Steffen Kopetzky: „Monschau“

Hilflos und verliebt in der Eifel … (Spiegel Belletristik-Bestseller 15/21)

Steffen Kopetzkys neuer Roman mit dem Titel „Monschau“ gestattet eine narrative Zeitreise in die Eifel der frühen 1960er der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um Alt-Nazis, Aufarbeitung der Vergangenheit, um das Wirtschaftswunder, um Wernher von Braun, um alte Männer, die zu viel essen, humpeln, Kriegsverbrechen begangen haben, um geläuterte Nazi-Ärzte und NSDAP-Mitglieder, um einen griechischen Einwanderer Nikos, der sich in Vera, eine Sartre lesende, Beauvoir zitierende Konzern-Erbin, verliebt, also um das einfache und doch so schwierige Leben der Schönen und Reichen der bunten Nachkriegszeit, die gerne Jazz hören und mit Pocken und Krankheiten nichts zu tun haben möchten. Vor allem aber geht es um eine sehr lokalisierte Pockenepidemie, die von einem Düsseldorfer Dermatologen Stüttgen samt seinem Assistenten Nikos und vielen anderen ungenannten bekämpft und mittels Impfungen zum Versiegen gebracht wird. Mit anderen Worten: Kopetzky hat einen Pandemieroman geschrieben und mit „Monschau“ vorgelegt.

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Amanda Gorman: „The Hill We Climb“

Eine mit sich selbst zerstrittene Übersetzung … (Spiegel Belletristik-Bestseller 14/2021).

Anlässlich der Inauguration des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika trug Amanda Gorman ein Gedicht namens „The Hill We Climb“ vor. Dieses Gedicht liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Kübra Gümüsay hat den Text in die deutsche Alltagssprache übertragen und diesem dadurch eine Breitenwirkung verliehen, die sich in dem sofortigen Bestsellerstatus niederschlagen konnte. Der Text ist kurz, die intendierte Botschaft klar und die Rahmenbedingung weisen auf seine rhetorische Funktion hin. Die interessante Frage, die sich aufdrängt und die auch im Zuge der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan diskutiert wurde, lautet: Wann ist ein Song ein Gedicht, wann eine Rede eine Novelle, wann ein Vortrag eine Performanz?

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Helga Schubert: „Vom Aufstehen“

Auf Taubenfüßen brillant und einfühlsam … (Spiegel Belletristik-Bestseller 13/2021)

In Helga Schuberts Roman „Vom Aufstehen“ erzählt eine Ich-Erzählerin aus ihrem Leben und zwar sanft, langsam, nicht chronologisch, nicht kausalisierend und effekthascherisch. Startend mit den Großeltern vor dem zweiten Weltkrieg und dem Wahlsieg der Nationalsozialisten, über Flucht, Krieg, Kriegsopfer, über Schmerz, Angst und Verfolgung, hin zu den Gründerjahren der DDR, über Hoffnungen, Enttäuschungen, letztlich zum Mauerbau, zu den siebziger Jahren, zu Gorbatschow, Glasnost, und der Wende, die erste Schritte mit dem Ehemann durchs Brandenburger Tor, eingewebt in das Erleben und Verhältnis von Tochter, Großmutter, Enkelin, Mutter bleibt das Politische ein rauschender, irritierender Hintergrund für eine fühlende, wahrnehmende, um Frieden ringende Erzählerin. Politik stößt dem Einzelnen, der Einzelnen nur zu. Zentral bleibt die eigene Empfindung, das Nagende, Schmerzende von Wörtern, Blicken, von Gesprächen und Behandlungen. Als Motto wählt die Autorin deshalb ein Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach.

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Juli Zeh: „Über Menschen“

Hass mit menschlichem Antliz? … (Spiegel Belletristik Bestseller 12/2021)

Mit „Über Menschen“ legt Juli Zeh einen Roman über die Corona-Zeit vor. Eng am Puls der Zeit zu schreiben, ist ihr selbsterklärtes Ziel, und daher nimmt es nicht Wunder, dass sie über Toilettenpapier, über Maskenzwang, home office, die AFD, Black Lives Matter, über die finanziellen Schwierigkeiten der Kreativbranche und deren Einstufung als nicht systemrelevant schreibt. Zum Roman wird der Text, der eigentlich eine Glosse sein möchte, durch die Einführung der Figur Dora, einer Werbetexterin, die das lose Miteinander des ungleichzeitig Gleichzeitigen verknüpft.

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Stephen King: „Später“

Ein Kleinod herbstlicher Lebensfreude. (Spiegel Belletristik-Bestseller 12/2021).

Stephen King erzählt in seinem neuen Roman „Später“ die Geschichte eines Sohnes (Jamie), der Tote sehen kann, die Geschichte einer Mutter (Tia), die diesen Sohn liebt und eine Literaturagentur betreibt, und die von ihrem gemeinsamen Lebens, bis der Sohn letztlich loszieht und ein College besucht. Es ist ein Coming-of-age-Roman, der spartanisch, spätsommerlich-portugiesisch einen Sohn zu Wort kommen lässt, der geliebt wird und liebt, der die Welt bestaunt, sanft mit ihr zu Rande zu kommen versucht, zwischen Büchern und einer lesbischen Mutter heranwächst, zwischen Liebe und ersten Kuss, Grusel und Schicksal mit einer Fähigkeit des Sehens belastet zu sein, von der niemand etwas ahnt und die darin besteht, Tote wahrnehmen zu können, die kurz nach ihrem Tod noch für eine kurze Weile orientierungslos herumstehen und für ihn allein ansprechbar bleiben.

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Benedict Wells: „Hard Land“

Auf der Suche nach dem eigenen Selbst. (Spiegel Belletristik-Bestseller 11/2021)

Im Roman „Hard Land“ von Benedict Wells durchlebt ein Jugendlicher die Höhen und Tiefen des jungen Erwachsenenlebens. Auf dem Programm stehen der erste Kuss, Sex, Probleme mit den Eltern und tragische Verluste, nicht nur der Kindheit, auch der Unschuld, Mutproben und Spiele, Sehnsüchte und das Rätsel um den Gedichtband eines Kleinstadthelden, die 49 Geheimnisse, die auf die 49 Kapitel des Buches verweisen und klar das Buch im Buch nacherzählen, einem Möbiusband gleich. Wie dieses mathematisch unorientierbar sich entfaltet und kein Ende findet so auch die Erzählung, die den Sinn in einer Rahmenwirkung zu bannen versucht, ohne ihn jedoch preisgeben zu können. Sinn nämlich gibt es nicht mehr. Sinn ist die ungestillte Sehnsucht, der geheime und fehlende Protagonist des Romans.

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Yuval Noah Harari: „Homo Deus“

Keine Panik auf der Titanic.

Yuval Noah Hararis Buch „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen” basiert im Wesentlichen auf der Annahme, dass den Menschen vor allen anderen Lebewesen die Eigenschaft auszeichnet, in einer Welt der Intersubjektivität leben zu können. Diese Welt der Intersubjektivität erlaubt es den Menschen, größere Gruppen zu bilden.

Wie Forschungsergebnisse zeigen, kann ein Sapiens mit nicht mehr als 150 Individuen enge Beziehungen (ob feindseliger oder amouröser Art) ausbilden. Was immer die Menschen in die Lage versetzt, Netzwerke massenhafter Zusammenarbeit zu organisieren – enge Beziehungen sind es nicht.

Yuval N. Harari
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Christian Kracht: „Eurotrash“

Ein Buch für niemandem und keinen. (Spiegel Belletristik-Bestseller 11/2021)

Folgt man den Ausführungen Francois Lyotard in „Das postmoderne Wissen“ befinden wir uns in einer Zeit nach dem Ende großer Erzählungen, d.h. in der nur noch sich selbst transparente, oder untote Erzählungen hin und her geistern, kleine Erzählungen voller verwobener und irrelevant gewordener Details existieren können. Mischt man dazu noch Walter Benjamins „Erfahrung und Armut“ in die These, würzt sie mit der Schweiz, dem Nationalsozialismus, Demenz und Familienproblematik, sexuellen Missbrauch und Sadomasochismus, und garniert dieses Gebräu mit Anekdoten aus dem Spiegel-Magazin der letzten sieben Jahrzehnte, so erhält man, schüttelt und rüttelt man nur genug, den neuen Roman von Christian Kracht: „Eurotrash“, der auch von einer künstlichen Intelligenz geschrieben werden hätte können [siehe hierfür Daniel Kehlmann: „Mein Algorithmus und ich“].

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Hengameh Yaghoobifarah: „Ministerium der Träume“

Eine Wortmeldung der explosiven Art. (Spiegel Belletristik-Bestseller 10/2021)

Hengameh Yaghoobifarahs Roman will keine falschen Freunde, keine Sympathisanten, beim Bio-Markt-einkaufende Gutmenschen überzeugen. Der Roman ist laut, er schreit, und zwar unverblümt, seinen Schmerz heraus. Die Zeile fetzen einem um die Ohren. Ungeschlacht reißt er jedweden Boden unter den Füßen weg, lässt Mauern einstürzen, um noch höhere zu bauen. Die zugefügte Gewalt sprengt die Ketten, wer rastet, der rostet:

Ein junger Mann stellt sich hinter mich, liest ein Buch. Woher die Ruhe, Bruder, will ich fragen.

Hengameh Yaghoobifarah
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Alena Schröder: „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“

Geheimnisvoll in unentschiedener Traurigkeit. (Spiegel Bestseller-Belletristik 10/2021)

Der Roman von Alena Schröder erlaubt von Anfang an mehrere, völlig verschiedene Lesarten. Einerseits siedelt er sich im Themenbereich Aufarbeitung der bundesdeutschen Nationalsozialismus-Vergangenheit an. Andererseits beleuchtet er die Frauen-Emanzipationsprozesse von Anfang der 1920er Jahre bis zur Gegenwart mittels der vier, die Erzählung tragende Frauengestalten. Man kann den Roman selbstredend darüber hinaus als Kriminalgeschichte lesen oder als Selbstfindungsprozess einer jungen Germanistikdoktorandin innerhalb einer komplexen Familienvergangenheit voller verpasster Chancen, Scham, voller nachtragender Schuld und Traurigkeit.

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