Maria Borrély: „Mistral“

Mistral
Von der Liebe und anderen Naturgeheimnissen … eine Wiederentdeckung

Liebe als unergründliches Geheimnis bewegt die Literatur seit eh und je. Sie beschäftigt die Gedanken, die Sehnsüchte des lyrischen Ichs. In der Gegenwartsliteratur erhält sie jedoch zunehmend eher eine Statistenrolle. Selbst in dezidiert mit „Liebe“ betitelten Romane stellt sie mehr oder weniger nur ein Hintergrundrauschen dar. Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig handelt von Gewalt und Angst innerhalb einer Beziehung oder Ehe. In Das Liebespaar des Jahrhunderts von Julia Schoch überredet sich die Protagonistin, die Gewohnheit über die Intensität, das Miteinander als Nebeneinander zu akzeptieren, und Florian Illies Liebe in Zeiten des Hasses lässt gar keinen Blick auf die Romantik zwischen Individuen zu und verortet alles in ein alles durchdringendes politisches Zeitgeschehen.

Früher fanden sich stürmischere Varianten, die die Höhen und Tiefen der Liebe besangen und neben ihr nichts anderes gelten lassen wollten. Friedrich Hölderlin in Hyperion und Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers mögen als Beispiele dienen. 2022 erschien zum ersten Mal in von Amelie Thoma angefertigten deutscher Übersetzung Maria Borrélys Mistral, das 1930 in Frankreich bereits André Gide begeisterte und ebenfalls das alles verzehrende Glück der Liebe ins unmittelbare Zentrum der Erzählung rückt:

Der Himmel schmiegt seine Flanke sacht an den Leib der Erde. Die Kuppen erhoben, bieten sich die hingestreckten Hügel der blauen Liebkosung dar, einer Berührung, die überall umherschweift, sucht, jede Anhöhe begehrt, in geheime Schluchten eindringt. Der Himmel ist ganz nah, tief blau hier unter dem schwarzen Lorbeer, vermengt mit den Schattierungen dieses Weizens, dem Silber dieser Ölbäume. Firmament stürzt dort in diese Klamm. Aus den Taubenschlägen unter den Dächern der Hütten fliegen Taubenschwärme auf.

Maria Borrély aus: “Mistral”
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Kalenderwoche 44-45. Lesebericht.

Kalenderwoche 44-45. Lesebericht.

Völlig absorbiert hat mich in den letzten beiden Wochen Friedrich Hölderlins Werk. Ich blätterte in seinen Gedichten und theoretischen Versuchen, in seinen Briefen, Fragmenten, in den verschiedenen Versionen seines Romans Hyperion und Dramas Tod des Empedokles wie in seinen Übersetzungen von Sophokles‘ Antigone und Ödipus der Tyrann. In meinem Lesebericht habe ich bereits ausführlich über Hyperion berichtet und Hölderlins Versuch, mittels enthusiastische Stilistik und poetische Lebensbejahung über alle Unterschiede hinwegzutrösten, andeutungsweise untersucht. In Tod des Empedokles schlägt er einen dramatischeren, tragischeren Ton an, der nichtsdestotrotz der Bewegung und der Lebendigkeit das Wort redet:  

Vergehn? ist doch
Das Bleiben gleich dem Strome, den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heil’ge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du, den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle!
Frägst du, wohin? die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern und er endet nicht.

Friedrich Hölderlin aus: “Tod des Empedokles”
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Friedrich Hölderlin: „Hyperion“

Friedrich Hölderlin: „Hyperion“
Das Eine und Alles … poetisch die Unterschiede überbrücken.

Die Entstehungsgeschichte von Friedrich Hölderlins einzigem Roman Hyperion liest sich selbst wie ein Liebes- und Reiseroman. Geplant wurde der Roman von dem gerade zweiundzwanzig gewordenen Stiftstipendiaten ab Mai 1792. Eine Tübinger Fassung entstand um 1793, und einige Versionen und Umzüge, Komplettentwürfe und Fluchten von Tübingen nach Frankfurt später erschien 1794 ein Fragment von dem Roman in Friedrich Schillers Zeitschrift Neue Thalia. Auf dessen Anraten wurde nach Verwerfung der metrischen Fassung und der Jugendgeschichte der erste Band von zwei Bänden schließlich im Verlag Cotta 1797 veröffentlicht, aber nur nach vielen Kürzungen und Streichungen, und nach weiterem Herzschmerz, Reisen nach Jena, einer weiteren Flucht nach Nürtingen, Verwerfungen mit Freunden ging der zweite Band im selben Verlag 1799 in den Druck. Einen Romanentwurf oder ein Manuskript letzter Hand gibt es jedenfalls nicht. Wie das ganze Leben von Hölderlin, so blieb auch sein Roman in sich zerstritten und insbesondere der zweite Teil des zweiten Bandes ein Torso:

O Gott! und daß ich selbst nichts bin, und der gemeinste Handarbeiter sagen kann, er habe mehr getan, denn ich! daß sie sich trösten dürfen, die Geistesarmen, und lächeln und Träumer mich schelten, weil meine Taten mir nicht reiften, weil meine Arme nicht frei sind, weil meine Zeit dem wütenden Prokrustes gleicht, der Männer, die er fing, in eine Kinderwiege warf, und daß sie paßten in das kleine Bett, die Glieder ihnen abhieb.

Friedrich Hölderlin aus: “Hyperion”
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