
Die Mutter und die DDR sind die dominierenden Themen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der letzten Jahre. Die Mutter dient als Reflexionsfläche, Sehnsuchtsraum und Enttäuschungsverarbeitung über die eigene, als kritikwürdig empfundene Gesamtexistenz. Lange Jahre, beredte Beispiele aus den Schriften im Dunstkreis der Frankfurter Schule lassen sich leicht finden, stellte die Mutter eine Art Schutzraum dar. Die Zeiten scheinen vorbei. Die Mutter ist feige wie in Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig. Sie ist nicht durchsetzungsfähig wie in Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter. Sie ist gar gewalttätig wie bei Anne Rabe in Die Möglichkeit von Glück oder schlichtweg emotional misshandelnd wie in Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen. Sylvie Schenk in ihrem Roman Maman beschäftigt sich auch mit ihrer Mutter:
„Sylvie Schenk: „Maman““ weiterlesenMit festen Abläufen und gewissen Einkäufen versuchte Maman, sich aus der ganzen Chose zu retten. Ich sehe sie meistens an zwei Orten: im Erker des Wohnzimmers, wo sie strickte, eigentlich kein Erker, es sah nur wegen eines Wandschranks so aus, der als Bibliothek umfunktioniert wurde […] Der zweite Ort ist der Gussheizkörper des Wohnzimmers. Dort stand sie oft im Winter, die Hände hinter dem Rücken direkt an den Rippen der Heizung. Sie fror ständig. Sie tupfte sich oft die Nase mit einem Taschentuch, einem mit Langettenstichen umsäumten Stück Stoff, das sie in den Kleider- oder Jackenärmel stopfte, wenn es in ihren Röcken keine eingenähten Taschen gab.
Sylvie Schenk aus: “Maman”