Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“ [Das Debüt 2022]

Das Cover von Claudia Schumachers Debütroman zeigt eine in Öl gemalte junge Frau. Sie liegt kopfüber und schaut aus dem Bild heraus und schaut in ihr Publikum. Sie schaut still und unbesorgt, ihre Wange hinhaltend. Neben den rotgeschminkten Lippen prangt der Romantitel Liebe ist gewaltig. Wie in der Danksagung zu finden ist, handelt es sich um einen Ausschnitt aus Xenia Hausners Gemälde Baywatch. Die warmen Farben, das friedliche Motiv und das Kopfüber-Stehen deuten auf eine tieferliegende, fast prästabilierte Harmonie hin. Nur der stoische Blick der Frau lässt einen Widerstand vermuten. In ihm liegt etwas Unbestechliches, etwas Nüchternes, Zeitloses, aber auch Hinnehmendes. Im Roman jedoch geht es gleich hart zur Sache:

Papa schlug Bruno mit der Faust ins Gesicht. Aufs Auge. Auf die Lippen. Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung, presste dazwischen Sätze raus wie: Papa, ich hab‘ doch nichts gemacht, Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. Und irgendwann lag er auf dem Boden. Sein linkes Auge geschwollen. Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte.

Claudia Schumacher aus: “Liebe ist gewaltig”

Liebe ist gewaltig handelt vor allem von Gewalt, genauer von häuslicher Gewalt, die zuallererst vom Ehemann und Vater ausgeht. Schumacher bewegt sich insofern von Anfang an auf einem schwierigen Feld. Gewalt als Sujet fällt oft in die Thriller- und Kriminalromane, bspw. Sebastian Fitzeks Der Heimweg, und arbeitet mit schablonenartigen Situationen, die die Gewalt von außen, aus einem Abstand heraus analysieren und beschreiben, zumeist gänzlich auktorial. Diese Erzählposition findet auch in Milieustudien Anwendung wie in Émile Zolas Der Totschläger oder Alfred Döblins Berlin-Alexanderplatz  oder als neuere Variante Leïla Slimanis Das Land der Anderen. Als Beispiel sei hier ein kurzer Ausschnitt aus Döblins 1929 erschienem Roman aufgeführt:

Franz hat seine Braut erschlagen, Ida, der Nachname tut nichts zur Sache, in der Blüte ihrer Jahre. Dies ist passiert bei einer Auseinandersetzung zwischen Franz und Ida, in der Wohnung ihrer Schwester Minna, wobei zunächst folgende Organe des Weibes leicht beschädigt wurden: die Haut über der Nase am spitzen Teil und in der Mitte, der darunter liegende Knochen mit dem Knorpel, was aber erst im Krankenhaus bemerkt wurde und dann in den Gerichtsakten eine Rolle spielte, ferner die rechte und linke Schulter, die leichte Quetschungen davontrugen mit Blutaustritt.

Alfred Döblin aus: “Berlin-Alexanderplatz”

Der Blick auf die Situation findet von außen, von sehr weit entfernt statt und erschwert die Identifikation mit den Figuren bewusst. Die Gewalt wird als etwas Fremdes, Zerstörerisches empfunden und nicht in psychologisierenden Details und Argumenten oder narrativen Zusammenhängen nachvollzogen. Die Ich-Perspektive wird deshalb seltener gewählt, zumeist nur in explizit dem Grauen gewidmeten Romanwerken wie Bret Easton Ellis American Psycho, die offenkundig von Psychopathen handeln und mit der Schaulust ihres Publikums spielen. Gewalt steht eher in Verbindung mit einem Ich-Verlust, mit einer Ich-Zerstörung, die einen narrativen Zusammenhang schwerlich zustande kommen lassen. Georg Lukács nennt dies die Welt der Notwendigkeiten, die jenseits der ästhetischen Verdichtung liegt:  

[Die Notwendigkeiten] bilden die Welt der Konvention: eine Welt, deren Allgewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist; die in unübersichtlicher Mannigfaltigkeit überall gegenwärtig ist; deren strenge Gesetzlichkeit, sowohl im Werden wie im Sein, für das erkennende Subjekt notwendig evident wird, die aber bei all dieser Gesetzmäßigkeit sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als Stoff für das handelnde darbietet.

Georg Lukacs aus: “Die Theorie des Romans”

In dieser Allgewalt verlieren die Ereignisse ihren Zusammenhang, ihre Anschlussmöglichkeiten. Gewalt stoppt, zersplittert, fragmentiert, verwandelt eine transparente Fensterscheibe mit Blick auf die Welt in einen zersprungenen, matten grauen Haufen Glas. Claudia Schumacher packt den Stier dennoch bei den Hörnern und beginnt ihren Roman trotzdem aus der Ich-Perspektive samt aller Wort- und Sinnangst:

Die haben mich rausgeschmissen. Schaff das erst mal. Aber ich krieg‘ mich nicht hoch genug gezogen, um drüber zu lachen. Genauer gesagt, laufen die Tränen seit dem Zusammenbruch in der fucking Erzählrunde. Ich hätte nie ein Wort sagen sollen. Mama hat recht, es bringt nichts.

Schumacher lässt ihren Roman aus der Sicht von Juli Ehre erzählen. Er besteht aus drei Kapiteln mit „2007“, „2014“, „2016“ als Überschrift und einen abschließenden kurzen Epilog. Der Roman beginnt mit der siebzehnjährigen Juli, die in einem Sanatorium wegen Essstörungen und Suizidversuchen aufgepeppelt wird. Sie hält es dort aber nicht aus und wird, nachdem sie in einer Gesprächsrunde beleidigend und ausfallend geworden ist, rausgeschmissen. Zuhause wieder angekommen, versucht sie sich gegen den gewalttätigen Vater zu behaupten, rettet eine Babymaus, aber nach einer Schlägerei, die von ihrem jüngeren Bruder Bruno in einem Club angezettelt wird, gerät das Leben der Ehres wieder aus den Fugen. Juli rastet aus und verprügelt ihre Mutter:

Ich hab‘ Mama in die Fresse gegeben. Und zwar richtig. Mit einer Kraft, von der ich bis heute nicht weiß, wo sie herkam. Den ersten Schlag hab ich mit meinem eigenen Kopf gemacht. Ich hab einfach ausgeholt und ihr dann mit voller Wucht meine Birne auf die Stirn gedonnert.

Im Fortgang des Romans taucht Juli ins Mathematikstudium, ins Ego-Shooter-Spielen und in kurzen Liebesaffären ab, von denen die mit der Sozialaktivistin Sanyu die tiefsten Wunden hinterlässt. Alle Versuche, sich Sanyus Lebensstil anzupassen, scheitern. Sanyu ist gegen jede Gewalt, mag Julis Bruder Bruno nicht und kann nichts mit den Computerspielen anfangen, die Juli Tag und Nacht vor den Monitor bannen:

[Sanyu] schaute auf den Bildschirm meines Laptops, sah die Schlusseinstellung: Ich hatte einer Frau bei lebendigem Leib den Unterkiefer abgesägt und sie lag in ihrer Blutlache, ihre Zunge fiel ins Leere. Es folgt der größte Krach, den wir je hatten. Sie wollte wissen, was es mit all dem auf sich hatte, ballerte aber gleichzeitig vorgefertigte Meinungen raus: Dass ich völlig gestört sei von dem Zocken, warum ich mir das nur antue, ich sei doch so intelligent? Wie misogyn diese Spiele sind, sagte sie: Hasst du dich selbst wirklich so sehr?

Danach gibt es kein Zurück mehr. Juli ist wieder allein und reist zurück zu den Eltern, wo es wieder zum Eklat kommt. Bruno und Juli reisen ab, und Juli beginnt eine rastlose Reise durch Clubs, mit Drogen und Alkohol, um sich abzulenken, wobei sie Thilo kennenlernt und sich in der Rolle der Trophy Wife neu zu erfinden sucht. Das dritte Kapitel „2017“, Höhepunkt des Romans, markiert hier einen harten und unvorhersehbaren Bruch im Roman, der bis dato aus der Ich-Perspektive von Juli erzählt worden ist, hier aber seine balancierte Erzählstimme findet.

Juli gerät in die Fänge des brutalen, auf dem ersten Blick unscheinbaren, aber von Kontrolle besessenen Thilos. Vieles erinnert an Nancy Prices Roman Der Feind in meinem Bett. Als Figur überzeugt Thilo durch und durch. In diesen Abschnitten erhält Claudia Schumachers Prosa eine enorme Dichte und spannungsgeladene Sicherheit. Die Beziehung Julis mit Thilo wirkt, im Gegensatz zu der mit Sanyu, geradeheraus, narrativ überzeugend, schnell und präzise erzählt. Der Rhythmus und Stil ähnelt hier in Tempo und Duktus an Bret Easton Ellis‘ American Psycho:

Mit hochrotem Gesicht knalle ich meinen Bellini auf den Tisch, und als ich aufblicke, sind unsere Vorspeisen gekommen. Eine Hardbody-Kellnerin blickt mit diesem merkwürdigen glasigen Ausdruck auf mich herab. Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und lächele freundlich zu ihr hoch. Sie steht da und schaut mich an, als sei ich eine Art Monster – sie sieht tatsächlich verängstigt aus –, und ich werfe Price einen Blick zu – warum? Beistand heischend? – und der formt mit den Lippen: »Zigarren« und klopft auf seine Jackentasche.

Bret Easton Ellis aus: “American Psycho”

In diesem personal erzählten Kapitel entwickelt Schumacher ein Gespür für untergründigen Horror. Das Netz zieht sich um Juli zu, die sich selbst verleugnet, die weiß, dass sie sich verleugnet, aber gleichzeitig, wider aller Wahrscheinlichkeit auf ein Happy End mit Thilo hofft. Sie wünscht sich Glück, Frieden, ein Zuhause und Sicher-Sein, und in vollendeter Selbsttäuschung wünscht und hofft das personale Erzählen in diesen Passagen mit. Die Gewalt liegt hier im Unscheinbaren, in der Perfektion der Wohnungseinrichtung, in den Gesprächen, in den Blicken des sich gegenseitig beobachtenden Paares. Das Sterile und Harte dieser Lebensform mit den unverrückbaren Maßstäben und Erwartungen dringt durch und spiegelt sich in den kurzen, stechenden Sätzen Schumachers wider. Eine indirekte, kaum entrinnbare Macht ballt sich um Juli zusammen, eingekerkert, bombardiert, vom Idealbild Thilos von einem perfekten und gelungenen, vorzeigbaren Leben gefangengenommen:

[Juli] fuhr die schweren Couchkissen ab, deren samtene Oberflächen ihren Händen schmeichelten und ihr vergewisserten: Dieses Leben in Sicherheit und Wohlstand, es ist wahr. Wenn sie ein Fenster öffnete, war nicht mehr zu hören als ein wenig Blätterrascheln, gelegentlich eine Kuhglocke, und vor dem Balkon glitzerte der Zürichsee in seiner ganzen Trinkwasserqualität. Wer hätte gedacht, dass das Leben so einfach sein könnte? Es ging ihr gut, und selbst wenn es noch dunkle Orte in ihr geben mochte: Sie hatte sich entschieden, dort nicht mehr hinzugehen.

Nur dass ihr inneres Dunkel nur deshalb weniger dunkel erscheint, weil sich ihr äußeres Leben mehr und mehr schwärzt und vereinsamt, ohne dass sie es merkt. Thilo übernimmt nach und nach ihr Leben, bestimmt immer mehr, mit wem sie sich trifft und isoliert sie von ihrem Bruder. Im Gegensatz zu Julis Vater, der wie ein wütendes Kind erscheint, versprüht Thilo wie der Wallstreet-Yuppie Patrick Bateman in American Psycho Gewaltbereitschaft von Anfang an. Es bedarf keiner direkten Beschreibung. Die minutiöse Erwähnung der idiosynkratischen Reinheit und dem Wunsch nach Symmetrie, nach Kontrolle und Allmacht reicht vollkommen, um eine unheimliche, bedrohliche Szenerie zu schaffen:

In einer Ecke des Zimmers steht ein cremefarbener Stuhl aus Leder, Stahl und Holz, Design von Eric Marcus, in einer anderen ein Stuhl aus formverleimtem Sperrholz. Ein schwarzgetupfter Maud-Sienna-Teppich in Beige und Weiß bedeckt den größten Teil des Bodens. Eine Wand wird von vier gigantischen Kommoden aus gebleichtem Mahagoni eingenommen. Im Bett trage ich Seidenpyjamas von Ralph Lauren, und wenn ich aufstehe, schlüpfe ich in einen Morgenmantel aus Ancient-Madder-Seide mit Paisleymuster und gehe ins Badezimmer.

Bret Easton Ellis aus: “American Psycho”

Wie bei Bateman ist es bei Thilo auch nur eine Frage der Zeit, bis dieser Größenwahn und Selbstzwang sich in Gewalt gegen andere, insbesondere gegen Frauen entlädt. Das dritte Kapitel löst ein, was die anderen Kapitel nur versprechen. Julis Familie wirkt nur unbeholfen und kindisch. Thilo dagegen hochgefährlich. Es liegt aber auch vor allem an der bewusst eingenommenen Distanz zu Thilo, dem keinerlei Psychologisierung widerfährt. Er ist, der er ist, und diese Erzählposition lässt die Situation auf sich wirken. Sie gestaltet die Situation nicht mit, was notwendigerweise im Falle einer Ich-Erzählerin passiert, die sich darum, als Täterin und Opfer zugleich, nicht über den Weg trauen kann. Nicht ohne Grund hat Claudia Schumacher nämlich ihrem Roman einen Ausschnitt aus Louise Glücks Gedicht The Untrustworthy Speaker (Die unzuverlässige Sprecherin) als Motto vorangestellt:

That’s why I’m not to be trusted.
Because a wound to the heart
is also a wound to the mind.

Man kann mir nicht trauen.
Denn ein verwundetes Herz
ist auch ein verwundeter Geist.

Louise Glück aus: “Ararat”

Selbstentfremdung und Selbsthass aus der Ich-Perspektive zu schreiben, gelingt meist nur durch eine ambivalente Selbstverdopplung, d.h. das Ich, das spricht, distanziert sich von sich selbst, aber auf diese Weise bricht die Erzählposition entzwei wie in Maxim Billers Der falsche Gruß, denn wer, wenn nicht das Erzähl-Ich, spricht. Die Ich-Perspektive untergräbt sich auf diese Weise. Sie wird zu einer unzuverlässigen Erzählerin und nimmt das Motto und Glücks Gedicht indirekt auf, ohne seinen Namen zu verraten. Juli kann ihren eigenen Augen nicht trauen. Sie glaubt weder an sich noch an die synthetisierende Kraft ihrer Emotionen und Sinnlichkeit. Die Ich-Erzähler-Figur wird sich selbst zu einem Objekt inmitten von Objekten. Claudia Schumacher arbeitet das klar heraus, wenn sie Juli ungehemmt ihre Eltern anklagen lässt:

Ihr kranken Arschgeburten, ihr habt euch so was von verdient. Passt zusammen wie die Faust aufs Auge. Mir wurde endlich klar, was Sache ist, und zwar, dass dieser Mann und diese Frau niemals Kinder bekommen haben. Nein, die haben lediglich Statisten produziert. Die haben mich nie geliebt und die haben Bruno, Max und Alex nie geliebt. Die haben ihre Söhne und Töchter nur als Statisten benutzt, damit jemand zuguckt, wenn sie allabendlich ihre schäbige kleine Seifenoper aufführten.

Die Ich-Erzählerin nimmt sich nicht als Akteur wahr. Ihr widerfahren die Dinge, aber einem Ich widerfahren sie nicht einfach. Ein Ich bleibt stets ein Teil der Welt, in der es empfindet, handelt, agiert, und deshalb wirkt die Ich-Perspektive ambivalent und widersprüchlich, ohne die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Figur zu gestalten und ästhetisch zu durchdringen. Im Auge des Hurrikans, im dritten Kapitel, gelingt es aber durch und durch.

Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher liest sich insofern vor allem als ein Versuch, diese Erzählpositionen zu mischen, zwischen Täter- und Opferperspektive zu changieren, also einen Graubereich der Gewalt auszuloten. Eine Lösung ist ihr nicht wirklich gelungen. Gewalt ist oder ist nicht. Ihr Roman arbeitet aber diese Frage klar und präzise heraus, nämlich die, ob sich Gewalt überhaupt aus der Ich-Perspektive verstehen lassen kann.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Weitere Rezensionen finden sich auf:
buecheratlas
feinerreinerbuchstoff
buch-haltung
dieliebezudenbuechern
zeichenundzeiten
literaturgefluester
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um nur einige zu nennen.

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