
„Unzertrennlich“ von Marilyn Yalom, Historikerin, and Irvin D. Yalom, Psychoanalytiker, ist als Buch in jeder Hinsicht ein Grenzgänger. Es ist seitens Marilyn Yaloms auf dem Totenbett und seitens Irvin D. Yaloms in einem Alter verfasst worden, in welchem der Herztod jederzeit eintreten hätte können. Sie ist 87 Jahre alt geworden und verstarb im November 2019. Ihr Ehemann Irvin lebt noch und ist nur knapp ein Jahr älter, war also bereits 88 Jahre alt, als sie starb. Grenzgänger ist das Buch, weil es zwischen Autobiographie und Literatur, zwischen Dokumentation und Anamnese, zwischen Leben und Tod, zwischen zwei Menschen steht, die sich mittels dieses Texts versuchen zu verabschieden.
Hauptteil des Buches sind jene Kapitel, in denen jeweils Marilyn und Irvin abwechselnd die letzten Monate vor Marilyns Tod beschreiben. Beide erzählen von denselben Arztbesuchen, denselben Treffen mit Familienmitgliedern und Freunden, aber jeweils aus völlig verschiedenen Perspektiven: Marilyn aus der Sicht der Todkranken, Irvin aus der Sicht des werdenden Witwers. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto klarer wird, dass Marilyn nicht mehr leben möchte und einen Freitod wählen wird, Irvin aber nicht loslassen kann. Marilyn, die ihren Ehemann scheinbar besser versteht, als er sich selbst, gibt ihm mit dem Buch eine Aufgabe, an der er sich halten kann, denn Irvin kennt das Leben gar nicht als alleinstehender Erwachsener.
Obwohl ich nun in meinem achtundachtzigsten Lebensjahr stehe, muss ich immer noch viel lernen über das Leben – vor allem, wie es ist, als eigenständiger, alleinstehender Erwachsener zu leben. Ich habe so viel gemacht in meinem Leben – ich wurde Arzt, kümmerte mich um zahlreiche Patienten, lehrte Studenten, schrieb Bücher, wurde Vater und erzog vier liebevolle, großzügige und kreative Kinder – aber ich lebte nie als ein eigenständiger Erwachsener! Ja, es ist schockierend, aber es ist wahr. Ich wundere mich selbst, und ich wiederhole es immer wieder: Ich habe nie als ein eigenständiger Erwachsener gelebt.
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Das Eigentümliche an diesem Buch ist die Schnittstelle zwischen Privat und Öffentlich, zwischen Leben und Tod, zwischen Heilung und Krankheit, zwischen Schmerz und Liebe, Freude und Angst und Akzeptanz. Es pendelt zwischen allen Welten, weil der Tod ein Alleszermalmer ist. Vor ihm steht jeder gleich. Auch der weltbekannte Psychoanalytiker, der sich plötzlich mit dem Tod seiner über alles geliebten Ehefrau konfrontiert sieht und zum ersten Mal öffentlich vor seinen Kindern die Contenance verliert.
Meine Kinder reden über das Abendmenü und allerlei Aktivitäten, und plötzlich gefriere ich innerlich: Ich kann sie hören, mich aber nicht mehr bewegen. Ich fühle mich wie eine Statue, und meine Kinder werden zunehmend besorgter. »Dad, bist du okay? Dad, was ist los?« Und dann breche ich zum ersten Mal in Tränen aus und versuche unter großer Anstrengung zu sagen: »Sie ist nicht hier, sie ist nirgends. Marilyn wird nie, nie wissen, was hier heute geschieht.« Meine Kinder wirken schockiert: Niemals zuvor haben sie mich weinen sehen.
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Im Gegensatz zu Marilyn, die feministische Sachbuchautorin und US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin gewesen ist und Bücher unter anderem wie „Eine Geschichte der Brust“ und „Freundinnen. Eine Kulturgeschichte.“ geschrieben hat, verfasste Irvin noch neben seinen Sachbüchern zur Gruppentherapie Romane wie „Und Nietzsche weinte“, „Die Schopenhauer-Kur“ und „Das Spinoza-Problem“. Wie „Unzertrennlich“ sind auch diese Bücher in einer eigentümlichen, anti-elitistischen Art geschrieben, die jedes Ornament, jede Hürde für das Verständnis umschifft und einzig darauf bedacht ist, eine gute Stimmung zu verbreiten. Teil seines Stils ist es eben, keinen zu haben. Er plaudert aus dem Nähkästchen ohne jeden Manierismus. Er ist nahbar, ansprechbar, nicht abgehoben, sondern mittendrin. Nichts wird gerechtfertigt, erklärt, nichts wird in einem größeren, geheimnisvollen Zusammenhang gebracht, denn Metaphysik ist dem Autor ein Fremdwort. Am Menschen ist für ihn nichts Geheimnisvolles.
Ich [Irvin] erklärte dir [Marilyn], dass ich großen Trost in der Vorstellung fand, mit dir im selben Sarg zu liegen, mein Körper in der Nähe von deinen Knochen, mein Schädel in der Nähe von deinem Schädel. Ja, ja, natürlich sagt mir mein Verstand, dass du und ich nicht dort sein werden – was bleibt, ist empfindungsloses, seelenloses, verwesendes Fleisch und nichts als Knochen. Und doch bietet die Idee, nicht die Wirklichkeit Trost. Ich, ein leidenschaftlicher Materialist, gebe meine Vernunft auf und erwärme mich ohne jede Scham an dem vollkommen fantastischen Gedanken, dass wir für immer und ewig zusammen sein werden – wenn wir nur beide im selben Sarg lägen.
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Keine Seele, keinen Gott, keine Unsterblichkeit, keinen Trost, keine Erklärung, oder Schicksal, einfach keine Transzendenz. Beide Irvins haben im Diesseits gelebt, im Diesseits gewirkt und nirgendwo auch nur einen Hauch einer Dimension des Unnahbaren akzeptiert. Alles blieb ihnen Kulturpraxis. Und so konnte Irvin D. Yalom auch über die verschrobensten Metaphysiker schreiben, als wären es freundliche, inspirierte Menschen von nebenan, mit denen man gerne grillt, Schach spielt und über das letzte Basketball-Spiel plauscht. Mit dem Säkularismus Ernst gemacht, haben sie sich am Ende den Tod vorgenommen und dies auf eindrucksvolle Weise. Gegen den Tod stellen sie nur das Weiter des großen Ganzen ihres Familien- und Bekanntenkreises aus ihrer Praxis in der Universität, als Arzt, Lehrerin, als Freund, Freundin und Vortragende auf Lesungen und internationalen Konferenzen. Das Leben als großes weites Feld, in welchem die einzelne Existenz Wellen schlägt, die langsam wieder verklingen.
Einige Seiten später stoße ich [Irvin] auf meine Beschreibung des »Welleneffekts« – der Vorstellung, dass unsere Taten und Ideen Auswirkungen auf andere haben, also Wellen schlagen, vergleichbar einem Stein, den man in einen Teich wirft.
Fast alle anderen Bücher sind nun gegangen, haben leere Regale und eine große Leere in meinem [Marilyns] Herzen hinterlassen. Dennoch, der Gedanke, dass Marie-Pierre diese Bücher mit anderen teilen wird, gibt mir Hoffnung, dass sie Wellen schlagen werden im Leben von anderen.
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Sie leben für das Glück mit den anderen, für den Moment, für die Familienfeste, für die Trauer, die Zweisamkeit, die Intensität des gelungenen Gesprächs. Gegen ihre Offenherzigkeit streckt jede Ideologie ihre Waffen. Sie haben nichts zu verstecken, nichts zu verbergen. In ihrer US-amerikanischen Art sind sie zugleich bescheiden wie unbescheiden über ihren Erfolg, zugleich stolz und dankbar, zugleich prahlend wie demütig, fast reuevoll. In jedem Moment wissen sie, dass sie ein privilegiertes Leben genossen haben. Stets bedenken sie andere, die dieses Glück nicht hatten, ohne jedoch ihre eigenen Errungenschaften nur auf das Privileg, das sie ohne Frage besaßen, reduzieren lassen zu wollen.
Als sie [Margo Davis] eines Tages in einem meiner Stanford-Kurse sprach, schaute sie sich um und kommentierte: »Es ist nichts falsch an Privilegien. Jeder sollte sie haben.«
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Der Zauber, den „Unzertrennlich“ entfacht, liegt in dieser entwaffnenden Fröhlichkeit, in dieser ungetrübten Hellsichtigkeit und Freundlichkeit, in der alles Thema werden kann und darf, alles auf seine Weise sucht und findet, kämpft und überwindet und darin eben Glück und Unglück verspürt und erfährt. Am Ende sind es stets die kleinen Dinge, die so viel bedeuten, aber eben nur für jene, die Teil von diesen kleinen Dingen gewesen sind, Dinge, die andere so gar nicht verstehen und erfassen können, selbst, wenn sie es versuchen oder wollen.
Es fällt so schwer zu begreifen, dass all die Bücher und Papiere und Dinge, die mein Leben begleitet haben, für meine Kinder und Enkelkinder nur wenig Bedeutung haben werden. Tatsächlich werden sie wohl eine Last für sie darstellen. Ich weiß, dass ich ihnen einen Gefallen tue, wenn ich so viel »Kram« wie möglich loswerde. […] Was werden sie mit diesem Etwas machen, das als »Irvs High School Freundschaftsnadel, geschenkt Marilyn 1948« etikettiert ist?
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Diese Freundschaftsnadel gab den Auftakt zu einem gemeinsamen Leben, einer Ehe, die über fünfundsechzig Jahre Bestand hatte. Aber selbst diese Nadel repräsentiert und symbolisiert für die Kinder von Marilyn und Irvin nicht dasselbe, dessen werden beide sich völlig und unmissverständlich klar. Die Kinder haben ein eigenes, von ihnen unabhängiges Leben. Sie leben in der „Leichtigkeit des Seins“ und erfahren deshalb den Tod umso grausamer als Einschnitt und gewaltsames Auseinanderreißen, vor dem nichts schützt.
Ich weiß, dass ich in ätherischer Form im Kopf jener existieren werde, die mich gekannt oder meine Werke gelesen haben, aber in einer Generation oder in zweien werden alle, die mich leibhaftig gekannt haben, verschwunden sein. Ich werde unser Buch mit den unvergesslichen Eröffnungsworten von Nabokovs Autobiografie beenden: »Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.« Dieses Bild lässt einen taumeln und beruhigt einen zugleich. Ich lehne mich zurück auf meinen Stuhl, schließe meine Augen und finde Trost.
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Seltsamerweise bleibt just in diesem alles entscheidenden Punkt eine Spur Metaphysik bestehen, eine Schicksalsgläubigkeit, eine ganz und gar nicht un-Hippokratische Gesinnung, den Tod nämlich annehmen zu müssen, ihn zu akzeptieren, Leben selbst als „kurzen Lichtspalt“ zu begreifen und sich als Mensch eben nicht als selbst erzeugendes Licht, als über sich hinauswachsenden Zusammenhang zu verstehen oder poetisch zu imaginieren. Eines der größten Denkverbote bleibt, dass der Tod wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Individuen hängt, der Kampf gegen den Tod eine Sisyphusarbeit bleibt, er über alles Leben und jeden richtet, es gleichrichtet und heimsucht. Beide haben hier eine interessante Dimension ihrer vielzitierten Philosophen unberücksichtigt gelassen, denn Nietzsche schreibt beispielsweise:
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Friedrich Nietzsche aus: “Also sprach Zarathustra“
Der Philosoph, der wie Kraut und Rüben dachte, akzeptierte keine Schranken, wie widersinnig oder moralisch oder sittlich, religiös, traditionell auch immer sie gezogen wurden. Ein anderer Erbe dieses Nietzscheanischen Chaosdenkens ist Theodor W. Adorno, der ebenfalls in der Abschaffung des Todes die wahrste aller möglichen Utopien erblickte. In diesen Überschwang, ja, in diese tänzerische, freie, das Chaos des Unwägsamen, die Poesie des Moments in der sprachlichen Selbstzentrierung und unbeeindruckten, ferngrammatikalischen Abenteuerlichkeit des Begehrens, Wünschens und Wollens, das über sich hinaus, zu den anderen, in Ernst Blochscher Manier die Welt als „Experimentum mundi“ begreifenden Dimension trauen sich die Irvins nicht. Sie sind zufrieden und bescheiden, aber vielleicht auch zu vorsichtig. Vielleicht steckt hinter ihrer Bescheidenheit aber auch die Angst, dass das Moment der Utopie wieder ein Moment des Unwägbaren in die Welt hineinführt und Katastrophen nach sich zieht, dass in jeder Utopie noch immer viel zu viel Unkontrollierbares und Libidinöses steckt, als dass man ihr trauen sollte.
Was am Ende dem Buch fehlt, fehlt ihm in der Sprache, wie im Inhalt, in den trauernden, sich abfindenden Gesten der Betroffenen. Es fehlt das Trotzige, das Poetische, das Lyrische. Weshalb zürnt Irvin D. Yalom nicht der Medizin, dass sie Marilyn nicht heilen konnte, warum zürnt er nicht einer Welt, die beständig Menschen sterben lässt, wieso muss der Tod angenommen, als unvermeidliches Übel akzeptiert, ja, der Raub am Ende toleriert werden, den dieser verübt, als er Marilyn aus Irvins Leben reißt, Marilyn zum Verschwinden bringt? In dem Buch gibt es keine Wut, kein Aufgebehren, keinen Trotz, und insofern haben sie bewusst oder unbewusst eine der vielen feineren Anmerkungen und Lektionen von Nietzsche und Freud nicht gehört oder hören wollen. Zwar wird gesagt:
Offensichtlich bin ich [Irvin] gerade in großer Bedrängnis, und es ist kein Zufall, dass ich regrediere. Wie ein Kind suche ich kreischend nach mütterlichem Beistand. Ein Satz, den ich in irgendeinem meiner Bücher gebraucht habe, kommt mir in den Sinn: »Freud hatte nicht mit allem Unrecht.«
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom aus: “Unzertrennlich”
Aber womit hatte er kein Unrecht? Doch wohl mit den letzten Sätzen aus seiner Schrift „Das Unbehagen der Kultur“, die da lauten:
Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?
Sigmund Freud aus: “Das Unbehagen in der Kultur“
Der Konflikt ist noch nicht ausgestanden. Selbst der kulturpessimistische Sigmund Freud hielt alles für möglich. Marilyn Yalom konnten nicht mehr geholfen werden, wurde aber von Herzen geliebt und wird aus vollem Herzen vermisst. In diesem Sinne könnte das Buch „Unzertrennlich“ also ein weiterer kleiner Schritt in die Richtung sein, den Tod nicht mehr länger als Schicksal und Naturnotwendigkeit denken zu müssen, statt also zu regredieren und zu akzeptieren, gegen den Tod rebellieren zu lernen.
Eine Antwort auf „Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom: “Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben”“