Kalenderwoche 18: Lesebericht.

Lesen in der Sonne.

Die Sonne macht es einem leichter am Fenster zu lesen. In dieser Woche habe ich mich vor allem mit Gotthard Günthers Die Amerikanische Apokalypse beschäftigt und in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen. Günther hat eine gewisse Leichtigkeit der Geschichte gegenüber, fast schwadronierend, leichtfertig, unbesonnen, die gut Arendts zum Schwermut tendierenden, die Reflexionszonen des Soziologischen und Historischen aussondierenden Stil ausgleicht. Eigentlich hatte ich noch Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. erneut lesen wollen. Aber es klappte wieder nicht (obwohl die Sonne schien). Jean Paul schrieb zwar:

„Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, ist auch nicht wert, dass man’s einmal liest.“

Jean Paul aus: „Siebenkäs“ – Vorrede

Doch es gibt so viele Bücher, dass es kaum möglich ist, die bereits gelesenen nochmals zu lesen, obwohl sie es verdient hätten. Plenzdorf gehört dazu. Nun zu meiner dreigliedrigen Liste – gekauft, angelesen, ausgelesen:

Gekauft:

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – ein sehr langes, sehr ausführliches Buch, das die schwarzen Kapitel der abendländischen Kultur untersucht. Es wurde mir als Anschlusslektüre nach Vita activa von dem Blog Philosophische Praxis ans Herz gelegt.

Andrej Platonow: Die Baugrube – wegen einer Buchempfehlung von literaturleuchtet. Mich hat das Zitat auf Seite Eins sofort überzeugt:

Wotschew nahm in der Wohnung die Sachen in einen Sack und ging nach draußen, um an der Luft besser seine Zukunft zu verstehen.  

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen – viele Auszüge bereits gelesen. Das Buch wird wahrscheinlich das letzte Mann-Buch (gleich ob Heinrich, Thomas, Erika oder Klaus). Danach lese ich nur immer wieder Der Zauberberg oder kein Buch, denn etwas gruselig wird mir bei diesen Sätzen aus Thomas Manns Feder dann doch:

Leidenschaft, ungewollte, nicht literatenhaft erstrebte und ausgeschrieene, sondern innige und, mag sein, mit Ironie und Humor maskierte Passion ist es, die einzig dergleichen möglich macht, aus der einzig das Neue und so noch nicht Gewesene hervorgeht, — Leiden also, Schmerz, opfernde Hingabe an ein reinigend Überpersönliches . . . Achtest du die Leidenschaft, das Erlebnis nicht mehr, beschimpfst du sie […]

Thomas Mann aus: „Betrachtungen eines Unpolitischen“

Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied, Das Mädchen auf der Lotusblume, In ihren Briefen und Tagebüchern, Ankunft im Alltag, Franziska Linkerhand, Die Frau am Pranger – vor allem gekauft, weil ich bislang noch nichts von ihr gelesen habe, und sie als Anschlusslektüre zu Werner Bräunigs Rummelplatz passt. Auch ihr Roman Franziska Linkerhand ist ein Fragment geblieben:

Du bist wiedergekommen und hast deine Existenz behauptet gegen das Scheindasein, das ich für dich entworfen hatte (auf das Zinkblech, in die Schnapslachen gemalt, lachend, ein bisschen betrunken, ermattet von der Anstrengung, nicht auf dich zu warten), und deinen lebendigen Körper, Fleisch und Blut, Haut mit dem Geruch von Schweiß und Dieselöl, einen Kopf voller Gedanken, ein schlagendes Herz gegen einen Schattenriss, den Straßenpassanten wie in einer Modellgrafik, unter Baumspiralen: Konturen, eine weiße Fläche, hier und da schraffiert, Punktaugen, geometrische Schultern, kein Mund zum Grüßen.

Brigitte Reimann aus: „Franziska Linkerhand“

Barbara Krause: Brigitte Reimann Gefesselte Rebellin – kam zum Konvolut, das ich antiquarisch erstand, hinzu.

Kristine Bilkau: Nebenan – meine Wahl der Woche aus der Spiegel Belletristik Bestseller-Liste und durch den Blog Klappentexterin.

An- und weitergelesen:

Emile Cioran: Notizen 1957–1972 – Fröhlicher, selbstkritischer, ja, selbstvernichtender Pessimismus:

Schmeichelei wirkt auf mich wie auf die andern. Aber anders als bei ihnen, leide ich /ohne in Wahrheit davon unberührt zu bleiben), wenn ich die Wirkung auf mich feststelle. Sie überrascht mich niemals; und ich bin mir immer dessen bewusst, wenn ich mich an ihr freue.

Gotthard Günther: Die Amerikanische Apokalypse – einer von wenigen, die überhaupt jenseits des Entweder-Oders der Aristotelischen Logik hinauszudenken versuchen. Seine Geschichtsmetaphysik bleibt starr gegen die von Oswald Spengler gerichtet. Er sieht die Zukunft in der technologischen Weiterentwicklung der Menschen – und nicht in ihrer Biologisierung. In diesem Sinne ein Science-Fiction-Autor, der auch Science-Fiction-Romane geschrieben und übersetzt hat. Ein Buch der geschichtlichen Offenheit. Günther plädiert für eine planetare Kultur, die das monokausale Denken gemeinsam durchschreitet:

Wir beginnen heute zu begreifen, theoretisch wenigstens, dass diese Interpretation der Kausalität, der die besten Geister aller Hochkulturen anhingen und der sie ihre größte Leistung verdanken, nicht die endgültige Wahrheit ist.

Immanuel Kant: Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe – Besprechung folgt.

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – bislang nur die ersten fünfzig Seiten. Ihr Buch ist der monumentale Versuch, folgendes nicht zu tun:

Alle Versuche, den Antisemitismus zu »erklären«, erscheinen an den Ereignissen selbst gemessen wie unzulängliche, überstürzt hingeworfene Arbeitshypothesen, die uns eher dazu verhelfen könnten, die ganze Sache wieder zu vergessen und mit ihr die Tatsache, dass unser gesunder Menschenverstand sich hier nicht ausgekannt hat, als das vorliegende Phänomene zu verstehen.

 Kristine Bilkau: Nebenan – erscheint wie ein Mysterythriller mit viel Spannung und geheimnisvollen Vorkommnissen, die vielleicht noch erklärt werden, insgesamt ein melodiöses, bluesiges Buch in A-Moll, aus dem ich bislang noch nicht schlau geworden bin:

Nach der Trauerfeier holte Julia das Werkzeug ab, den Brennofen, die Drehscheiben, die Spachtel und Spatel, die Bücher über Keramik, Japan, Maya-Kunst, Bauhaus. Sie durfte den Kellerraum einer Freundin nutzen, richtete dort eine Werkstatt ein, knetete Ton, setzte sich an die Drehscheibe, ließ Joni-Mitchell-Songs laufen und redete laut mit ihrer Mutter, fragte sie, warum sie nicht besser auf sich geachtet hatte. Manchmal sieht sie ihre rauen, rissigen Hände vor sich, spürt diese Hände an der Wange, erinnert sich an den leichten Zigarettengeruch, der an ihnen hing, an die zerfransten, schmuddeligen Pflaster, die manchmal am Daumen klebten.

Kristina Bilkau aus: „Nebenan“

Gelesen:

Eva Christina Zeller: Unterm Teppich – Besprechung findet sich hier. Ein sehr empfehlenswertes Buch.  

Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt – Besprechung folgt noch.

15 Antworten auf „Kalenderwoche 18: Lesebericht.“

  1. Spannende Liste… von Thomas Mann habe ich alles gelesen, deine Wahl ist keine schlechte, ich verstehe das bleibende Buch, auch wenn ich ein anderes gewählt hätte. Der Doktor Faustus ist mein wichtigestes, darüber schrieb ich die Masterarbeit, das liebste war mir Königliche Hoheit, knapp gefolgt von Lotte in Weimar.

    Ich möchte Kafka lesen – Arendt fand, er sei viel besser als Mann. Ich bin gespannt. Ich las ihn natürlich schon in diversen Werken, aber ich will es nochmals tun. Es ist lange her.

    Arendt – ich bin gespannt, ich bin durch, wobei ich gestehe, dass ich nicht alles ganz genau gelesen habe. Ich habe gerade „Freundschaft in finsteren Zeiten“ von ihr gelesen, bin noch am Briefwechsel mit Blücher und begann die Bio von Vowinckel – daneben suche ich noch was…

    Danke für deine Einblicke!

    1. Ja, ich muss gestehen, ich war drauf und dran, noch Doktor Faustus hinzufügen, aber ich erinnere mich an zu lange Strecken des mühevollen Lesens. Der Zauberberg hat ein klares Crescendo – die Winternacht, die Träume, das letzte Kapitel, all dies wächst in meiner Erinnerung stets harmonisch zusammen. Der Doktor Faustus nicht. Aber sicherlich lese ich ihn noch mal, irgendwann – aber die musikästhetischen Passagen sind mir stets zu unharmonisch vorgekommen. Da lese ich lieber direkt die Philosophie der neuen Musik von Adorno selbst.

      Ja, Kafka, da stimme ich zu. Habe die Briefe an den Vater kürzlich durchgeblättert, was für ein Dokument. Und Amerika ist mir sehr stark im Gedächtnis geblieben, insbesondere das Naturtheater, von Das Schloss ganz zu schweigen. Ich finde, dass die Durchformung des Lebensgefühls bei Kafka nachvollziehbarer als bei Thomas Mann ist. Er selbst fühlte sich als Dekadent, und er weiß es am besten. Arendt hat da ein feines Gespür. In Sachen Kafka lasse ich mich gerne mitreißen. Bin gespannt, was du darüber schreibst.

      Arendt wird bei mir noch ein bisschen dauern. Es ist einfach ein krasses, schmerzhaftes Buch, aber Danke dafür, dass ich es jetzt durch dich lese.

      Vielen Dank für deinen Kommentar!

      1. Ich habe mich viel zu wenig mit Kafka befasst – leider. Ich habe viele Bücher über ihn hier, habe „Die Verwandlung“ mehrfach gelesen und sogar unterrichtet, die Briefe an den Vater sind schmerzhaft – und echt, die an Felice und Milena sehr lesenswert, zeigen sie doch viel über ihn. Ich erinnere mich an lautes Lachen beim Lesen des Schlosses, aber sonst habe ich wenig Erinnerungen an sein Werk. Das will ich ändern.

        Thomas Mann ist ein Arbeiter, kein Künstler. Er hat sich die Themen und Szenen und Menschen zusammengesucht und in einer sehr ordentlichen Weise dann zu einer Geschichte montiert. Ich denke, er würde sich selber ähnlich beschreiben, insofern tue ich ihm kein Unrecht. Ich habe ja wirklich alles von ihm und sehr, sehr viel über ihn gelesen. Ich finde ihn beeindruckend, faszinierend. Aber ja, mit den Werken ist es schon oft ein Kampf. Ich kämpfte mit dem Zauberberg. Diese ellenlangen Dialoge Naphta und Settembrini, sie haben mir den letzten Nerv gezogen.

        Arendt ist schwierig, ich empfinde ihre Lektüre auch als sehr anstrengend und teilweise frustrierend. Und ich kann nicht mal sagen, woran es liegt, denn sie packt mich durchaus und ich will das lesen und bin ja Philosophie gewohnt und auch komplexe Sprache (die sie gar nicht hat)… ich komme dem noch auf den Grund.

        Liebe Grüsse zu dir
        Sandra

      2. Ich finde deinen Kommentar sehr zutreffend. Thomas Mann als Arbeiter, nicht als Künstler. Das wertet ihn keineswegs ab. Ihn so zu lesen, hilft mir sehr über die Abgründe hinweg. Eine sehr gute Sichtweise – tatsächlich hat er sich als Chronist seiner Zeit und seines Landes verstanden und diese Rolle auszufüllen versucht. In Sachen Naphta und Settembrini, ja, da stimme ich zu, aber sie gehörten für mich zu dieser langsam anrollenden Verdichtung, dieses Sich-Zusammen-Ballen der Lebenskrise, die Hans Castorp einholt. Aber da rede ich wieder über diesen Sturm in der Winternacht.

        Kafka muss man eigentlich immer wieder lesen. Immer wieder, wenn irgendetwas mit meinem Leben sich verändert hat, lese ich ihn neu und frisch. Er schreibt aus der Erfahrung heraus, unvermindert – es ist beinahe wie einen guten Freund treffen und mit ihm über das Leben und alles andere reden.

        Arendt – was mir am meisten Schwierigkeiten bereitet, ist ihre Distanz zu Heidegger und dennoch das Aufgreifen all der Themen von Heidegger, das Existenzialistische, das sich in Max Webernschen Formulierungen verpackt. Sie argumentiert extrem philosophisch, ohne Bezug auf ihre anvisierte ontologischen Grundannahmen zu nehmen. Das klärt einerseits auf, verwirrt andererseits. Für sie scheint Philosophie ein Anathema zu sein, und doch das Zentrum ihres ganzen Denkens. So empfand ich „Vita activa“ – ich werde auch mal in die Denktagebücher hineinlesen. Ich würde gerne mehr über Arendt lesen und diskutieren. Vielen Dank für die Chance dafür.

      3. Kafka werde ich mal mit deinem Ansatz im Hinterkopf lesen. Ich freue mich auf die Erfahrung.

        Arendt – Heidegger, eine sehr komplexe Beziehung, in Leben und Denken. Arendt selbst wollte sich ja nicht als Philosophin sehen, sondern als politische Denkerin, wobei sie zu diesem Denken mehrheitlich durch Blücher kam und die Philosophie natürlich im Rucksack bei sich trug.

        Die Denktagebücher möchte ich auch schon lange genauer studieren. Die Freude über den Austausch ist übrigens gegenseitig.

  2. Brigitte Reimann liebe ich. Ist das ein Sammelband. Platonow mag ich auch sehr. Er hat eine besonderen Ton. Hab aber nur die glückliche Moskwa gelesen. Die fand ich aber eine Wucht.

    1. Ja, also, dann muss ich ja sofort „Die glückliche Moskwa“ kaufen und lesen, und Reimann gleich mit. Hast du „Franziska Linkerhand“ gelesen? Mit welchem Buch soll ich anfangen? Ich habe so wenig Zeit für all die schönen Bücher, die mir vorgeschlagen werden 😀 … aber das ist ja eigentlich das bestmögliche Szenario! Viele Grüße!

      1. Franziska Linkerhand ist wunderbar. Ich habe oft ihre Sätze im Kopf: Ben, ach Ben. Ein so wehmütiger Klang und so idealistisch. Wenn du Linkerhand noch nicht gelesen hast würde ich dir das empfehlen. Es passt zu Bräunig und ist doch Träumerischer, sehnsuchtsvoller.
        Die glückliche Moskwa hat da eher etwas sehr pragmatisches aber ebenso freigeistiges.
        Im Moment bleibt mir neben Vollzeitjob , Nebenjob und Wohnungssuche nicht so viel Zeit aber wir könnten noch Mal versuchen etwa parallel zu lesen.

      2. Gerne. Wie wäre es dann mit Uwe Johnsons Jahrestage … denn hattest du doch schon angefangen? Aber Vollzeitjob, Nebenjob, Wohnungssuche hört sich nach einem erschöpfenden, auslaugenden, sehr zehrenden Unterfangen an. Würde mich trotzdem freuen! Und Franziska Linkerhand werde ich sicherlich lesen. Ich lasse dir freie Wahl – ich habe gute Gründe, deinem Geschmack blind zu vertrauen.

      3. Dann lass uns doch Franziska Linkerhand lesen. Es wird mich für meine Besprechung von Bräunig inspirieren. Bräunig ist so gut, ich finde kaum Worte.

      4. Ich habe Bräunig immer noch nicht befreien können. Es gibt Abholzeiten die mir meinen Arbeitszeiten nicht übereinstimmen. Aber zumindest ist er sicher:)

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