Erwin Schrödinger: „Was ist Leben?“

Der Mensch als Haufen Atome? …

Wer sich fragt, was die moderne Physik zur Beantwortung metaphysischer Fragen beizutragen hat, wird über kurz oder lang auf das schmale Bändchen von Erwin Schrödinger Was ist Leben? stoßen, das zum ersten Mal in englischer Sprache 1944 erschien und von L. Mazurczak aus dem Englischen übersetzt wurde. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger ist bekannt für seine Beiträge zur statistischen Physik und Quantenmechanik und gilt als ein exponierter Vertreter der modernen Naturwissenschaft. Für seine Grundlagenarbeit auf dem Gebiet der Quantenmechanik erhielt er 1933 gemeinsam mit Paul Adrian Maurice Dirac den Nobelpreis. In Was ist Leben? überträgt Schrödinger seine Expertise nun auf einen Bereich, der üblicherweise entweder der Philosophie oder Theologie vorbehalten bleibt, und wenn überhaupt von der spekulativen Biologie bearbeitet wird, den des Lebens und der Willensfreiheit:

Nun, denke ich [Schrödinger], bedarf es nicht mehr vieler Worte um aufzuzeigen, worin ein Uhrwerk und ein Organismus einander ähnlich sind. Die Ähnlichkeit beruht ganz einfach darin, dass der Organismus ebenfalls in einem festen Körper verankert ist – dem aperiodischen Kristall, der die Erbsubstanz bildet und der Unordnung aus Wärmebewegung weitgehend entzogen ist. Man werfe mir aber nicht vor, ich hätte die Chromosomen einfach als »Zahnräder der organischen Maschine« bezeichnet – zumindest nicht ohne auf die tiefgründigen physikalischen Theorien hinzuweisen, auf denen der Vergleich beruht.

Erwin Schrödinger aus: „Was ist Leben?“

Schrödinger führt jeden beobachtbaren Prozess in der Welt auf Wechselwirkungen und Kräfte zurück, die zwischen den kleinstmöglichen Bestandteilen der Materie herrschen. Zu Schrödingers Zeiten hießen diese Bausteine noch Atome, die sich aus Protonen, Neutronen und Elektronen zusammensetzen. Heute sind Protonen, Neutronen und Elektronen nicht mehr das letzte Wort, sondern Quarks. Wie die letzten Bausteine auch heißen, sie liegen auch den Bausteinen des Lebens zugrunde, den Chromosomen, von denen Schrödinger annahm, es seien 24 verschiedene und insgesamt, in der Doppelstruktur, 48. Heute zählt man 23, also insgesamt 46. Auch haben neuere Experimente ergeben, dass die Meiose aus zwei zeitgleichen Teilungen mit nur einer Chromosomenzahlverdopplung besteht und nicht, wie Schrödinger noch dachte, aus einer einzigen Zellteilung ohne Verdopplung.

Völlig unberührt jedoch von solchen sachlichen Ungenauigkeiten bleibt die Argumentationsform als solche, die Schrödinger vorstellt und üblicherweise unter dem Namen Reduktionismus gehandelt wird. Sie führt die beobachtbaren Vorgänge auf berechenbare Prozesse zurück und den Menschen, den Kosmos, das Leben und den ganzen Rest auf eine Mechanik des Immergleichen. Konsequenterweise mündet Schrödingers Argumentation auch in einer Spekulation über Willen und Freiheit, Schein und Sein, wenn er im Epilog von Was ist Leben? schreibt:

Die einzig mögliche Folgerung aus diesen zwei Tatsachen [mein Körper funktioniert als reiner Mechanismus und doch fühle ich mich verantwortlich für mein Handeln] ist die folgende: Ich […] ist die Person, sofern es überhaupt eine gibt, welche die »Bewegung der Atome« in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen leitet.

Nach dem Nachweis, dass die physikalische Beschreibung auch auf den Körper und den lebendigen Organismus zutrifft, zieht er den Schluss, dass das Ich lediglich ausführt, in Korrespondenz handelt, was die Naturgesetze sowieso schon beschlossen und dem Menschen auferlegt haben. Schrödinger singt also das alte Entsagungslied von den Menschen, die nichts als lediglich äußerst komplizierte Maschinen sein sollen. Einer der Vorreiter dieser Sichtweise heißt Julien Offray de La Mettrie, der im Jahre 1748 ein Buch namens Der Mensch als Maschine veröffentlichte und dadurch sehr viel Ärger auf sich zog. Beispielsweise musste er 1746 wegen seinen Schriften aus Frankreich in die Niederlande fliehen, aus denen er wiederum 1748 nach Preußen fliehen musste, um erneut aufflammenden Todesdrohungen und Haftstrafen zu entgehen. Dennoch verstarb er bereits 1750 im Alter von lediglich 41 Jahren unter ungeklärten Umständen, dem sogenannten Pastetentod, in Berlin. Mit klaren Worten schreibt La Mettrie in seinem philosophischen Hauptwerk:

Es bedarf wohl kaum weiterer Ausführungen […] um zu beweisen, dass der Mensch nichts anderes ist als ein Tier bzw. eine Maschinerie von Triebfedern, die sich gegenseitig spannen, ohne dass sich dabei sagen ließe, an welchem Punkt des menschlichen Kreises die Natur den Anfang gemacht hat.  

Julien Offray de La Mettrie aus: „Der Mensch als Maschine“

Wie Schrödinger schließt er nun auch:

Der Körper gleicht einer Uhr, und die frischen Nährstoffe gleichen dem, der sie aufzieht.

La Mettrie bleibt hier völlig auf der Beschreibungsebene, also phänomenologisch, und stellt seine Theorie nur in den Dienst, die bereits erlebten Erfahrungen zu systematisieren und zusammenzufassen. Der Spekulation bleibt er in seinen Werken völlig abhold, die eher einem unschuldigen, naiven Hedonismus frönen und nirgendwo auf Tiefes und Bleibendes, Ewiges abzielen oder hinauswollen. Den Universalismus entsagend, schreibt er:

Der Mensch ist so eine komplizierte Maschine, dass man ihn unmöglich vorab in einen klaren Begriff fassen bzw. definieren kann. Aus diesem Grunde waren alle Untersuchungen, die die größten der Philosophen a priori anstellten, indem sie sich sozusagen vom reinen Geist beflügeln lassen wollten, vergebliche Mühen. Erkenntnisse über das Wesen des Menschen kann man somit – zwar nicht mit Gewissheit, aber doch mit dem hier höchstmöglichen Grad an Wahrscheinlichkeit – nur a posteriori gewinnen, d.h. indem an den Zugang zur Seele gleichsam über die Organe des Körpers sucht.

Sowohl La Mettrie als auch Schrödinger verschreiben sich also der Wissenschaftlichkeit. Beide betonen die Wichtigkeit, die die Statistik und Wahrscheinlichkeit für ihre Erörterungen spielen. Worin nun unterscheidet sich Schrödingers fast genau zweihundert Jahre später geschriebenes Buch Was ist Leben? von La Mettries Der Mensch als Maschine? Es ist die Argumentationsform selbst. La Mettrie beschreibt, was er sieht. Als Arzt gewärtigt er Symptome, sieht Zusammenhänge, sucht Heilmittel. Er diagnostiziert und probiert aus, verschreibt, was bereits geholfen, vermeidet, was nicht geholfen hat, und ist bemüht, aus seinen Fehlern zu lernen. Seinen Büchern und Aufsätzen fehlt jedwede Metaphysik. Er schreibt fröhlich und vergnügt:

Das [die Eigenarten des Polypen] ist sehr ärgerlich für die Naturforscher mit ihrer Fortpflanzungstheorie; doch eigentlich ist es sehr erfreulich, denn diese Entdeckung ist eine gute Lehre für uns, dass man niemals auf das Allgemeine schließen soll, auch nicht von den alltäglichsten und gesichertsten Erfahrungen.

Diese Einstellung passt nun ganz und gar nicht zu Schrödingers. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu La Mettrie argumentiert Schrödinger. Er begründet seine Beschreibungen mit dem Verweis auf die Gültigkeit universaler Gesetze und Muster, mit Formeln und Gesetzmäßigkeiten, Atomen und Quanten und Schwingungszuständen, und merkt an:

Die Quantenmechanik ist die erste theoretische Betrachtungsweise, welche alle Arten der in der Natur wirklich vorkommenden Atomaggregate von Grund auf erklärt.  

Erwin Schrödinger aus: „Was ist Leben?“

Schrödinger bettet La Mettries Beobachtungen in ein System, in eine Architektur von Begriffen, ein, die universelle Gültigkeit beanspruchen. Ihn interessiert weniger das Individuum, wie noch La Mettrie, sondern das Universelle, das jedem Individuellen zugrunde liegt, seine universelle Beschreibbarkeit. Schrödinger erliegt hier aber einem Zirkelschluss. Er verwendet die universelle Anwendbarkeit einer Formel als Argument für ihre universelle Gültigkeit, berücksichtigt aber nicht, dass die Wahl der Beschreibungsebene kontingent bleibt und bleiben muss. Semantisch gesprochen: Wer alles mit Entropie erklärt, hat noch nichts über die Existenz von Entropie gesagt, ganz unabhängig davon, was Entropie ist. Deutlicher wird dies, wenn man „Entropie“ mit „Außerirdische“ ersetzt, oder in Betracht zieht, dass man zwar mit einem Hammer auf ein Glas wie auf einen Nagel schlagen kann, ohne aber dass das Glas dabei zu einem Nagel wird. Schrödinger nun führt in Was ist Leben? alles auf die Größe Entropie zurück, die er wie folgt definiert:

Was ist Entropie? Lassen Sie mich zunächst betonen, dass sie nicht eine verschwommene Vorstellung oder Idee, sondern eine messbare physikalische Größe ist, gerade so wie die Länge eines Stabes, die Temperatur an irgendeiner Stelle des Körpers, die Schmelzwärme eines bestimmten Kristalls oder die spezifische Wärme irgendeiner gegebenen Substanz.

Schrödinger differenziert nicht zwischen beobachtbaren und direkt messbaren Größen (u.a. Gewicht, Länge, Temperatur) und indirekt messbaren, nicht beobachtbaren Größen (u.a. Entropie, Impuls, Energie). Die indirekt messbaren Größen charakterisieren geeignete Prozesse und Systeme und setzen sich aus messbaren Größen additiv oder multiplikativ zusammen. Für ein ideales Gas setzt sich die Entropie aus der Dichte des Gases, also dem Volumen, dem molaren Gewicht, und der Temperatur zusammen. Kennt man diese Größen und berechnet die Entropie für verschiedene Volumina, Molmengen und Temperaturen, hat man das ideale Gas auf eine Weise charakterisiert, dass man beispielsweise die Temperaturänderung pro zugeführte Wärmemenge berechnen kann. In diesem Sinne komprimiert die Entropie das, was man über einen Stoff bereits in Erfahrung gebracht hat, und kann so das zukünftige Verhalten auf Basis dieser handlich aufbereiteten Daten abschätzen. Die Existenz der Entropie sagt jedoch nichts über die Beständigkeit der Stoffeigenschaften aus. Liegt man nämlich mit der Abschätzung daneben, hat man es mit einem anderen Stoff zu tun, vielleicht einem Isotop oder Isomer, oder der Stoff hat sich einer Konformitätsänderung unterzogen.

Solche indirekten Größen fassen Beobachtungen zusammen, ohne auf Beobachtungen zu basieren, und können der Beschreibung deshalb nichts hinzufügen. Zudem basiert diese indirekte Größe auf der Möglichkeit, die Messungen zu wiederholen, nachzuprüfen, zu testen, also auf der Beständigkeit des vermessenen Gegenstandes (Gases, Stoffes, Organismus) selbst und kann deshalb gar nicht als Argument für die Beständigkeit des Gegenstandes herangezogen werden, ohne in einen Zirkelschluss zu münden. Dennoch praktiziert Schrödinger eine solche Selbstbezüglichkeit, oder Petitio Principii:

Wie würden wir die wunderbare Fähigkeit eines lebenden Organismus, den Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht (Tod) zu verzögern, in der Ausdrucksweise der statistischen Theorie darstellen? Wir sagten: »Er nährt sich von negativer Entropie«, indem er sozusagen einen Strom negativer Entropie zu sich hin zieht, um die Entropieerhöhung, welche er durch sein Leben verursacht, auszugleichen und sich damit auf einer gleichmäßigen und ziemlich tiefen Entropiestufe zu halten.

Schrödinger sagt also dasselbe wie La Mettrie nur unter Verwendung komplexer Begriffsstrukturen. Der Gewinn, den er daraus zieht, gleicht einem Pyrrhussieg. Er vermutet eine sich selbst stabilisierende, reproduzierende Allewigkeit, die hinter allen Phänomenen steht. Die einzelnen Bewusstseine reduzieren sich so auf die Funktion einer Leinwand, auf der die Welt, das Ganze, sich spiegelt und gegenspiegelt und die jedwede Individualität als Illusion abstempelt. Weil es ihm gelingt, alle Prozesse, selbst die des lebendigen Organismus, mit der Sprache der statistischen Thermodynamik zu beschreiben, fühlt er sich berechtigt, die Gesetze dieser physikalischen Theorie zu universalisieren und zur Grundlage aller Daseinsmöglichkeiten zu erheben:

Was ist dieses Ich? Bei näherem Zusehen wird es sich meines Erachtens herausstellen, dass es etwas mehr ist, als nur eine Anhäufung einzelner Gegebenheiten (Erfahrungen und Erinnerungen), nämlich sozusagen die Leinwand, auf welcher diese festgehalten sind. Und man wird bei eingehender Selbstprüfung gewahr werden, dass das, was man wirklich unter dem »Ich« versteht, eben jener Grundstoff ist, auf dem sie gesamthaft aufgetragen sind.

Dass Schrödinger auf diese Weise den Antworten auf die Fragen, die er sich selbst stellt: Was ist Leben? Was ist das Ich? Warum sind Atome so klein? Was ist Entropie? nicht näherkommt, fällt ihm selbst auf. Er weicht ihnen aus, indem er nicht nur zwischen indirekten und direkten Messgrößen nicht unterscheidet, sondern sogar zwischen Berechenbarkeit und Messbarkeit selbst, wie im Falle des dritten thermodynamischen Hauptsatzes:

Diese Tatsache [dass Unordnung am absoluten Nullpunkt verschwindet] wurde übrigens nicht auf theoretischem Wege entdeckt, sondern bei einer sorgfältigen Untersuchung chemischer Reaktionen innerhalb großer Temperaturbereiche und der Umrechnung der Resultate auf den absoluten Nullpunkt – der in Wirklichkeit nicht erreicht werden kann.

Man fragt sich, wie man zwischen Theorie und Empirie noch unterscheiden kann, wenn die Interpolation und Umrechnung der Beobachtungsdaten selbst empirisch sein soll und hin sogar zu einem Bereich, der empirisch gar nicht mehr erreichbar ist. Nicht nur berechnete und gemessene Größen werden für ihn eins, sogar Theorie und Empirie, oder Berechnung und Beobachtung, und so nimmt es kein Wunder, dass Schrödinger berauscht von der Quantenmechanik eine wenig naturwissenschaftlich anmutende Lobeshymne anstimmt:

Um aber die hohe Dauerhaftigkeit der Erbsubstanz mit ihrer winzigen Größe in Einklang zu bringen, mussten wir der Tendenz zur Unordnung durch die »Erfindung des Moleküls« ausweichen, sogar eines ungewöhnlich großen Moleküls, welches ein Meisterstück höchst differenzierter Ordnung sein muss, vom Zauberstab der Quantentheorie beschirmt.

Am Ende ist man also bezüglich Leben nicht schlauer als vorher, aber selten legt ein Theoretiker so deutlich und unverblümt die Karten auf den Tisch wie Schrödinger in Was ist Leben? Er wendet sich von der Empirie ab, um in Sprache schwelgen zu können. Er bezieht sich auf Sprache, wo Zusammenhänge von Interesse gewesen wären. Er speist mit Worten ab, wo illustre Beispiele nützlich, dienlich und unterhaltsam gewesen wären. Der „Zauberstab der Quantentheorie“ tröstet wenig über die Armut der Erfahrung hinweg, und man fällt lieber zweihundert Jahre zurück zu La Mettrie, wenn er beschwingt schreibt:

Nein, die Materie hat nichts Niedriges an sich, es sei denn in den Augen jener Niedrigen, die sie gerne in dem glänzendsten ihrer Werke verkennen; und die Natur vollbringt ihre Werke mit großem Geschick […] Ihre wunderbaren Fähigkeiten zeigen sich überall […] Schließen wir also aus dem, was wir sehen, auf das, was sich der Neugier unserer Augen und Forschungen entzieht! Und phantasieren wir nichts hinzu. Beobachten wir das Verhalten des Affen, des Bibers, des Elefanten usw.!

Julien Offray de La Mettrie aus: „Der Mensch als Maschine“

Ja, zugegeben, La Mettrie erklärt auch nichts, aber sein Enthusiasmus reißt dennoch mit. Hätte Schrödinger doch La Mettrie gekannt! Was für ein Buch hätte Was ist Leben? dann bloß werden können…

tldr; eine Kurzrezension findet sich hier.

2 Antworten auf „Erwin Schrödinger: „Was ist Leben?““

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