Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“

Die Möglichkeit von Glück
Flucht vor der eigenen Vergangenheit … SWR Bestenliste Juni

Alexander Kluge schreibt keine herkömmlichen Texte. Bücher wie Lernprozesse mit tödlichem Ausgang oder Lebensläufe – Anwesenheitsliste für eine Beerdigung erweitern die Vorstellung von Literatur ins Unabsehbare. Was jedoch gleich auffällt, Kluge nennt diese seltsamen Sprachobjekte nicht „Roman“. Sie besitzen keine auf dem Buchdeckel vorzeichneten Erklärungen. Sie fallen mit der Tür ins Haus und wabern fröhlich zwischen Geschichte und Eigensinn als Theoriebrocken und In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod als Filmtorso hin und her und beglücken und irritieren fast zu gleichen Anteilen ihr Publikum. Anne Rabe, ihres Zeichens ebenfalls Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin, schreibt ähnlich, mit dem kleinen Unterschied, dass Die Möglichkeit von Glück laut Verlag und Autorin „Roman“ sein soll.

Frau S. von der Stasi-Unterlagenbehörde hat gesagt, es gebe keine Akten. Deckel drauf und fertig. Mein Großvater [Paul], der Held meiner Kindheit, würde einer bleiben. Was treibt mich eigentlich an? Ich komme mir schäbig vor. Wie ein Praktikant beim SPIEGEL, der Anfang der 90er auf der Suche nach der Geschichte ist, die ihm zum Durchbruch verhelfen könnte.

Anne Rabe aus: „Die Möglichkeit von Glück“

Inhalt/Plot:

Rabes Ich-Erzählerin heißt Stine, eine junge Mutter von zwei Kindern, die mit ihren Eltern, Sven und Monika, in Zwietracht liegt und nur noch mit ihrem Bruder Tim wirklich engen Kontakt hat. Ihre Großeltern heißen väterlicherseits Arndt und Ursel und mütterlicherseits Paul und Eva. Besagter Opa Paul und Mutter Monika stehen im Zentrum der (Ab-)Handlung von Die Möglichkeit von Glück:

Ich warte darauf, dass Mutter sich auch bei mir wieder meldet, und wünsche mir zugleich, dass sie es nicht tut. In den letzten Jahren habe ich mir eingeredet, dass die Frau, vor der ich mich fürchtete, eine Fantasie war. Ich hoffte, dass von Monika Bahrlow längst keine Gefahr mehr für mich ausging. Aber der Brief an Tim hat diese Hoffnung verpuffen lassen. Diese Verpuffung fand in meinem Inneren statt. In einem lebendigen Körper.

Stine steht auf Kriegsfuß mit ihrer Mutter Monika. Nicht nur ist sie sehr streng und verteilt Ohrfeigen und Kopfnüsse. Sie zwingt Stine und ihren Bruder auch in eine viel zu heiße Badewanne zu steigen, und als sich Stine vorlaut und indiskret über die Homosexualität eines Lehrers äußert, bestraft sie Stine mit wochenlangem Schweigen. Zudem erzählt sie stolz, dass ihre harten Erziehungsmethoden, nämlich nicht zu jeder Tageszeit auf jedes Schreien ihrer Kinder einzugehen, dazu geführt haben, dass Stine und Tim nur nach vier Wochen die Nacht bereits durchschliefen. Am schlimmsten jedoch wiegt für Stine und hierum geht es im Kern in Die Möglichkeit von Glück, dass sie als ehemaliger Erzieherin in DDR Kinderheimen wirkte, völlig auf Seiten des Staates stand und sich nicht von ihrem Vater Paul distanziert, der noch kurz vor Ende der DDR 1988 noch die Johannes-R.-Becher-Medaille verliehen bekommen hat für »Verdienste um die Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur«. Dieser familiäre Hintergrund bewirkte nämlich die völlige Isolation der Ich-Erzählerin in Kindheit und Jugend:

Ich denke an das kleine Mädchen, das ich war und das sich immerzu falsch gefühlt hat, zuhause und in der Schule und bei den Familien meiner Freunde. Ich wollte so gern dazugehören, aber ich hatte keine Chance. Ich ahnte nichts von dem, was die Leute in mir sahen.

In der Analyse der Ich-Erzählerin sahen ihre Klassenkameradinnen und die Angehörigen von diesen in ihr nur ein Sprößling der Staatssicherheit, ein Repräsentant eines untergegangenen Staates, denn die Kindheit der Ich-Erzählerin, geboren 1986, fand in der Nach-Wende-Zeit statt und ihre Familie gehörte, auch wenn viele Privilegien wie Bildungsgrad hinübergerettet werden konnten, dennoch zu den Wende-Verlierern. Stine hat es also durch die familiäre Hypothek sehr schwer, beliebt zu werden. Sie findet keinen Zugang, bleibt außen vor und beginnt daraufhin, sich massiv selbst zu verletzen, schneidet sich, bringt sich bewusst in Gefahr und versucht sogar mit Hilfe ihrer besten Freundin Ada, sich ihren Arm zu brechen. Die Selbstzerstörung gibt ihr Halt:

Ich wusste nicht, was ich tat, und wollte es doch tun. In meine Arme und Beine setzte ich tiefe Schnitte und manchmal schälte ich mit einem Messer die Haut vom Knochen. Schicht um Schicht. Dann streute ich Salz in die Wunden. Ich schnitt mir in die Fußsohlen und legte Steine in die Schuhe. Aber es quälte mich nicht. Der Schmerz gab mir eine seltsame Art von Sicherheit. Außerdem bewies er mir, dass ich stärker war als alle anderen. Ich könnte mehr aushalten als die Dumpfbacken um mich herum.

Stines Eltern schenken Stines Verletzungen wenig Beachtung. Sie halten es lediglich für eine Phase und tun es als Kindernarretei ab. Öffentlichkeit und Privates trennen sie strikt. Sie halten sich an alle Regeln und Vorgaben und versuchen einzig, egal in welchem Regime, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, ob im Westen oder zu Zeiten der DDR. Sie handeln opportunistisch und konformistisch und sind erfolgreich darin. Stines Vater kauft sich von seinem Begrüßungsgeld ein Deutsch-Englisch-Wörterbuch, erarbeitet sich als gelernter Elektroingenieur nach der Wende sofort Kenntnisse in der Computertechnik und findet schnell einen gutbezahlten Job in Hamburg. Konflikt suchen die Eltern nicht. Repräsentativ für diese Mentalität steht Stines Opa Paul. An seiner Geschichte arbeitet sie sich ab:

Wir [Stine und Paul] gingen so nebeneinander her und ich war froh über alles, was er sagte. Jeder Satz ein kleiner Fetzen Geschichte, ein kleines Stück vom Anfang. Es kam mir vor, als könnte ich so ein bisschen was verstehen, als würde Opa Paul aus der Vergangenheit ein kleines Stückchen Boden holen, auf dem es sich laufen ließe, auf dem ich Tritt fassen könnte. Aber es war zu wenig. Unsere Schritte nebeneinanderher waren zu vorsichtig. Wir spielten Nicht-den-Fußboden-berühren, ohne zu lachen.

Das Plot-Rudiment beschränkt sich auf Stines Versuche, Informationen über Paul Bahrlow in Erfahrung zu bringen. Sie recherchiert. Sie fragt nach Akten, bittet um Akteneinsicht und stößt dabei auf Widerstand. Viel herum kommt dabei jedoch nicht: Paul stammt aus ärmlichen Verhältnissen, muss früh zum Familieneinkommen beitragen, träumt aber von einer höheren Bildung und davon, Lehrer zu werden, also mit dem Kopf, nicht mit den Händen sein Geld zu verdienen. 1942 wird er trotz schlechter Augen eingezogen, muss in den Krieg, wird aber verwundet und entkommt so knapp dem Tod in Stalingrad. Im Mai 1945 wird er von der Roten Armee gefangen genommen. Er flieht, bleibt aber im Osten und nutzt in den Wirren der Nachkriegszeit seine Chance, erwirbt ein Notabitur, studiert und wird schlussendlich systemkonformer Schulleiter.

Trotzdem war [Opa Paul] auch ein halbes Jahrhundert später noch, als er dir davon erzählte, überzeugt, das Richtige getan zu haben. Das ganz besonders Richtige. Das, wogegen doch niemand etwas haben konnte. Er hatte niemanden von der Schule geschmissen. Und zugleich seine Pflicht erfüllt, seine Schülerschaft auf staatsfeindliche Umtriebe zu prüfen. Besser ging es nicht.

Nach Rekonstruktion dieses großväterlichen Lebenslaufs fasert Anna Rabes Text aus und schließt mit Reflexionen über ein besseres Miteinander in Gräsö, Schweden.

Stil/Sprache/Form:

Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück arbeitet nicht mit Sprache als Medium. Sie befindet sich stattdessen eher in einem direkten Dialog mit dem Publikum und mit sich selbst, wobei das Selbstgespräch und die Reflexion im Text kursiv gedruckt ist. Recherche und Detektivarbeit Stines werden nur skizziert. Szenen bleiben Rudimente von Andeutungen. Die Figuren, also die Familie und Freunde Stines, erhalten wenig Dimensionen. Sprachlich unterscheidet sich Die Möglichkeit von Glück nicht von herkömmlichen Zeitungsartikeln. Es geht der Ich-Erzählerin, der Reflexionsinstanz, einzig um die Ver- und Aburteilung ihres Opas, das nachgeschobene Schuldeingeständnis, zu dem dieser zeitlebens nicht in der Lage gewesen sei:

Opa Paul hat viele Leben geführt. Das Leben im Lumpenproletariat der Weimarer Republik, das Leben als Kanonenfutter, das Leben als Propagandist der SED und zum Schluss das des Betrogenen. Was waren diese Leben wert? Diese Leben, von denen er nicht sprechen konnte, weil er sie immer wieder verstecken und überschreiben musste. Er hat sich vor sich selbst versteckt, um weiterzumachen, voranzukommen. Um zu bekommen, was ihm niemand schenken würde, wonach er nur selbst greifen konnte.

Als Romanfigur erhält Paul keine Chance, von seinen Ängsten, Problemen, seinem Stolz, seinen Eitelkeiten, menschlichen Schwächen und Fehltaten zu berichten. Er bleibt zwischen den Zeilen gefangen, in der Selektion des Berichteten eingekerkert und zum erneuten Schweigen verurteilt. Die Ich-Erzählerin Stine hält über ihn als selbsternannte moralische Instanz Gericht, sammelt Fakten gegen ihn, rekonstruiert seine Vergehen, seine Feigheiten, wiegt das eine gegen das andere auf und kommt zu einem klaren Verdikt.

[Paul] hat geglaubt, auf der Seite der Sieger zu stehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte. Er hat sich so oft gewandelt, so oft am eigenen Schopf aus dem Dreck gezogen, den andere ihm hinterlassen haben. Und er hat sich geirrt. Total geirrt.

Die formale Einseitigkeit verengt Rabes Text zu einem Schauprozess, den die Ich-Erzählerin gegen die eigene Familie anstrengt. Als Roman gerät die Fiktion so in ein taumelndes Ungleichgewicht. Die Ich-Erzählerin befindet sich weder in Gefahr, noch in Abhängigkeit von ihrer Familie; weder existiert Opa Pauls DDR-Staat, noch übt dieser noch irgendeine bedrohliche Funktion aus. Die Familie verfügt über keine Macht und keine Beziehungen und keinerlei Möglichkeiten mehr, der Ich-Erzählerin das Leben schwer zu machen. Die Angst, dass die eigene Mutter Stine das Sorgerecht für ihre zwei Kinder entreißt, wird angedeutet, aber nicht plausibilisiert.

Als ich nach Hause komme, finde ich im Briefkasten einen Brief an Klara ohne Absender. Ich weiß sofort, dass er von Mutter ist. Ein stechender Schmerz pulsiert durch meine Schläfen. Einer, der sich nicht wegmassieren lässt, sondern sich flink davonmacht an eine andere Stelle und gehässiger sticht, sobald ich versuche, ihn mechanisch zu lindern. Die Angstmigräne. Ich kann die Uhr nach ihr stellen, genau wie nach der Wutmigräne. Den Brief nehme ich an mich und verlasse noch einmal das Haus, gehe noch eine Runde um den Block und überlege, ob ich ihn öffnen darf. Natürlich nicht. Aber ich öffne ihn trotzdem.

Stine wirkt zwar überfordert, traurig, melancholisch, aber in keiner Weise unfähig und bedroht, ihre Kinder an die Mutter zu verlieren. Sie wird als selbstbewusst, klar und motiviert beschrieben, ihre eigene Geschichte zu rekonstruieren und ihre Schmerzen zu verarbeiten. Ohne zu zögern, stellt sie sich gegen ihre Familie, emanzipiert sich und lebt ein freies, unabhängiges und glückliches Leben mit ihrem Ehemann Hans, der wie ihre Kinder und ihr Bruder Tim ganz auf ihrer Seite stehen. Ihre selbstzerstörerischen Tendenzen hat sie überwunden und sich mit ihrer Kindheitsfreundin ausgesöhnt. Was bleibt, ist die Trauer, nicht die Familie und Eltern gehabt zu haben, die sie gewollt und vielleicht ihrer Meinung nach auch verdient hat:

Der Wunsch nach einer Familie würde dennoch bleiben. Eine Familie, in die man zurückkehrt wie in eine Höhle. In der es zwar auch Ecken und Kanten gab, an denen man sich im Dunkeln schrammte, aber in die man zu jeder Zeit und so, wie man war, fliehen und sich vor aller Welt verstecken konnte. Dieser Wunsch würde bleiben, aber sich nicht erfüllen.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Die Möglichkeit von Glück wirkt wie eine Mesalliance aus einer Günter Wallraff Reportage wie Ihr da oben, wir da unten, einem Bertolt Brecht Schaustück wie Die Maßnahme und einer verschriftlichten Drehbuch-Film-Schnipsel-Vertextung à la Alexander Kluge in Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Überzeugende Figuren bedürfen diese Textsorten nicht. Sie greifen entweder als Pamphlete in politische Diskussionen ein oder wirken als zeitgenössische, besondere Geschichtsschreibung, um eine Stoff- und Faktenlage für weitere Verarbeitung zu sichten. Diese Sorten Text verstehen ihre Grenzen aber nur allzu gut, wie es bspw. Alexander Kluge in einem Interview demonstriert:

Ich kann eine Geschichte nicht erzählen – das würde mir zum Beispiel bei meinen Eltern sehr leicht passieren, dass ich etwas, das ich bei meinen Eltern beobachtet habe, nicht beschreiben kann. Ich treffe da auf eine Blockade. Das merke ich daran, dass ich das, was ich dabei als wirklichen Kern empfinde, in der Geschichte nicht mehr regulieren kann. […] Die Blockade hatte also einen ganz einfachen Grund: Etwas Unmögliches darf der Autor nicht versuchen. Heilen kann der Autor nicht.

Alexander Kluge aus: „Die zwei Paar Ohren der Fledermaus“ [Interview]

Rabe versucht es dennoch. Ihre Ich-Erzählerin will die Altlasten von den Schultern werfen. Sie will einen endgültigen Schlussstrich ziehen, und zwar irreversibel und total, ohne jedoch die Lehren aus der Vergangenheit zu vergessen. Es gilt die Lektionen anzuerkennen, den Sinn im Ganzen zu erfassen und so ein neues Gemeinschaftsgefühl zu kreieren. An prominenter Stelle gibt es das Gleichnis mit Sternenkonstellationen, die eine Metapher für die Sinnsuche seien:

Es dauerte nicht lange, und ein Typ erklärte mir Sternenbilder und dass sie aber bloß ein Blick in die Vergangenheit wären und auch, dass die Konstellation der Sterne überhaupt nichts zu bedeuten hätte, alles Aberglaube, aber auch irgendwie schön, denn es wäre doch gigantisch, dass die Menschen immer nach einem Sinn suchen würden. Würden sie nicht mehr nach diesem Sinn suchen, dann wäre die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben und eine Welt, die für alle Menschen ein Zuhause sei, endgültig im Arsch.

Die Sterne und Sternenbilder geben den formalästhetischen Rahmen für Die Möglichkeit von Glück. Einzelne, unzusammenhängende Szenen werden miteinander in Verbindung gebracht, um die gähnende Leere zwischen ihnen zu überbrücken. Diese Leere besteht aus Unkenntnis, Unwissen und Misstrauen, aber vor allem aus Kälte. Das Schwarz hellt sich nicht auf. Ein Gesamtbild lässt sich nicht kreieren. Die Figuren finden nicht zueinander. Sie mögen sich schlicht nicht. Dass die Meinung, die Eltern trügen alleine die Schuld daran, nicht zur innerfiktionalen Versöhnung zwischen den Generationen beiträgt, davon legt Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück beredtes Zeugnis ab. Eine Erinnerung ohne Verinnerlichung führt auch nur zum Schweigen, ob als Roman oder Dokument, spielt dann keine Rolle mehr.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 25. Juli 2023 auf Kommunikatives Lesen:
J.M. Coetzees neuester Roman namens Der Pole.
Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier. 

13 Antworten auf „Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück““

  1. Es führt zu nichts Gutem, wenn sich jemand zum Richter über seine Mitmenschen macht, nicht mal zu einem guten Buch, wie du hier zeigst.
    Du legst den Finger auf die entscheidende Wunde: wenn die „Beschuldigten“ keine Chance bekommen, für sich selbst zu sprechen, sondern nur die Sicht der Protagonistin zu lesen ist, lebt die Geschichte nicht und kann auch niemanden überzeugen, weil alles nur behauptet wird.
    Und doch spiegelt dein Bericht noch etwas anderes: die Geschichte davon, was es mit einem Menschen macht, der über die Selbstgerechtigkeit seiner Eltern/Großeltern urteilt, ohne die eigene, gleichartige Struktur mit zu betrachten.

    1. Liebe Ule, Danke für diesen Kommentar. Mein Lesebericht viel düsterer als sonst aus. Ich konnte dieser herablassenden Art sehr wenig abgewinnen – trotz aller Versuche, etwas zu finden, gelang es kaum. Ich war sehr baff. Die Abgrenzung zur Vergangenheit, diese nieder- oder schönzureden, ohne jedoch sich und sein Interesse, seinen eigenen Schmerz in den Vordergrund zu stellen, hat mich ratlos zurückgelassen. Eine der besonderen magischen Eigenschaften der Literatur bleibt für mich das Erlernen, Erweitern, das Vertiefen, Intensivieren von Empathie. Das gelingt nicht, wenn einfach alles nur nervt und falsch ist und jemand einen Schlussstrich zu ziehen gewillt ist. Entweder er wird gezogen, dann gibt es kein Buch, nur die Zukunft, oder er wird eben nicht gezogen und das hat dann seine, wohlmöglich, viel interessanteren Gründe. Mich hat dein Kommentar sehr gefreut, denn ich habe mich mit dieser Lesebesprechung sehr gequält 😀 Viele Grüße!

      1. Ich glaube, an der Qual des Umgangs mit dem Ungenügen, an Mangel an Bescheidenheit und Einfühlungsbereitschaft leidet in diesem Buch die Protagonistin, und das springt den Leser so an, weil sie sich dem nicht stellt. Ich halte das für eine typische Erscheinung in der generellen Umgangsweise mit dem menschlichen und sachlichen Nachlass der DDR. Könnte die Stine hier eine Stellvertreterin dafür sein?

      2. Ja, das Buch schlägt in diese ewigselbe Kerbe. Viele Romane lassen ihren Frust an der DDR-Vergangenheit unreflektiert heraus. Ich habe deshalb Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und Werner Bräunigs „Rummelplatz“ besprochen, um eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie eine vernichtende Kritik aussieht, die sich Eigenanspruch und Realität stellt, statt einfach nur den Selbsterhaltungswunsch, den jeder Staat teilt und stets mit Gewalt durchsetzt, zu kritisieren. Auch Jenny Erpenbecks “Kairos” geht viel mehr ins Detail, oder in einer wirklich eindrücklichen Passage Hari Kunzrus “Red Pill” (leider habe ich nie lange Rezension dazu nie geschrieben). Bräunig und Reimann zeichnen sich dadurch aus, dass sie während der DDR geschrieben und sie auf der Höhe der Macht kritisiert haben – diese typischen Bücher, zu denen Anne Rabes Werk gehört, so erscheint mir, kommen einfach Jahrzehnte zu spät, und selbst dort war ein Ulrich Plenzdorf mit „Die neuen Leiden des jungen W.“ erfolgreicher und unterhaltsamer. Vielleicht lese ich mal irgendetwas Neues von Plenzdorf?

      3. Du hast meine Frage beantwortet, bevor ich sie gestellt habe, nach Büchern, die anders mit der Systemkritik umgehen. Da verlängert sich meine Leseliste gleich ein bisschen. Danke für diese Hinweise.

      4. Kennst du „Machandel“ von Regina Scheer? Oder den Film „Gundermann“?
        Auf WDR 3 habe ich in der Sendung Gutenbergs Welt eine vorzügliche Kritik des Buches von Anne Rabe entdeckt in der Folge „Neue Bücher über ostdeutsche Affären“ vom 2.6.23 (gibt es als Podcast zum Nachhören z.B. in der App „Podcast Addict“).

      5. Habe mir das Buch mal bestellt. Ich schau rein. Noch nie von gehört von. Vielen Dank! 😀 Die Kritik im Podcast ist ziemlich deutlich. Ich würde noch näher am Text, am Erzählen bleiben, aber im Großen und Ganzen bleibt es ja auch eher ein Traktat. Ich bin nur zufällig über das Buch gestoßen. Mir fehlte einfach das Erzählerische, der sprachliche Schwung, die Konsistenz – ich denke, es ist eine dramaturgische Skizze für ein AgitProp-Theaterstück. Nochmal Danke fürs Aufmerksam-Machen, ich kannte diesen Podcast gar nicht. Viele Grüße!

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