, der Protagonist, darf als Pfarrerssohn im Gebiet der DDR nicht ans Gymnasium. Um dennoch die Chancen auf einen höheren Bildungsweg aufrechtzuerhalten, bringt sein Vater ihn mit 14 Jahren nach West-Berlin. Dort, ab der Untertertia (8. Klasse), geht er auf ein Internat, das einen eigenen Klassenzug, den C-Zweig, für die Bildungsflüchtlinge besitzt und von einem Freund des Vaters, dem Pfarrer Sybelius, geleitet wird. Ein Mitschüler klärt ihn auf:

»Im Gymnasium gibt’s vor jedem Schulbeginn frühmorgens ein Gebet, auch dann, wenn wir in der ersten Stunde Russisch haben. Diese Penne gilt ja als außerordentlich, sie ist angeblich die beste von ganz Berlin, aber ich denke, wer an dieser Schule gut beten kann, kommt auch so durchs Abitur.«
»Wir haben also wirklich Russisch? Hier in Westberlin? Mein Bruder sagte es mir, darum habe ich mein russisches Wörterbuch mitgenommen.«
»Jaja, alle vom C-Zweig haben Russisch, weil wir damit drüben, in patrída, der Heimat, schon angefangen haben.«

Zu diesem Zeitpunkt war Berlin noch keine geteilte Stadt und die Übersiedlung in die Westbezirke noch möglich. Der Konflikt innerhalb der Schülerschaft zwischen Ost und West existiert aber bereits. Die Kleidung, die Aussprache, der familiäre Hintergrund trennt jene, die sich im Westen heimisch fühlen, von jenen, die dorthin mussten, um politischer und bildungstechnisch bewusst eingesetzter Benachteiligung aus dem Wege zu gehen. Zwar teilen sie viele Sorgen, vor allem Geldnot, und auch Interessen wie die am Rock’n’Roll, am Bier, am anderen Geschlecht, der Graben zwischen ihnen, zwischen dem A,B- und C-Zweig, sitzt jedoch schon tief:

»Ihr habt es nötig, und die haben es nicht nötig, das ist das ganze Geheimnis eures Erfolgs«, meinte [Faro, der Betreuer], »Ihr müsst euch anstrengen, euch beweisen, die Berliner Schüler, ich meine die Westberliner, können locker bleiben. Wie ist es denn im Lochowbad für euch? Könnt ihr dort ein Mädchen zu einem Eis einladen? Nein, ihr habt kaum das Geld für ein Eis für euch selbst. Also reicht nicht das Einmeterbrett oder das Zweimeterbrett für euch. Ihr müsst vom Zehnmeterturm springen, um die Mädchen zu beeindrucken. Oder hat das Lochowbad nur ein Fünfmeterbrett? Dann solltet ihr darum bitten, dass man für euch einen Zehnmeterturm aufbaut, denn mit fünf Metern beeindruckt ihr keine Mädchen.«

Vor diesem Hintergrund werden nun Daniels Schülerjahre beschrieben. Es wird bereits auf den ersten Seiten klar, dass es in Unterm Staub der Zeit um eine Gedächtniserforschung geht, die nicht stattfindet, um Daniels Werdegang zu beschreiben. Sie findet vielmehr um der vielen winzigen Details statt, die der Erzähler einfängt, während er die Zeit Revue passieren lässt. Ungezwungen, leicht lässt er Jahre, Monate vergehen. Der Text will den Zeitgeist einfangen, ein Bild jenes Berlins, das unabhängig von Politik, unabhängig vom Systemkonflikt, Kollektivschuld, von Ideologie und umkämpfter Deutungshoheit existiert hat.

Paicos, dessen Villa schräg gegenüber von unserem Internat lag, hatte sein Vermögen mit Zigaretten und Zigarren gemacht, für die er aus Griechenland, seiner Heimat, den Tabak importierte. Berühmt war Paicos für seine Packung P4, eine winzige Papiertüte, in der nur vier Zigaretten steckten und die dreißig Pfennige kostete. In einer Zeit, in der die Löhne niedrig waren und es gang und gäbe war, sich beim Zeitungshändler eine einzelne Zigarette zu kaufen, war seine P4 nicht nur bei Schülern und Studenten beliebt, auch Arbeiter und Arbeitslose kauften die kleine Packung, die es in zwei Sorten gab, mild oder extra würzig, beide mit dem Werbeslogan P4 rauchen wir! versehen.

Heins Roman verfolgt hauptsächlich Daniels Bemühungen, Geld zu verdienen, um seine Hobbies zu finanzieren, zu denen das Theatergehen gehört. Daniel versucht eine Zeitlang für eine Werbeagentur, Abonnenten für Zeitschriften und Zeitungen zu gewinnen. Nachdem er aber drei Wochen lang kein einziges Abonnement abschließen kann, heuert er direkt beim Zeitungsverkauf an und tigert durch die Kneipen und nutzt die Graubereiche der kreativen Mathematik für sich aus:

 »Ach, Kleiner«, meinte Manker, »es gibt die höhere Mathematik, aber auch die kreative Mathematik ist nicht zu verachten. Wir rechnen bei diesem Marquardt immer siebzig und mehr Zeitungen ab, egal, was wir verkauft haben. Auch wenn es nur fünfzig oder vierzig waren.«
»Und wie macht ihr das?«
»An solchen Tagen wandern zwanzig, dreißig Zeitungen in den Müll, und ein paar verteilen wir an Freunde.«

Ab siebzig Zeitungen erhält David ein festes Standgeld von fünf Mark, so dass sich die kreative Mathematik höchstwahrscheinlich für beide, aber sicherlich für David und seine Kumpels lohnt. Mit dem Geld in der Tasche machen sie das Nachtleben in Berlin so weit unsicher, wie es die Hausordnung unter der Ägide Sybelius zulässt. Sie haben Beistand von Studenten, die sich im Internat als Nachtwächter ein Zubrot verdienen und die für sie auch schon mal eine Konzertkarte für den Berliner Sportpalast (heute abgerissen) ergattern:

Am Abend des Konzerts übernahm Frieder die Aufsicht im Internat, und wir fuhren mit Faro in die Potsdamer Straße. Wir trafen sehr zeitig am Sportpalast ein, fast eineinhalb Stunden vor Beginn, doch die Potsdamer Straße war in der Höhe des Sportpalastes bereits voller Menschen, fast nur Jugendliche, die meisten trugen Jeans und Jeansjacken. Wir hatten Mühe, als geschlossene Gruppe bis zum Eingang des Gebäudes zu kommen, und wurden immer wieder angesprochen, ob wir nicht eine Karte zu verkaufen hätten.

Der Roman Unterm Staub der Zeit gipfelt im Mauerbau am 13.8.1961. Daniel und David können, wiewohl kurz, respektive unmittelbar vor dem Abitur stehend nicht weiter das Internat in Berlin-Grunewald besuchen. Sie bleiben bei ihrer Familie in Ostberlin und die für unmöglich gehaltene Spaltung der Stadt nimmt ihren Lauf.

Stil/Sprache/Form:

Christoph Hein schreibt eine sehr einfach gehaltene, sehr nüchterne, zurückhaltende Prosa. Sein Stil sucht keine Sprachtranszendenz, keine symbolistischen Wortspielereien, keinen poetischen, lyrischen, klanglichen Selbstbezug. Auf seine Weise realisiert er das einfache Erzählen, das generationenübergreifende Mitteilen einer Begebenheit. Hier: das Leben als Jugendlicher in Berlin vor der Teilung:

Ich war abgehauen und stand als Flüchtling irgendwo auf einer Fahndungsliste. Wenn man mich durch einen dummen Zufall in Ostberlin anhielt, ich mich ausweisen musste und man meinen Namen auf dieser Liste entdeckte, könnte ich Westberlin und das Gymnasium für immer vergessen. Die Tanzstunden in der Ostberliner Friedrichstraße waren gewagt genug, aber da ging es darum, ein Mädchen kennenzulernen, eine Freundin zu finden, eine Frau, die man umarmen kann, deren Haut man berühren und spüren darf, ihre Wärme, ihre Freundlichkeit. Ich suchte eine Frau, die mir zuhört, die mir etwas erzählt, irgendetwas, aber nichts über Ondulieren und Toupieren. Ich brauchte ein Mädchen, das mich anschaut, das mich anlächelt.

Der Ich-Erzähler, Daniel, versucht nicht seinen Handlungen einen tieferen Sinn unterzuschieben. Er spricht aus dem Bauch heraus, unverkrampft und erinnert stilistisch, wie er das Großstadtleben in Szene setzt, in vielerlei Hinsicht an Erich Kästner in seinen Romanen Pünktchen und Anton oder Emil und die Detektive. In ähnlicher Bescheidenheit flaniert der Ich-Erzähler durch die eigene Geschichte, sammelt, hebt auf, beschaut, geht voran, ein wenig zurück, ohne sich drängen zu lassen. Hier spricht ein anderer Zeitbegriff aus Heins Stil, und dieses Mal entschlägt er sich auch aller moralinsaurer Untertöne, die allzu konstruiert in seinem letzten Roman Guldenberg das Narrative empfindlich unterhöhlen, nicht so in Unterm Staub der Zeit, wenn er beispielsweise einen Urlaub auf Hiddensee beschreibt:

In dem Stall hinter der Backstube roch es streng. Eine Leiter stand an der Wand, auf der man in den darüberliegenden winzigen Verschlag klettern konnte. Eine Klappe mit zwei Riegeln, so dass man sie von oben oder unten verschließen konnte, war der Zugang zu meinem Schlafplatz. Auch oben roch es nach Ziegenstall, und ich öffnete sofort das kleine Dachfenster. Dann packte ich meinen Rucksack aus, kletterte hinunter und schaute die [Woll-]Decken durch, die dort aufgestapelt waren. Ich nahm zwei, die weniger verschlissen als die übrigen waren, und warf sie hoch in den Verschlag. Dann wandte ich mich an Karl, der an der Stalltür stand: »Komm, ich lade dich noch auf ein Bier ein.«

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Was Christoph Hein in seinem neuesten Roman betreibt, lässt sich als inhaltlich-, narrativ-geführte Geschichtsschreibung verstehen. Beinahe großväterlich gibt er kleine Anekdoten zum Besten, ohne verführen, überzeugen, oder gar interessieren zu wollen. Er spricht aus dem Gedächtnis in eine Gegenwart hinein, die kaum noch etwas von diesem etwas schmuddeligen, improvisierten Berlin übrigbehalten hat, wie es noch bis in die 1980er Jahre hin fortlebte: Kleine Kioske, Imbisse, in den mit breiter Berliner Schnauze Bier und Pommes rotweiß bestellt wurde. Die Zeitreise gelingt durch die Details:

Eine der Gaststätten meines Reviers durfte ich nicht einmal betreten. Das war das Asia, eine Baracke, die in die Reste einer Kriegsruine hineingebaut worden war und vor deren Eingang ein bullig wirkender Glatzkopf stand, der darüber entschied, wer Einlass bekam und wer nicht. Ich versuchte dreimal, mit meinen Zeitungen in diese Bar hineinzukommen, wurde aber stets von dem Kerl rüde vertrieben, der mit einem Bein auf der Straße stand, das andere stand hinter der halbgeöffneten Tür.

Der bullige Glatzkopf, die im Schatten versteckten Eingänge von Spelunken, die Geheimnisse einer Großstadt in Tausendundeiner Nacht werden in Heins Roman lebendig. Etwas vom Berlin der 1920er Jahre hat die Apokalypse überlebt. Emil und die Detektive streifen noch durch die Nacht und den Morgen auf der Suche nach einem Zauber, einer Möglichkeit, mitzumischen, Abenteuer zu erleben, und sei’s auch nur um ein Extra-Brötchen beim Aschinger zu ergattern.

Nach einem Monat hatte ich mich im Heim eingelebt und kam mit dem neuen Umfeld zurecht. Der Kiez war mir vom Roseneck bis zum Gymnasium vertraut, und ebenso die Umgebung rund um den Bahnhof Zoo, da ich, wenn das Essen im Internat wieder einmal kaum genießbar war, mit Zimmerkameraden ab und zu in der Joachimsthaler Straße zu Aschinger fuhr. Dort bekam man für ein paar Groschen eine Erbsen- oder Gemüsesuppe und auf den Tischen stand eine große Schale mit winzigen Brötchen, die es in der Stehbierhalle kostenlos dazugab und von denen wir gleich mehrere aßen und zusätzlich einige heimlich in die Tasche steckten.

In seiner Anspruchslosigkeit überzeugt Unterm Staub der Zeit vielmehr als andere Chroniken. Es lässt Raum für die Imagination. Es erlaubt mit dem jungen Daniel auf Entdeckungsreise zu gehen. Für manche werden vielleicht sogar eigene Erinnerungen wach in dieser oder einer anderen Großstadt. Heins Roman besitzt den trockenen Zauber eines Der Krieg der Knöpfe von Louis Pergaud, nur mitten in der Stadt, von Erich Kästners Romanen oder auch Der Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl, denn ohne Frage erinnert sich hier ein Erwachsener an eine weit zurückliegende Schulzeit:

Am Nachmittag ging Hans Pfeiffer auf die Budensuche. Der Gasthof Axmacher, den er jetzt verlassen mußte, war das schönste und größte Gebäude am Markt. Es war weithin erkenntlich durch seinen rosafarbenen Bonbonanstrich und durch die großen, kugelförmigen Lorbeerbäume am Portal. Daneben war die Post. Neben der Post die Apotheke. Vor der Post hielt der Omnibus, der zweimal am Tage fuhr; niemand wußte, woher und wohin. Aus der Tür der Apotheke roch es nach Aloe, und im Schaufenster wurde Knoblauchsaft gegen Arterienverkalkung empfohlen. Der Apotheker betrieb nebenbei eine Limonadenfabrikation und hieß Mäusezahl.

Heinrich Spoerl aus: “Die Feuerzangenbowle”

Mit Spoerls Roman teilt Christoph Heins Unterm Staub der Zeit eine heitere Gelassenheit. Hier ist es nicht der Physiklehrer Bommel, der im niederrheinischen Dialekt von seiner Dampfmaschin‘ spricht, sondern der Zeitungsverkaufsleiter Marquardt, der seine Verkäuferbrigade einweist:

»Die Nachtdepesche zu zehn, der Telegraf kostet fünfzehn. Ihr bekommt drei beziehungsweise dreieinhalb Pfennige. Standgeld kriegt ihr ooch, das sind fünf volle Märker, aber die jibt es erst bei siebzig verkauften Blättern. Darunter jibt es nüschte. Ich bin bereit, es mit euch beiden Grünlingen zu versuchen. Könnt ihr sofort anfangen?«

Christoph Hein lässt seinem Gedächtnis freien Lauf und gibt vielen Stimmen Raum und Wort. Sein Roman erinnert an die Leichtigkeit, wie Erzählen möglich ist, ohne Dringlichkeit, ohne Vermessenheit und Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit. Hier spricht ein Ich-Erzähler und lässt alle Fragen offen, und gerade deshalb steht dessen Vergangenheit umso leuchtender vor dem inneren Auge, umso lebendiger wird die Jugendzeit in diesem Berlin, das auch mal Fünfe gerade sein gelassen hat.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 12. September 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Bespreche ich Raphaela Edelbauers Die Inkommensurablen, das es auf die Longlist des deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat.

Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

10 Antworten auf „Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit““

  1. Abgesehen vom Stil und der Sprache, welche von Dir ansprechend dargestellt werden, werde ich das Buch meinem Mann wegen des Inhaltes empfehlen, dessen Bruder dieses Schicksal tragen musste und seinerzeit von seinen Eltern (Vater Pfarrer) von Greifswald nach Westberlin geschickt wurde, um dort zur Schule zu gehen und bessere Bildungschancen zu haben. Getrennt vom Elternhaus und seinen fünf Geschwistern. Das hat er glaube ich sein ganzes Leben nicht verwunden, obwohl er Arzt wurde.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Tatsächlich zeichnet das Buch dann direkt seinen Lebensweg nach – nur nicht in Gänze. Heins Protagonist kann sein Abitur wegen des Mauerbaus nicht mehr ablegen und bleibt mit der Familie im Ostteil. Das Buch liest sich sehr angenehm. Es ist ein Wohlfühlbuch ohne Anstrengung, Urteil, ohne den Versuch, eine besondere Richtung und Färbung in die Erzählung zu bringen. Ich mochte es durch seinen sehr kontemplativen Zug, die Erinnerung und die Vergangenheit selbst zum Erscheinen zu bringen. Vielleicht wird das Buch für manche zu langweilig sein, aber wer sich auf diesen Ton einlässt, der nimmt viel Ruhe und Details und Geschichtsverständnis mit 🙂 Ich hoffe, es wird ihm gefallen. Viele Grüße!

  2. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
    Gerda sagt:

    Der erste von dir zitierte Absatz hat es mir angetan (“Unsinn, Bert…”), er spricht mich direkt an: immer wieder geraten wir in Situationen, deren Charakter wir nicht verstehen und deren Konsequenzen wir nicht erahnen, weil wir zu “gemütlich” denken. Es wird schon nicht so schlimm werden… Auswege gibt es immer … Nichts wird so heiß gegessen, wie… Mich erwischt es schon nicht. Ziemlich unaufgeregt registrieren wir, was geschieht. Da kommt ein Hitler an die Macht, da wird ein Krieg angezettelt (ab jetzt wird zurückgeschossen), da werden jüdische Geschäfte zerstört, da wird eine Mauer gebaut, da werden Schießbefehle erteilt, da wird die ganze Welt in Lock-downs versetzt und zu Impfungen verpflichtet, da wird ein weiteres Land in Schutt und Asche gelegt, da droht ein Atomkrieg … und dann ist “alles noch mal gut gegangen”… Wie schnell sind wir bereit, unerträgliche Situationen zu “normalisieren”.

    Ja, dieser Held – und wir alle, die wir jetzt leben – haben solche Situationen erlebt, haben sie überlebt und sind immer und immer wieder in einem neuen “Normal” angekommen. Und blicken mit einem leichten Lächeln und Schauder zurück auf das “Es war einmal”. “Nie wieder”, sagen wir und beschreiben Äußerlichkeiten, als würen sie das Eigentliche, blind für die Mechanismen, die uns immer und immer wieder in solche menschengemachten Katastrophen hineinsteuern.

    Trotz solcher Bedenken: Deine Besprechung erfreut, sie stimmt ein in ein weitgehend ungefährliches Erinnerungsbuch. Ich verstehe, dass es beruhigen kann, in ein vergangenes Leben einzutauchen, “ohne Dringlichkeit, ohne Vermessenheit und Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit”.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich stimme zu, Gerda. Für mich hat es zudem sehr viele Erinnerung aus West-Berlin der 1980er mobilisiert, eigenartigerweise. Es gab noch sehr viel, was übriggeblieben ist – ich kenne die Radtouren, die Spelunken, das Muffige, die Türsteher, diese Kneipen, die Betrunkenen, auch wenn es nicht Nachkriegszeit in diesem Sinne gewesen. Berlin, nach der Wiedervereinigung, hat sich schlagartig verändert, und als ich das Buch las wie Erich Kästners “Pünktchen und Anton”, ja, da es mich etwas zurückversetzt und zwar liebevoll, ohne Sentimentalität, ohne Romantismen, einfach Dauer, Dauer des Lebens, Dauer des Gedächtnis, das Wunderbare, etwas zu erleben. Ich mochte diese Bescheidenheit. Aber, zu deinem ersten Punkt, das wehret den Anfängen kann ja nur mit Mnemosyne oder einer Eule auf der Schulter gelingen, die fiept, gemahnt und ihren Kopf fast um 300 Grad (es wird 270° gemunkelt, hab’s leider noch nicht nachmessen können :D) drehen kann! Viele herzliche Grüße!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Deine Liste ist zwar bereits sehr lang, aber Heins Büchlein ist kein so ein Mammutschinken wie dein Follett. Es liest sich sehr beschwingt, so wie Pünktchen und Anton 🙂

  3. Eine schöne Leseanregung, Alexander; da werden ganz viele Erinnerungen an die Besuche bei den Großeltern in den 50er- und 60er-Jahren in Ostberlin wach. Wenn mich mal wieder das Bedürfnis überfällt, in Erinnerungen zu schwelgen, werde ich mich an diese Empfehlung erinnern.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, das Buch nimmt einen wirklich mit auf eine Zeitreise. Ich selbst habe das Ende der 1950er und den Anfang der 1960er nicht miterlebt, aber was ich noch kannte, was ich noch erlebte, in seinen Auswirkungen und Nachwirkungen hat mich tief in meine eigene Vergangenheit geführt (Besuche in Ostberlin der 1980er). Es ist nicht so sehr nostalgisch, als öffnend, spielerisch mit dem Gedächtnis interagierend, und so strahlt es einen bemerkenswerten sanften Zauber aus. Sehr bescheiden. Ja, ich kann das Buch empfehlen (bis auf eine einzige seltsame, etwas frivole Szene, die aber für mich nicht weiter ins Gewicht gefallen ist). Viele Grüße.

  4. Das ist wieder einmal eine sehr eingängige und geistreiche Rezension, wie die früheren auch schon. Ein kleines Detail hat mich persönlich berührt, die P4. Als ich 1964 einige Zeit in Paris wohnte, reichte das Geld auch nur für diese vier Zigarretten. Sie kosteten – wenn ich mich recht erinnere – 30 Centimes. Ich frage mich, ob diese Zigarrette mit der Berliner Version übereinstimmte?
    An dieser Stelle mein großer Dank für das Lesevergnügen, was mir dein Blog bereitet.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Hein hat eine sehr eigene Art, in die Zeitgeschichte abzutauchen. Ich empfand bspw. das Zeitungsaustragen als kleine Entdeckung, wie lange habe ich an diese Schülertätigkeit nicht mehr zurückgedacht, und plötzlich erinnerte ich das Klingeln an fremden Türen, das Fragen, ob ein Abo gewünscht ist, bei anderen das Überreichen der Fernsehzeitschriften. Verrückt. Ich mag solche bescheidenen Literaturen, die bescheiden wirken, aber viele Türen zu einer weiten Vergangenheit öffnen. Mich freut es sehr, wenn ich etwas von meiner Lesefreude weitergeben kann! Danke fürs Kommentieren und Mitassoziieren!!

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%