Hervé Le Tellier: „Die Anomalie“

Heiter weiter … Prix Goncourt 2020

Die französische Avantgardeliteratur nach dem Surrealismus, also seit den 1950er Jahren, hat viele Stilblüten und Sonderbarkeiten hervorgebracht. Man denke an die Besessenheit, Temporalisierungen aufzuheben, eines Michel Butor, oder szenische Filmdichtungen in einer Villenlandschaft zu kreieren wie Alain Robbe-Grillet, oder die Welt zu unterminieren, Subversion in dramengetriebener Rundum-sprachlichkeit zu demonstrieren, wie Marguerite Duras, oder das vollendete „Buch der Fragen“ von Edmond Jabès, das dem Geheimnis der Kommunikation nachspürt. Neben poetologischen Revolutionen und aufgebrachten Sprachrevolten zog als Antwort auch der Strukturalismus in die Gefilde der Romanlandschaft ein und es entstand eine Art Formalliteratur rundum die Gruppe Oulipo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle). Hervé Le Tellier ist einer von ihnen, und es liegt ein neuer Roman von ihm vor: „Die Anomalie“.

Wer die LiteratInnen der französischen Antwort auf die Gruppe 47 kennt, weiß, dass sie Literatur als eine mathematische Spielform betrachten. Die Formalisierungsbemühungen des Kollektivs Nicolas Bourbaki steht als Gründungsmythos hinter den Sprachexperimenten, die Spracherweiterungen durch formale Zwänge erreichen wollen. Formale Zwänge oder Beliebigkeiten führen dann zu mehr oder weniger einfallsreichen Romanen oder Dichtungen wie Georges Perec in „Anton Voyls Fortgang“, in welchem der Buchstabe ‚e‘ nicht vorkommt, oder Raymond Queneaus „Hunderttausend Milliarden Gedichte“, die permutativ zu lesen und auszuschöpfen Millionen von Jahren bedürften. Wer plötzlich einen trockenen Mund bekommen hat, liegt näher an der Wahrheit, als es der spielerische Gestaltungswille rundum Queneau und Perec beabsichtigt haben dürfte. Ein Beispiel aus Georges Perec Mammutroman „Das Leben – Gebrauchsanweisung“:

 „Auf dem Boden überall die Überbleibsel der großen Abendgesellschaft: mehrere nicht zusammengehörige Schuhe, eine lange, weiße Socke, eine Strumpfhose, ein Zylinder, eine falsche Nase, Pappteller, aufeinandergestapelt, zerknittert oder einzeln, voller Essensreste, Radieschenkraut, Sardinenköpfe, angebissene Brotstücke, Hühnerknochen, Käserinden, Schiffchen aus gekräuseltem Papier, die Kleingebäck oder Pralinen enthalten hatten, Kippen, Papierservietten, Pappbecher; auf einem niedrigen Tisch verschiedene leere Flaschen und ein kaum angeschnittener Butterklumpen, in dem sorgfältig mehrere Zigaretten zerdrückt worden sind; an anderer Stelle ein ganzer Satz kleiner, dreieckiger Vorspeisenteller, die noch verschiedene Appetithappen enthalten […]“

Georges Perec aus: „Das Leben – Gebrauchsanweisung“

Auf diese Weise wird ein Wohnhaus, jeder Bewohner, jedes Zimmer, jeder Winkel, jedes Foto wieder und wieder, seitenlang beschrieben. Das Episodenhafte wird halsstarrig beibehalten. Reihungen, Parataxen jagen einander. Das Gute wie das Schlechte der formalen Fokussierung tritt schnell zutage. Ein Barock ohne Überschwang. Die Erzählungen haben Witz, erzeugen Kalauer, überraschende Wendungen einer Écriture automatique, aber sie können auch kapitelweise ermüdend und langweilig werden. Wie im Übrigen die Mathematik des Kollektiv Nicolas Bourbaki auch.

Tautologien einer logischen Semantik fangen nicht mehr und weniger als das ein, was in ihnen hineingelegt wurde. Die Systematisierung der Mathematik scheiterte an dem einfachen Grund, dass jedes formale System von hinreichender Mächtigkeit (wie Arithmetik – also jedes System, das zumindest die Repräsentation von Zahlen und Addition erlaubt) entweder widersprüchlich oder unvollständig ist (der Gödelsche Unvollständigkeitssatz). Mit anderen Worten: Die Sprache (auch die mathematische Sprache) bleibt ein offenes, autopoietisches System, das, sobald es kontrollierbar wird, nicht mehr interessant, sobald es aber interessant wird, nicht mehr formal kontrollierbar ist.

Das Überraschende an dem Roman „Die Anomalie“ ist nun, dass es ein sehr kontrolliertes Experiment ist, von einer zentralen Idee als Spielregel und Architektur beherrscht, aber im Gegensatz zu vielen Werken der Gruppe Oulipo eine eigene, teilweise überraschende Eigendynamik entwickelt. Die zentrale Idee lautet: Duplizität, Copy&Paste in realer Verrückung. Ein Linienflug nach New York gerät in einen mächtigen Sturm. Es tobt. Luftlöcher, Verwehungen, Panik, aber nichts passiert. Alle kommen heil an. Nur: ein paar Monate später fliegt ein weiteres Flugzeug, ein identisches Flugzeug erneut aus einem Sturm, lange nachdem das erste Flugzeug gelandet ist. Alle Menschen an Bord, das Material, das Flugzeug selbst haben sich verdoppelt.

Irgendjemand hat also irgendwo in der Galaxis eine Münze geworfen, und diese ist wahrhaftig in der Luft hängen geblieben.

Hervé Le Tellier aus: „Die Anomalie“

Im Gegensatz zu vielen Dystopien steht das Rationale im Vordergrund. Wie geht der Staat, die Presse, die Menschen selbst damit um, dass Menschen dupliziert worden sind. Ein Autor liest ein eigenes Buch von sich, ein Buch, das er nie geschrieben hat. Ein Krebskranker besucht sich selbst auf dem Sterbebett, bevor der Krebs überhaupt bei ihm diagnostiziert wurde. Ein Pärchen trifft auf sich, noch verliebt, als das andere Pärchen sich bereits getrennt hat. Zwei identische Elternpaare streiten sich um das Sorgerecht eines nicht duplizierten Kindes. Das Formale an der Idee füllt sich mit Absurdität und Witz und Liebe zum Offensichtlichen, beispielsweise wenn die religiösen Oberhäupter der Welt um die Seele der Duplizierten streiten, und auch darum, wie man mit einem solchen Wunder umgehen soll, ob es göttlichen oder teuflischen oder menschlichen Ursprungs ist:

Ist das eine Spekulation?, fragt einer der Buddhisten mit schon ans Klischee grenzender fernöstlicher Sanftmut.
Die Leiterin der Psychologischen Operationen markiert eine lange Pause, sie will sich alle Zeit lassen.
– Nein, meine Frage ist nicht theoretisch. Wir haben ein Individuum festgesetzt, das sich als ununterscheidbar von einem anderen erweist, einem anderen übrigens, das es zu sein behauptet. Die Gegenüberstellung hat stattgefunden. Es ist verblüffend.
– Wie ein Zwilling?
– Nein … Sie haben beide dieselbe Persönlichkeit und dieselben Erinnerungen, sodass der eine wie der andere davon überzeugt ist, das Original zu sein. Ihre beiden Hirne sind auf dieselbe Weise kodiert, sowohl in chemischer und elektrischer Hinsicht als auch hinsichtlich der Atome. Es wird unruhig im Raum. Es fallen Wörter wie blasphemisch, widernatürlich und andere eher skatologischer denn theologischer Natur.
– Wer steckt hinter dieser Schandtat?, fasst der Baptist zusammen.
– Wir wissen es nicht, sagt Jamy Pudlowski. Wir bitten Sie nicht um eine ethische Einschätzung. Aber diese Wesen existieren.
– Ist es Google?, fragt aufgeregt ein Kardinal. Die haben …
– Nein, Eure Eminenz, es ist nicht Google.

Die Sprache ist gewohnt trocken. Nicht der Ideenreichtum von Beschreibungen, von ineinander schmelzenden Wortverbindungen, von poetischen Irrungen und Wirrungen steht im Vordergrund, sondern die Ausarbeitung und inhaltliche Verarbeitung dieser Copy&Paste-Idee. Ein Flugzeug wurde kopiert und ein paar Monate wieder in den Himmel hineingefügt, so dass es um Monate verspätet landen kann. Das, was wenigen Romanen der Oulipos gelingt, vermag „Die Anomalie“ auf der ganzen Linie. Sie sprüht von inhaltlich logischer Verflechtung, episodenfilmhafte Überschneidungen und Perspektivwechsel, Dramatik, Spannung sogar, Selbsterkenntnis der handelnden Figuren und zweite Chancen füllen die Seiten und interessieren, je weiter die Storyline voranschreitet, immer mehr. Eine eigenartige Entkrampfung stellt sich ein. Die völlige Beliebigkeit wird nicht langweilig. Sie wird spielerisch.

Der amerikanische Präsident verharrt reglos, wie betäubt. Der Mathematiker betrachtet diesen primären Menschen, und er fühlt sich in seiner niederschmetternden Vorstellung bestärkt, dass die Addition individueller Verfinsterung selten zu kollektiver Erleuchtung führt.

Science-Fiction-Literatur vermag Horizonte zu erweitern, Vorstellungswelten zu kreieren, ja, Möglichkeiten in die Welt zu setzen, die man vorher nicht in Erwägung zu ziehen gewagt oder gar zu denken vermocht hat. Auf diese Weise werden neuronale Bahnen vernetzt, provoziert und in Bewegung gebracht, und Literatur als Permutation und Kunst des Hypothetischen verwirklicht, als Durchmischung, als Stiftung von konstruktiver Verwirrung. Hierzu bedarf es jedoch in sich strukturierter Gedankenexperimente, um der Beliebigkeit von einem deus ex machina zu entkommen, die alles Grau in Grau erscheinen lassen würde.

Herkömmlicherweise entkommt die Sprache dem Beliebigen durch Trauer, Intensität, durch Angst, dem Rühren am primären Pathos, dem Schmerz. Franz Kafka mochte das Phantastische früherer Experimente der Prager Golem-Geschichten. Ihm waren diese Gleichnisse und sprachlichen Erzeugnisse von Romantikern und Kabbalisten und depressiven Heranwachsenden wie Robert Walser eine Wohltat.

Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

Franz Kafka aus: Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904

Science-Fiction wie Stanislaw Lem und seine Sterntagebücher oder Isaac Asimov und seine Robotermoral, oder Romane wie „Die Anomalie“ von Herve Le Tellier vollbringen dieses Kunststück, diese mentale, emotionale Befreiung durchs Lesen, durch Verrückung des Rational-Normalen, durch ein spielerisches Element, das sich nicht aufgibt, aber auch nicht in den Vordergrund drängt.

Das ist nicht der Anfang, das ist das Ende, sagt Silveria. Die Gegenüberstellungen zwischen den Passagieren vom März und denen vom Juni gehen so bald wie möglich los. Und morgen, am Sonntagabend, oder Montagmorgen überstellt die Armee das ganze hübsche Völkchen an das FBI. Haben Sie ein Problem damit, Jamy?
– Keines, Herr General. Ich kenne kein Problem, das der Abwesenheit einer Lösung standhielte.

Je genauer man „Die Anomalie“ liest, desto mehr verliert man den Boden unter den Füßen, und dieses Gefühl erzeugt eine ungewohnte Leichtigkeit des Denkens und Reflektierens, denn was gibt es eigentlich zu sagen, was noch nicht gesagt wurde, und was könnte geschrieben werden, was noch nicht geschrieben worden ist, und vielleicht spielt das alles keine so große Rolle. Hervé Le Tellier zeigt mit „Die Anomalie“, dass große Frage keine großen, vielleicht sogar gar keine Antworten bedürfen, vielleicht reicht es manchmal einfach eine gute Zeit zu haben und niemandem auf den Pelz zu rücken.

4 Antworten auf „Hervé Le Tellier: „Die Anomalie““

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