Emmanuel Carrère: „Yoga“

Reise zu sich selbst … Spiegel Belletristik-Bestseller 15/2022

Rastlose Romane erscheinen gegenwärtig zuhauf. Der diesjährige Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, Tomar Gardi, hat mit Eine runde Sache ein Hypergeschwindigkeitsroman hingelegt. Heinz Strunks Es war immer so schön mit dir fackelt nicht lang und schmeißt einen sofort mitten ins Geschehen. Florian Illies Liebe in Zeiten des Hasses jagt von einer VIP-Anekdote zur nächsten, und Michel Houellebecq macht mit der Welt und seinem Schreiben in Vernichten kurzen Prozess. Nun ist aber mit Yoga ein Roman von Emmanuel Carrère erschienen, der auf Langsamkeit aus ist. Macht sich Yoga also wirklich auf die Suche nach einer verlorenen Besinnlichkeit in Zeiten von Bits und Bytes oder zelebriert es doch nur unter dem Deckmantel der Zurückgezogenheit eine Esoterik im Schweinsgalopp?

Denn unter dem Schutz meines neuen Mantras – erinnern Sie sich: ich [Emmanuel Carrère] schreibe nicht, ich mache Tippübungen – habe ich begonnen, die auf den ersten Blick unzusammenhängenden Dateien abzuschreiben und aneinanderzufügen, die das Buch ergeben sollen, das Sie gerade lesen: die Datei über Vipassana und Yoga, die Datei über Depression und meinen Aufenthalt in Sainte-Anne, die Datei über meine Zeit auf Leros.

Emmanuel Carrère aus: „Yoga“

Der Ich-Erzähler, frank und frei der Autor selbst, liebt Yoga, fernöstliche Philosophie, die indische Kultur und die Möglichkeitswelten, die sich für ihn durch diese erschließen. Die Vipassana-Regeln, von denen er ausführlich berichtet, zielen auf drei Einsichten ab, namentlich die in die Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und das Nicht-Selbst. Diese Einsichten können beispielsweise durch das Praktizieren von Yoga und Meditation erreicht und eingeübt werden. Der Ich-Erzähler bemüht sich redlich um die Selbstüberwindung im Sinne Vipassanas und nimmt an diversen Retreats und Workshops teil. Doch die Welt kommt ihm stets in die Quere, entweder seine sexuelle Lust, oder der Anschlag auf Charlie Hebdo oder die Flüchtlingskrise, die er auf der griechischen Insel Leros hautnah miterlebt. Immer wieder ist er mit der Einsicht konfrontiert, dass seine eigene Frustration und Depression angesichts der Leiden anderer obszön erscheinen, beispielsweise als er in einem Flüchtlingscamp junge Syrer in Kreatives Schreiben unterrichtet und ihnen sich und sein Leben zu erklären sucht:

Im Vergleich zu  der kompletten Entwurzelung, die diese sechzehn-, siebzehnjährigen Jungen erlebt haben und erleben, ist ein Typ, der alles, absolut alles hat, um glücklich zu sein, und der sich abmüht, um dieses Glück und das seiner Angehörigen zu zerstören, eine Obszönität, di ezu verstehen ich ihnen schwer abverlangen kann und die dem Standpunkt meiner Eltern recht gibt, dem zufolge man in Kriegszeiten nicht genug Freizeit hat, um neurotisch zu sein.

All dies gereicht jedoch nicht zur Einsicht und Entschluss, nicht von diesen Leiden zu reden, und Yoga nimmt so als Roman einen sehr widersprüchlichen Gang, der zwischen Scham und Stolz hin und her schwankt, keine Ruhe findet, sowohl von sich und seinen Versuchen angezogen wie abgestoßen wird und sich in ein drehendes, dadurch grauverschliert gewordenes Yin-Yang-Symbol verwandelt. Carrère kann nämlich nicht aufhören von sich zu reden. Es ist ein Buch über ihn, über sein Leben, seine Liebschaften, seinen Versuch, der eigenen Gefangenschaft zu entfliehen, seinem Bewusstsein, der eigenen Persönlichkeit, dies aber schlussendlich nicht schafft:

Du bist da. Du bist hier. Du wusstest es nicht, aber in Wirklichkeit warst du immer schon hier. Du hast dir diese lange, verworrene Geschichte erzählt, die du dein Leben nennst, eine Geschichte, der zufolge du geboren wurdest, Eltern gehabt hast, Schulen besucht hast, Leute kennengelernt hast, gereist bist, Fremdsprachen gelernt hast, Bücher gelesen und geschrieben hast, Frauen geliebt hast, ihre Körper berührt hast – das hast du letztlich am meisten gemocht –, Kinder gezeugt hast, Yoga gemacht hast, gepisst und geschissen hast, manchmal glücklich warst und öfter noch traurig, weil du eben so bist, und auch Leid verursacht hast, weil du eben so bist, und dann kommt der Moment, wo diese lange Geschichte voller Figuren und Ereignisse, die du dein Leben nennst, genau da endet.

Das Buch von Carrère erscheint zuerst nicht als Roman. Er erscheint wie das Transkript eines Gespräches, das man mit einem sehr narzisstischen und selbstbezogenen, nicht unbedingt uninteressanten Menschen geführt hat. Die Sprache ist schnell, leicht. Der Formanspruch gering, wenn überhaupt existent. Der Plauderton überwiegt. Er findet keine Gestaltung, keinen Rhythmus, keine Melodie, keinen inneren Schwung. Die Ereignisse könnten in jeder beliebigen Reihenfolge auftreten und sich vermischen. Sie besitzen einen postmodernen Patchworkcharakter, bei dem jeder Satz gleich nah zum Zentrum steht, weil das Zentrum nicht existiert oder sich unendlich weit weg vom Erzählgang befindet. Ein Mahlstrom entsteht, Carrères selbst eingestandenes Geltungsbedürfnis:

Ich schreibe, um ein besserer Mensch zu werden, das stimmt, ich schreibe, weil ich gern schreibe, ich schreibe aus Lust an gut gemachter Arbeit, ich schreibe, weil das meine Art ist, die Wirklichkeit zu begreifen. Aber ich schreibe auch, um berühmt und bewundert zu werden, was ganz bestimmt nicht der beste Weg ist, um ein besserer Mensch zu werden.

Immer wieder kommt Carrère darauf zu sprechen, ein guter Mensch sein zu wollen. Dieser Erwartungsanspruch hängt über ihm wie ein Fluch und Damoklesschwert. Er ist nämlich keiner. Er ist zu selbstbezogen und gefallsüchtig. Was diesen Text auszeichnet, ist nicht die Geschichte von Saulus zu Paulus und von Paulus zurück zu Saulus, es ist die eingenommene Rede- und Schreibposition, nämlich die völlige Unterwanderung jedweder schriftstellerischen Redlichkeit. Kaum hat man sich nämlich daran gewöhnt, dass er aus Gefallsucht und Dokumentationszwang sein Leben in Schrift verwandelt, von jeder Einzelheit, jeder Begegnung mit jeder Berühmtheit redet, sich über seine Liebesnächte auslässt, seine Affären, Fehltritte, seine Ängste und Wünsche, mal derb, mal obszön, mal peinlich, sentimental, mal prahlerisch oder selbstkasteiend vor seinem Publik ausbreitet, also eine Autobiographie schreibt, die nur durch diese Konsistenz und Kohärenz zusammengehalten wird, nämlich von einer im Hier und Jetzt schreibenden Person, die diese oder jene Menschen kennengelernt hat, schon reißt er das ganze Konzept aus den Angeln und verkündet fröhlich:

‚Sie [Frederica] ist auf der linken Seite der Welt verschwunden‘ – so ein Satz ist irgendwie cheesy, irgendwie pseudo, es ist einer, den man versucht sein könnte, über eine Romanfigur zu schreiben, und die Art von Satz, die ich beim ersten Wiederlesen normalerweise sofort streichen würde, doch je länger ich darüber nachdenke, desto lieber würde ich ihn stehenlassen und mein Gewissen damit erleichtern, dass ich zugebe, dass Frederica eine Romanfigur ist.

Dieses Eingeständnis entzieht nun allen Szenen, Situationen, von denen Carrère berichtet, die Aura des Erlebten – nun ist es weder eine Erzählung noch ein Bericht, weder Literatur noch Geschichte, weder Fiktion noch Journalismus. Die Schreibposition hängt in der Luft. Man weiß nichts so recht mit ihr anzufangen. Wie antwortet man auf die Erzählungen eines nicht vertrauenswürdigen Menschen? Wie beurteilt man das Gesagte, wenn es weder spannend noch witzig noch eindrucksvoll vorgetragen ist, so dass Form über Inhalt gilt, der Inhalt also nur Mittel zum Zweck wird, das eigene virtuose Können vorzutragen? Wie begegnet aber man einem Bericht, der von allgemein bekannten Terroranschlägen wie Charlie Hebdo, von Mord und Totschlag in Syrien, schrecklichen Fluchterlebnissen im Mittelmeer, ausgesetzten Babys, überfahrenen Kindern, Krebs und Aids handelt, und im selben Atemzug Figuren und Geschicke hinzudichtet? Carrère setzt dem postmodernen Schreiben die vollendete Krone auf. Er schreibt aufrichtig unaufrichtig, gegen den Strich, in unverbindlicher Unverbindlichkeit:

Henri Michaux sprach diese Sprache [die der Poesie] fließend. Doch sosehr ich bedaure, ich bin kein Dichter. Mein Metier und mein Talent ist das Erzählen, und unter allen Lebensumständen lautet meine Frage zusammengefasst: Was ist Geschichte? Das genaue Gegenteil von Meditation also, die ja gerade darauf abzielt – das ist die zwölfte Definition -, dass man aufhört, sich Geschichten zu erzählen.

Sein selbsterklärtes Ziel heißt also aufhören, sich Geschichten zu erzählen, und er versucht dieses zu erreichen, indem er den Unterschied zwischen Fabulation und Repetition verwischt, indem er alles über einen Kamm schert und nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Geschichte zu unterscheiden versucht, denn tatsächlich hört man auf, sich Geschichten zu erzählen, wenn man aus nichts als aus Geschichten besteht, also Geschichte mit Erinnerungen und Erinnerung mit Geschichten durchtränkt. Mehrmals bezieht Carrère sich auf Henri Michaux, der 1981 in Eckpfosten schreibt:

Weil vielschichtig, schwierig, komplex und übrigens nicht so recht greifbar, bist du – falls du dich ‚einfach‘ gibst – ein Betrüger und Lügner. Du bist es. Bemühe dich wenigstens ab und zu um Aufrichtigkeit, statt unterzutauchen im Zeitstrom oder in einer dieser Gruppen, in denen man sich aus Freundschaft, Naivität oder Hoffnung zusammenschart.

Henri Michaux aus: „Eckpfosten“

Emmanuel Carrère geht einen anderen Weg. Er geht in die entgegengesetzte Richtung, und zwar überaus geradlinig, indem er sich permanent und fast auf jeder Seite zu Berühmtheiten und Persönlichkeiten bekennt, die er bewundert und denen er nacheifert. Wem dies einmal auffällt, erkennt plötzlich, dass auf fast jeder Seite der deutschen Ausgabe von Yoga mindestens ein Name des Who-is-Who des Kulturlebens genannt wird, beispielsweise von Seite 73 bis 80: Philip K. Dick, Cronenberg, Stephen Hawking, Ludwig Börne, Glenn Gould, Montaigne, Jim Jarmusch, Bill Murray, Schopenhauer, Hergé. Nicht zu sprechen auf die vielen Politiker und Politikerinnen, Freunde und Freundinnen, von den vielen Figuren aus diversen Romanen, Comics und Filmszenen. Er preist und unterwirft sich Houellebecq, Nietzsche, Kant, Lacan, Meister Yoda und Bruce Lee und ignoriert den Ratschlag eines seiner Lieblingsautoren, nämlich Michaux, wenn dieser, ebenfalls in Eckpfosten schreibt:

Nur mühsam beugt er die Knie, seine Schritte sind nicht sehr groß, aber jede Art von Strahl empfängt besser, wer nie eines Meisters Schüler war.

Dennoch wird man Yoga nicht gerecht, betrachtet man es einfach als selbstverliebtes Machwerk eines in die Jahre gekommenen Casanovas. Das Buch wirft tiefe Fragen auf, sobald man sich auf den Text einlässt und ihn nicht glattweg ignoriert. Wovon ist die Rede? Inwiefern erlaubt ein Buch wie dieses noch das von Jean-Paul Sartre als selbstverständlich angenommene Vertrauensverhältnis zwischen dem Schriftsteller und seinem Publikum? Bei einem Podiumsgespräch 1964 kritisiert Sartre die abstrakten Versuche die Frage zu beantworten, was Literatur ist, kann und nicht kann, ohne die Leser zu fragen, und sagt:

Ich möchte die Rolle des Lesers übernehmen, um auf etwas hinzuweisen, das hier vergessen worden ist, nämlich dass ein Wort ein Zeichen ist. Man hat von der Sprache gesprochen – wir werden gleich ausführlich darauf zurückkommen –, wie sie sich selbst konstruiert, und man hat einen Text von mir zitiert; aber man hat übersehen, dass die Sprache aus bestimmten schriftlichen oder mündlichen Gegenständen besteht, die gegenwärtig, materiell gegenwärtig sind und auf andre Gegenstände abzielen, die nicht da sind, oder die da sind, ohne sichtbar zu sein, die die bezeichneten Sachen sind, und dass man durch Zeichen diese bezeichneten Sachen andren Individuen bekanntmacht.

Jean-Paul Sartre aus: „Was kann Literatur?“

Sartre kennt die postmoderne Ironie noch nicht. In dieser bezeichnet die Sprache nichts außer sich selbst. Typischerweise jedoch bleibt es bloß bei einem solchen Lippenbekenntnis und die Sprechenden hoffen dennoch in den allermeisten Sprechsituation, etwas zu verstehen zu geben. Carrère demonstriert in seinem Buch eine andere Haltung. Sein Roman Yoga ist weder ein Roman noch ein Sachbuch, weder eine Erzählung noch eine Dokumentation, weder Literatur noch Journalismus. Er ist eine Art Selbstbeschimpfung, die keine Angriffsfläche mehr bietet, zumal sie sich selbst rückhaltlos ins Elend zieht:

Dreißig Jahre, um innere Ruhe und strategische Tiefe zu finden, dreißig Jahre, um sich das Leben als Ausweg aus dem Chaos und als geduldige Arbeit an einem Zustand der Gelassenheit und des Staunens vorzustellen, dreißig Jahre, um trotz aller Abstürze und Depressionen daran zu glauben, und am Ende, wenn das Alter kommt und obwohl man ein Haus und eine Familie und alles hatte, um weise und glücklich zu sein, findet man sich in Embryohaltung allein in einem Bett für kaum eine Person im verlassenen Haus einer einsamen, verlorenen Frau wieder, die ebenfalls auf die Südhalbkugel verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als Lebensbilanz macht das nicht viel her. Und ist auch keine besonders gute Werbung für Yoga.

In der Tat, möchte man sagen, ohne zuzustimmen, denn Yoga hat sehr wenig mit Yoga, aber wahrscheinlich sehr viel mit Emmanuel Carrère gemein, ohne dass man aber nach 350 Seiten sagen zu könnte was.

Eine gelungene Besprechung des Buches, die mehr auf die Darstellung der psychischen Krankheit des Autors eingeht, findet sich auf literaturleuchtet.

tldr; eine Kurzrezension findet sich hier.

3 Antworten auf „Emmanuel Carrère: „Yoga““

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