Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

Lichtspiel
Ein Phantomschmerzspiel … Spiegel Belletristik-Bestseller (November 2023)

Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:

Mama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.

Daniel Kehlmann aus: “Lichtspiel”
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Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“

Das Cafe ohne Namen
Großstadtleben angenehm … Spiegel Belletristik-Bestseller (22/2023)

Unter Erbauungsliteratur galten lange kleine Kompendien hauptsächlich religiöser Natur. Vertreter dieses Genres verpflichteten sich, Mut spendende, Hoffnung einflößende Gefühle in ihrem Publikum zu erwecken. Auch Friedrich Gottlieb Klopstock mit Der Messias und John Milton Verlorenes Paradies rechnen zu dieser Literatur. Mit zunehmender Säkularisierung und Industrialisierung des Buchdruckwesen entstand aus diesem Genre das, was heutzutage Unterhaltungsliteratur heißt, und längst schon nicht mehr auf erbauliche Themen beschränkt ist. Dennoch, ein Teil der Unterhaltungsliteratur behält sich vor, nur Gutes zu berichten, nur vom Freundlichen zu handeln. Jan Weilers Roman Der Markisenmann oder Susanne Abels Stay away from Gretchen und Was ich nie gesagt habe, aber auch Dörte Hansens Zur See lassen sich als Beispiele anführen. Robert Seethalers Das Café ohne Namen gesellt sich dazu:  

Sehr geehrte Herren, Es geht um mein Café am Karmelitermarkt. Ich sage, es ist ein Café, obwohl niemand außer mir es so nennt. Und ich sage, es ist meines, obwohl es mir auf dem Papier nie gehört hat. Vor zehn Jahren war es ein staubiges Loch, jetzt sitzen dort jeden Abend außer Dienstag Menschen, um wenigstens für ein paar Stunden den ganzen Schlamassel um sie herum zu vergessen. Es ist warm, die Fenster sind im Winter dicht und es gibt etwas zu trinken, und vor allem kann man reden, wenn man es nötig hat, und schweigen, wenn einem danach ist.

Robert Seethaler aus: “Das Café ohne Namen”
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David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“ (iii: Resümee)

Unendlicher Spaß
Redlich schreibend bemüht, aber …

Die vorangegangenen Teile besprachen i:Inhalt und ii:Form von David Foster Wallaces Unendlicher Spaß. Es zeigte sich, dass sein Roman keinen geschlossenen Erzählrahmen besitzt, dieser statt dessen ausufert, ausfranst, sich mathematisch wie ein narratives Fraktal verhält. Diese Form legt ein konzentriertes, aufs äußerste fokussiertes Lesen nahe, das nach Foster Wallace gegen den Zeitgeist des Einlullens und Berieselns agiert und wieder lebensnahe, wirklichkeitsgesättigte Wahrnehmen einübt. Er lässt hierzu in Unendlicher Spaß einen von seiner Rauschgiftsucht genesenden Biker einen Witz erzählen:

Kommt ein weiser alter rauschebärtiger Fisch bei drei Jungfischen vorbeigeschwommen und fragt »Moin, Jungs, wie ist das Wasser?« und schwimmt weiter; die drei Jungfische glotzen ihm nach, sehen sich an und fragen: »Was zum Teufel ist Wasser?«, und schwimmen weiter.

David Foster Wallace aus: “Unendlicher Spaß”
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David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“ (ii: Form)

Unendlicher Spaß
Die neue Ernsthaftigkeit … formalästhetische Aspekte von “Unendlicher Spaß”

Im vorherigen Beitrag (i:Inhalt) lag der Fokus meiner Besprechung von David Foster Wallaces Hauptwerk Unendlicher Spaß auf den mannigfaltigen Plotaspekten. Wegen seines Titels wird Foster Wallaces Roman oft mit William Shakespeares Hamlet in Verbindung gebracht, was nach eingehender Lektüre nur oberflächlich zutrifft. Auch von einer Dramaturgie à la Hamlet ist Unendlicher Spaß weit entfernt. An entscheidender Stelle wird der Handlung von Hamlet sogar der Boden unter den Füßen weggerissen, als Hal, der Protagonist aus Unendlicher Spaß, bezweifelt, dass Hamlets Vater Hamlet erschienen sei und dieser über Claudius die Wahrheit gesagt habe. Mit anderen Worten, die literarische Verlässlichkeit der Fiktion wird hinterfragt. Konsequenterweise wird bei Foster Wallace alles von einem misanthropischen Strudel des Skeptizismus erfasst:

Hal, der leer, aber nicht blöd ist, postuliert insgeheim, dass das, was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls ausgibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist, denn ein echter Mensch (zumindest so, wie er ihn begreift) ist wahrscheinlich unvermeidlich sentimental, naiv, schmalzanfällig und ganz allgemein erbärmlich, er ist in seinem innersten Inneren lebenslänglich infantil, ein irgendwie nicht ganz richtig aussehendes Kleinkind, das sich anaklitisch [sich nach der Mutterbrust sehnend] über die Karte schleppt, mit großen feuchten Augen, froschweicher Haut, riesigem Schädel und schmalzigem Dummschwätz.

David Foster Wallace aus: “Unendlicher Spaß”

Von einem Plot bleibt aufgrund eines völlig inkohärenten Menschenbildes nicht viel übrig. Es zeigt sich, dass gerade dieser Aspekt den Weg und Blick auf einen anderen Reichtum von David Foster Wallaces Roman freigibt.

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David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“ (i: Inhalt)

Unendlicher Spaß
Gewollt prätentiös, aber formwiderständig … laut TIME Top 100 der englischsprachigen Romane.

1996 erschien David Foster Wallaces Unendlicher Spaß. Ganze dreizehn Jahre später legte Ulrich Blumenbach seine Übertragung ins Deutsche vor, die über 1500 Seiten umfasst, und gewann 2010 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie: Übersetzung. Im selben Jahr nahm das Magazin Time Unendlicher Spaß in die Liste der 100 besten englischsprachigen Romane aller Zeiten auf. In der deutschsprachigen Kritik, bspw. von Richard Kämmerlings, wird David Foster Wallaces Roman auf einer Stufe mit Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften gestellt. Die US-Schriftsteller Jonathan Franzen und Dave Eggers, beide National Book Award Gewinner, halten es „für das größte Buch unserer Gegenwart“, oder, um Franzen aus seiner Trauerrede anlässlich David Foster Wallaces Freitod direkt zu zitieren:

[Er besaß] die erregendste, die erfindungsreichste rhetorische Virtuosität aller lebenden Schriftsteller. Weit draußen bei Wort Nummer 70, 100 oder 140 in einem Satz in den Tiefen eines drei Seiten langen Absatzes voll makabrem Humor oder irrwitzig netzartiger Bewusstheit roch man noch das Ozon der knisternden Präzision seiner Satzstruktur.

Jonathan Franzen (Trauerfeier)

Weitere Superlative lassen sich leicht finden. Auch Gegenstimmen, wie die von Harold Bloom, für den verglichen mit David Foster Wallace Stephen King ein Cervantes scheint und der bekanntlich in einem Interview über Unendlicher Spaß sagte:

Wissen Sie, ich möchte nicht unhöflich sein. Aber ‚Unendlicher Spaß‘ ist einfach schrecklich. Es scheint verrückt, dies [Offensichtliche] überhaupt sagen zu müssen. Er kann nicht denken, er kann nicht schreiben. Er hat kein erkennbares Talent.

Harold Bloom (Interview)

Im folgenden nun das Ergebnis meiner Lektüre, das in drei separaten Teilen (i: Inhalt; ii: Form; iii: kommunikatives Resümee) gepostet werden wird und vielleicht dabei hilft, sich selbst ein Urteil zu bilden oder das eigene Leseerlebnis neu zu organisieren. Zuerst zum Inhalt.

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T.C. Boyle: „Blue Skies“

Blue Skies
Lakonisch in den Weltuntergang … Spiegel Belletristik-Bestseller (23/2023)

Der SWR beschreibt mit Bernhard Falcke den neuen Roman von T.C. Boyle Blue Skies als Ökothriller. Der NDR empfindet mit Severine Naeve das Buch eher als unfassbar komisch, wohingegen in der FAZ Andreas Platthaus Boyles Text eher als Familiendrama einer Mutter-Tochter-Beziehung auffasst. Dieses Trias subsumiert das Genre, für das T.C. Boyle bekannt geworden ist, ein selbstkritisches, sentimentales, humoristisch angehauchtes Weltverständnis. In Blue Skies läuft alles auf eine weltweite Katastrophe hinaus:

Die Straße pulsierte. Ein zähflüssiger brauner Matsch floss und kroch dahin, es sah aus wie eine Schlammlawine, nur dass es hier nirgends einen Berg oder auch nur einen Hügel gab, an dem eine solche Lawine hätte herunterfließen können — was also war das hier? Der Wagen kroch im Schritttempo voran, und es fühlte sich an, als wäre sie auf einem Transportband aus lebendigem Fleisch — oder nein, aus Fisch. Jetzt sah [Ottilie] die Augen, tausende Augenpaare, die im Scheinwerferlicht aufleuchteten. Es waren Welse, jawohl, südostasiatische Froschwelse.

T.C. Boyle aus: “Blue Skies”
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Kalenderwoche 19: Lesebericht.

Frühmorgens, wenn man in Berlin selbst die Vögel hört, lässt sich der Tag gut an. Wenig Regen in Berlin, dezente Straßengeräusche, viel weniger Sirenen. Neben der alltäglichen Arbeit glücklicherweise Zeit gefunden, Gotthard Günthers Geschichts-Rundumwasch zu lesen, dies mit Gustave Flauberts Briefen und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand zu garnieren, und mir zum Nachtisch die transzendentale Analytik Kants zu Gemüte zu führen. Insbesondere das Amphibolie-Kapitel hat sehr viel Zeit gefressen, da ich es gleich vier Mal lesen musste, um das gespannte Verhältnis zu Leibniz zu beruhigen. Nun aber die drei Kategorien: Gekauft, an- und weitergelesen, ausgelesen.

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Kristine Bilkau: „Nebenan“

Auf der Suche nach Verbindlichkeit … Spiegel Belletristik-Bestseller (15/2022)

Der Roman „Nebenan“ spielt am Nord-Ostsee-Kanal in der Nähe von Hamburg. Er ist ganz in Blau gehalten. Blau bestimmt seine Stimmung, die Atmosphäre, das Licht und das Cover. Es hüllt die Figuren, die Handlungen, die Geheimnisse am Ufer des Kanals ein und hält die Zeit in der Schwebe. Sie vergeht langsam, bleibt hier und da beinahe stehen, nur um dann aber abrupt und spürbar zu springen, vom Winter in den Frühling, vom Frühling über Ostern in den Sommer.

Sie weiß nicht, was in ihm vorgeht, aber sie sind hier, schwerelos unter Wasser, es ist seltsam und schön. Sie wünschte, es könnte länger dauern. Sie weiß, dieser Moment lässt sich nicht wiederholen, es ist nicht möglich, dieses Erstaunen, über sie beide, über sich selbst, über den Lauf der Dinge, über das Gute, das sich darin verbirgt, noch einmal genau so zu empfinden.

Kristine Bilkau aus: “Nebenan”
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Fatma Aydemir: “Dschinns”

Von den Trümmern einer offenen Zukunft … Spiegel Belletristik-Bestseller (17/2022)

Generationenkonflikte entstehen durch verschiedene Erfahrungsräume. Die jeweils sehr unterschiedlichen Erlebnisstrukturen spannen andere Bedeutungs- und Erwartungshorizonte auf. Dieselben Wörter und Gesten verweisen plötzlich, ohne dass die Beteiligten dies verstehen, auf Verschiedenes. Was früher „Arbeit“ gewesen ist, ist heute vielleicht keine mehr. Was früher „normal“ war, ist plötzlich fremd. Wie trotzdem Generationen zusammenleben und sich zusammenraufen, beschreiben Familienromane. Fatma AydemirDschinns erzählt von einer türkischen Familie, die aus Emine, der Mutter, Hüseyin, dem Vater und den vier Kindern Ümit, Peri, Sevda und Hakan besteht.

Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?

Fatma Aydemir aus: „Dschinns“
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Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“

Ein Roman, der keiner sein will … Spiegel Bestseller 14/2022

Der neue Roman von Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 2006, bewegt sich in einem vieldiskutierten und mehrdimensionalen Spannungsfeld: Er thematisiert wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum das Zusammenleben von Griechen und Türken auf den Inseln der Ägäis. Er geht den Tiefen und Untiefen einer Pandemie nach und gleicht in vielerlei Hinsicht Steffen Kopetzkys Monschau. Er untersucht außerdem die Liebe und die Probleme, die sich in der Fremde ergeben, wie Leïla Slimani in Das Land der Anderen. All dies und mehr, nämlich auch Reflexionen über Geschichtsschreibung als solche, verhandelt Die Nächte der Pest mit dem Nacherzählen der Ereignisse auf Minger im Jahre 1901, einer fiktiven Insel im Mittelmeer, die Pakize Sultan, Nichte des damals amtierenden Sultans des Osmanischen Reiches Abdülhamid II., und ihr Ehemann und Quarantänearzt Doktor Nuri besuchen:

Noch vor der Gründung von Arkaz sei vor der Bucht ein Schiff auf einen Felsen aufgelaufen, und die Menschen, die sich ans Ufer gerettet hätten, seien die Vorfahren der heutigen Mingerer gewesen. Die Insel habe ihnen sehr gefallen, mit ihren Felsen, Quellen, Wäldern und dem Meer, und sie hätten sie sich als neue Heimat auserkoren. Damals habe es in den Flüssen noch grüne Äschen und rot gepunktete Krebse gegeben, in den Wäldern seien farbene Störche und blaue Schwalben geflogen, die im Sommer nach Europa zogen.

Orhan Pamuk aus: „Die Nächte der Pest“
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