Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“

Der Fuchs war damals schon der Jäger
Der Fuchs war damals schon der Jäger … Literatur-Nobelpreis von 2009

1992 erschien mit Der Fuchs war damals schon der Jäger der erste Roman von Herta Müller, der ebenso die erste Publikation nach ihrer Übersiedlung aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland 1987 gewesen ist. In ihrem Romandebüt behandelt Müller das Endstadium einer Diktatur, die ein Land in die Stagnation und das allumfassende gegenseitige Misstrauen gezogen hat. Verhandelt Christoph Hein in Der Tangospieler die letzten Tage der DDR auf erotomanische Weise auf der Insel Rügen und Jenny Erpenbecks Kairos die Wende durch die Augen der Protagonistin Katharina, die zeitgleich das Ende ihrer sadomasochistischen Beziehung zu einem Inoffiziellen Mitarbeiter in Berlin erlebt, so rekonstruiert Herta Müller in Der Fuchs war damals schon der Jäger die letzten Tage der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien in Timișoara:

Aus dem Laden, in dem der Mann verschwunden ist, fällt warme Luft auf die Straße. Die Busse blasen hinter sich große Staubräder auf. Die Sonne hängt an jedem Bus, sie fährt mit. An den Ecken flattert sie wie ein offenes Hemd. Der Morgen riecht nach Benzin, und Staub, und durchgetretenen Schuhen. Und wenn jemand mit einem Brot in der Hand vorbeigeht, riecht der Gehsteig nach Hunger.

Herta Müller aus: „Der Fuchs war schon damals der Jäger“

Inhalt/Plot:

Hauptfiguren des episodenhaften Romans heißen Adina und Clara. Adina arbeitet als Lehrerin, Clara als Ingenieurin in einer Drahtfabrik. Die Rahmenhandlung umfasst die zunehmende Entfremdung der beiden Freundinnen voneinander, bis zum vorläufigen Bruch. Grund des Zerwürfnisses stellt das Verhältnis Claras zu Pavel dar, der sich als Anwalt vorstellt, aber als Securitate-Mann entpuppt und sich darüberhinaus noch verantwortlich für die Bespitzelung einer Dissidentengruppe erweist, zu der Adina, Albert und Adinas Ex-Freund Paul gehören. Das Vergehen der Dissidentengruppe besteht wie in Christoph Heins Der Tangospieler, der eine ähnliche Stimmung transportiert, darin, satirische Texte zu singen mit deutbarem Bezug auf Ceaușescu und politisch-ausdeutbare Witze zu verbreiten, die das Regime in einem lächerlichen Licht dastehen lassen:

Niemand ist damit gemeint, sagt Abi, es ist doch ein Lied. Und die Schnittwunde sagt, warum singt ihr das, wenn niemand gemeint ist. Weil es ein Lied ist, sagt Abi.
Der Präsident des Landes ist gemeint, sagt das Muttermal. Nein, sagt Abi.
Die Wände sind voller Steckdosen. Die haben ein Maul. Am Lampenfuß sind gelbe Zahlen, eine Inventurnummer. Du bist also nicht informiert, sagt das Muttermal, dein Freund Paul hat gestanden, und der wird es doch wissen. Der hat das Lied doch geschrieben, sagt die Schnittwunde.

Albert, genannt Abi, gehört zur Dissidentengruppe, die Singabende veranstaltet, und wird mit Adina und Paul, der als Arzt in einem Krankenaus wirkt, zusammen beschattet. Die Bespitzelung bricht in die Privatsphäre ein und schreckt auch nicht vor Einbrüchen zurück. Während Adina zur Arbeit geht, dringt der Geheimdienst in ihre Wohnung ein, verunreinigt ihre Toilette, hinterlässt Spucke, Urin und Zigarettenstummel und verstümmelt noch den Bettvorleger, einen Fuchspelz, den sich Adina als Kind gewünscht hat. Nach und nach schneiden sie Teile von dem Fuchspelz ab, die Beine, den Schwanz, den Kopf, aber legen das abgeschnittene Teil stets wieder an den Pelz:

Er nimmt aus der Innentasche seiner Jacke eine Rasierklinge. Er packt sie aus, legt das Papier neben sein Knie. Er schneidet dem Fuchs den rechten hinteren Fuß ab. Er feuchtet den Zeigefinger mit der Zungenspitze an und wischt das abgeschnittene Haar vom Fußboden auf. Er reibt das Haar zwischen Zeigefinger und Daumen zu einer festen Kugel, er läßt die Haarkugel in die Jackentasche fallen. Er packt die Rasierklinge ins Papier und steckt sie in die Innentasche. Er legt den abgeschnittenen Fuß an den Fuchsbauch dran.

Nachdem Paul und Abi von Pavel verhört werden und durch das Verhör seinen Namen mitgeteilt bekommen, wird Adina schlagartig bewusst, dass es sich bei dem Pavel um den neuen Freund von Clara handelt, denn nur jemand wie er, jemand von der Securitate, besitzt ausreichend Kontakte, um eine so schnelle und von allen Seiten unhinterfragte Abtreibung durchführen zu lassen, wie sie Clara über sich ergehen lassen musste. Pavel, als Drahtzieher und Ehebrecher entlarvt, wird zum Zankapfel:

Dich kenne ich nicht, sagt Adina, der eingedellte grüne Ball läßt einen zweiten Winter über sich ergehen, die ich kenne, das bist nicht du, sagt sie, ich dachte, daß ich dich kenne. Claras Zehen sind eingezogen. Blaugewürfelt am Knie zieht sich die Kälte der Fliesen hinauf in den Bauch, du schläfst mit einem Verbrecher, schreit Adina, du bist wie er, du trägst ihn im Gesicht, hast du gehört, du bist so wie er. Clara wärmt einen kalten Fuß an dem andern, ich will dich nicht mehr sehen, schreit Adina, nie wieder. Ihre Hände schlagen um sich, ihre Augen sind aufgerissen, ihr Blick ist der Jäger, springt aus den Augen und trifft.

Trotz des Streits warnt Clara Adina noch, dass eine Verhaftung bevorsteht. Adina fährt zu Paul, Abi will nicht mit. Sie fahren zu einem Freund aufs Land und verstecken sich dort, während nach und nach Unruhen des Land ergreifen. Abgeschieden und in Sicherheit erreichen sie Nachrichten von den Aufständen, die von Timișoara ihren Ausgang nehmen, wo die Armee und die Securitate bei Protesten sogar auf Kinder schießen. Kurz danach wird Ceaușescu gestürzt und nach einem Schauprozess zusammen mit seiner Frau Elena am 25. Dezember 1989 erschossen:

Der Schlaf schüttet den Kopf zu, bevor das Bett warm ist. Denn Adina und Paul nehmen in den Schlaf das gleiche zerlöcherte Bild mit, das den Schädel aufreißt, das größer ist als der Kopf. Ich habe euch geliebt wie meine Kinder, sagte die Frau des Diktators ins Zimmer. Er nickte, er sah die Nagelschere neben Adinas Hand auf dem Tisch und zog seine schwarze Pelzmütze in die Stirn. Er trug sie, die gleiche seit einigen Tagen. Dann schlugen Kugeln durch den Bildschirm, fielen an die Wand einer Kaserne, in den dreckigsten nackten Winkel im Hof.
Die Wand stand zerschossen und leer.

Pavel flieht vor den Aufständischen nach Wien mit dem Pass von Abi, der von der Securitate umgebracht wurde, und bittet Clara nachzukommen. Mit dem Ende des Regimes muss Ilje, der Freund von Adina, nicht mehr bei der Armee bleiben und reist zurück nach Timișoara, ohne von Adinas Seitensprung mit Paul zu wissen.

Stil/Sprache/Form:

Der Fuchs war damals schon der Jäger zeichnet sich durch einen sehr schwierigen Stil aus. Die bereits angeführten Zitate zeigen, dass Müller vor allen in Synekdochen und Metonymien die Szenerien beschreibt. Synekdochen nehmen einen Teil und verwenden ihn fürs Ganze (pars pro toto):

Die Gummiknüppel suchen sich im Zufall Rücken, Köpfe, Beine aus. An ledernen Riemen hängen Revolver und Maschinenpistolen. Adina lehnt an der Wand. Die Stuhlreihen sind leer. Die Polizisten haben sich satt geprügelt, die Hunde haben sich satt gebellt. Nur die Schuhe der Polizisten sind laut. Sie gehen zum Ausgang. Anna sitzt zwischen leeren Stühlen in der ersten Reihe. Und die Hunde laufen den Schuhen nach, haben lange, verlorene Beine.

Der „Gummiknüppel“ steht eindeutig für die Polizisten, die den Gesangsabend sprengen. „Rücken, Köpfe, Beine“ stehen als Teil fürs Ganze, nämlich das Publikum, das aus dem Saal vertrieben wird. Die Gummiknüppel gleiten als Trope schon in die Metonymie über, da diese nicht in einem physischen, mehr optionalen Zusammenhang mit den Körpern der Polizisten stehen. Diese übergeordnete Form, ein Wort nur im erweiterten Sinnzusammenhang zu verwenden, die Metonymie, verwendet Müller in Der Fuchs war damals schon der Jäger beinahe in jedem Satz:

Ein Mann geht neben einem Pferd am Straßenrand. Er pfeift ein Lied. Das Lied ist langsamer als seine Schritte, die Pferdehufe verwirren den Takt nicht. Der Mann sieht beim Gehen auf den Boden. Der Staub ist jeden Morgen älter als der Tag.
Adina spürt das Lied in den Fußsohlen, in ihrer Stirn singt der Mund des Mannes den Text: ‚Immer immer drückt mich der Gedanke/Mein Haus und mein Feld zu verkaufen.‘

Hier steht „Stirn“ für Adinas Gedanken, ihre sinnliche Gewissheit, aber es steht auch für die körperliche Wahrnehmung des Klanges, die Immersion mit der Umgebung, das Verschmelzen und Einfühlen mit der Trauer, der Armut des an ihr vorüberziehenden alten Bauern. Die Schreibweise, die aus sehr kurzen Hauptsätzen, parataktisch geformt, besteht, erzeugt etwas Verstörendes. Die Wahrnehmung wird zerhackt, zweidimensional, unzusammenhängend wiedergegeben:  

Clara lacht, die Sonne blinkt weiß an ihrem Zahn, der Pförtner winkt sie durch. Die Zahnlücke der Pförtnerin lacht. Der Mann mit der Wunde am Daumen nimmt die Mütze aus der Tasche. Er setzt sich die Mütze auf die Faust. Er streckt den Zeigefinger aus und dreht die dunkle Mütze wie ein Rad. Die Pförtnerin lacht, ihre Zahnlücke ist ein Trichter, ihr Lachen überschlägt sich. Der Mann mit der Wunde am Daumen schaut in die Drehkreise der Mütze hinein, er singt: ‚Mit der Miete schon im Rückstand/ Unbezahlt seit einem Monat.‘

Müllers Roman lässt sich am besten als eine Form des Trickfilms lesen. Schnelle Schnitte, hier ein Zoom, hier eine Überblendung, flach, nebeneinander, ohne räumliche Tiefenschärfe. Es gibt nur einen Vordergrund, in welchem ein ungeordnetes, durcheinandergehendes Nebeneinander herrscht, plattgedrückt, niedergehalten, um seine Mehrdimensionalität beraubt. Der Stil selbst veranschaulicht also die Unterdrückung der Menschen, der Realität, die Zerstörung des Sinnzusammenhangs, da sich zwischen die Dinge die Welt der Securitate, der Machtapparat Ceaușescus schiebt. Manchmal lassen sich die literarischen Bilder schlichtweg nicht mehr verstehen:

Das Laub steht senkrecht an den Pappeln wie die Äste, man sieht das Holz nicht. Und wo nichts mehr hinreicht, zerschneiden die Pappeln die heiße Luft. Die Pappeln sind grüne Messer.
Wenn Adina die Pappeln zu lange ansieht, drehen sie die Messer von einer Seite zur anderen im Hals. Dann wird ihr Hals schwindlig. Und ihre Stirn spürt, daß kein Nachmittag auch nur eine Pappel so lange halten kann, wie das Licht sich Zeit läßt, um hinter der Fabrik im Abend zu verschwinden. Der Abend müßte sich beeilen, die Nacht könnte die Pappeln halten, weil man sie nicht sieht.

Die im Stil vermittelte Verstörung nimmt über die Textlänge zu. Das akausale Erzählen verwendet Satzanschlusskonstruktionen nur noch pro forma. Das „weil“ kündigt einen Grund an, der nicht angegeben wird. Was sich aber einstellt, im atemlosen Lesen, ist das Bedrohungsszenario eines bedeutungslosen Geschehens, das in die Schwärze der Nacht verschwindet und nichts als Stille und Schweigen hinterlässt.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Herta Müllers Der Fuchs war damals schon Jäger treibt den modernen Roman auf die Spitze der semantischen Unverständlichkeit, nur aber, um ihn desto eindrücklicher in der Wirkung zu entfalten. Ihr Roman benötigt nur wenige Seiten, fast nur eine Handvoll Worte, um den bedrückenden, klaustrophobischen Stillstandmodus von Adinas Leben vor Augen zu führen. Die Welt liegt in Scherben. In den Scherben spiegeln sich Fragmente wieder, zwischen denen nur noch entfernt ein Zusammenhang besteht. Die sich herausnehmende, sich nicht zur Verfügung stellende auktoriale Erzählinstanz lässt sich nicht dazu herab, die Dinge zu vereinfachen. Sie bleiben in ihrer Komplexität schlichtweg bestehen.

[…] was weißt du von Menschen, sagte Adina, was siehst du, wenn du sie aufschneidest, weil sie krank oder tot sind. Nichts. Ist ein Diktator ärztlich erklärbar, ist er im Hirn, im Magen, in der Leber oder in der Lunge. Paul hielt sich die Ohren zu mit seinen glänzenden Fingernägeln, der Diktator schlummert im Herzen wie in deinen Romanen, schrie er.

Herta Müller zeigt schon in ihrer Titelwahl an, dass sie keine Sinnordnung, keine klare Zuordnung gelten lässt. Der Fuchs war schon damals der Jäger nimmt dem Jäger, der als Jäger bezeichnet wird, seinen referenziellen Sinnzusammenhang, da der Fuchs, als das Gejagte, jagt. In diesem Sinne weigert sich die Erzählweise Sinn, und sei’s ein negativer in den Gewaltzusammenhang eines tyrannischen Staates hineinzulesen und unterscheidet sich hierdurch von dem thematisch gleichen, bis in die Details denselben Stoff behandelnden Roman Lichtungen von Iris Wolff narrativ und semantisch diametral. Die Unterdrückung färbt sich in alle Beziehung hinein: Pavel betrügt seine Ehefrau mit Clara; Paul seine Freundin Anna mit Adina; Adina ihren Freund Ilje mit Paul, und Pavel ist die slowenische Version von dem Namen Paul. Der Kreis schließt sich. Adina, die einen Fuchspelz wollte, wird so als Jägerin zur Gejagten, und der erbeutete Fuchspelz zum Symbol ihrer drohenden Ermordung durch den Geheimdienst:

Adina zieht die Hände vom Tisch. Der Tisch ist warm, wo die Hände lagen. Und auf dem Boden unten, wo der Fuchs der Jäger ist, legen die Finger abgeschnittene Füße ans Fell. Und danach, wenn die Hände oben den Tisch gewärmt haben, greifen sie an die Stirn. Die Hände spüren, daß die Stirn genauso warm ist, daß sie jedoch im Unterschied zum Tisch nichts mehr vom Wohnen weiß.

Das Motiv durchzieht den ganzen Text. Wie Kausalitäten nicht existieren, lassen sich auch keine Zuschreibungen und Verantwortlichkeiten mehr erkennen außer eben die des Diktators selbst, der über allem thront und mittels seiner Drohgebärde der Welt den Atem nimmt, hierfür aber auf die vielen hilfsbereiten Handlanger angewiesen bleibt. Müller kennt in Der Fuchs war damals schon der Jäger kein Erbarmen mit seinem Publikum. Wie bei Elfriede Jelinek in bspw. Die Kinder der Toten oder Ingeborg Bachmanns Malina tröstet die Kunst nicht mehr. Sie führt nur das Grauen noch ungeminderter vor Augen, im Sinne von Simone Weil, die in ihrem Aufsatz Ilias oder das Poem der Gewalt schreibt und in diesem Zusammenhang Homer zitiert:

Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. Wird sie bis zur letzten Konsequenz ausgeübt, macht sie den Menschen zum Ding im wortwörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam. Da war jemand, und mit einem Mal ist da niemand. Dieses Bild führt uns die Ilias unablässig vor Augen:

[…] Pferde
Rasselten mit leeren Wagen dahin auf den Brücken des Krieges,
Der Zügelhalter entbehrend, der untadligen: die aber lagen
Auf der Erde, den Geiern weit lieber als ihren Frauen.

Simone Weil aus: „Krieg und Gewalt – Essays und Aufzeichnungen“

Im „wortwörtlichsten Sinne“ lädt Herta Müller ein, auch die Sprache selbst mit in den Gewaltzusammenhang hineinzuziehen, dort jedoch, sich den nackten Tatsachen stellend, dem Schmerz, der Verbitterung, dort rettet sie etwas von der Utopie der Sprache als Lösung hinüber, die Dinge benennen, um sie von dort wieder in Ordnung zu bringen, nur dieses Mal in eine beständige, keine falsche, in eine versöhnte und endlich gleichberechtigt-reziproke Weise. In genau diesem Sinne, als bestimmte Negation, mag Herta Müllers Der Fuchs war schon damals der Jäger als offensiv-aggressive Variante von Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand gelten.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen. Der Fuchs war schon damals der Jäger habe ich der Besprechung von Lichtungen von Iris Wolff an die Seite gestellt.

Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

7 Antworten auf „Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger““

  1. Danke wie immer für deine tief eindringende Besprechung. Du stellst „pars pro toto“ als durchgehendes Stilmittel heraus. Ich finde das sehr erhellend. Pars pro toto ist kennzeichnend für eine durch und durch materialistische Welt, in der Taten und Leiden nicht mehr wirklichen, verantwortlichen Menschen zurechenbar sind. Der Gummiknüppel tuts, das Bein, den Kopf triffts. Der Diktator ist nicht auffindbar, selbst wenn man seinen Körper zerschneidet. Wo sitzt er? Wo sitzt die Seele, der Geist? Sie sind im System des entarteten Kommunismus, einer Form des radikalen Materialismus abhanden gekommen. Und so ist „keine Sinnordnung“ möglich außer der des „Diktators“. „Ich habe euch geliebt wie meine Kinder“ ist der letzte jammervolle Aufschrei seiner Frau, bevor ihr Schädel zum Loch wird. In unseren Ohren klingt er zynisch und ist doch nur ein Relikt aus Zeiten, als solch ein Satz noch Sinn ergab – als „Liebe“ und „meine Kinder“ noch nicht sinnentleerte Begriffe waren.

    Solche entmenschlichenden Pars-pro-toto-Wendungen sind übrigens auch in der Krankenhauspraxis gang und gäbe. Dort liegt eine Niere, hier ein Beckenbruch. Der Mandelabzess geht zur OP. Auch hier ist der Zusammenhang von Organ und dem lebendigen geistigen Wesen, zu dem es gehört, aufgelöst bzw er gilt als nicht vorhanden.

    1. Liebe Gerda, danke für deinen Kommentar – der Tag war lang, deshalb erst jetzt – mich hat deine Betonung des „pars pro toto“ sehr inspiriert, darunter hätte ich die Müllersche Poetik viel besser fassen können. Schön, auch das mit dem Krankenhaus passt gut, zumal in Müllers Roman ein Chirurg die Hauptrolle spielt und seltsame Voyeurismen im Krankenhaus stattfinden, die ich gar nicht in der Besprechung berücksichtigen konnte. Es ist ja stets nur ein Teil all der Idee, die einen beim Lesen überkommen. Aber das Pars pro toto als Entmenschlichung, der Reduktionismus des Modernen, das passt sehr, auch zur Entfremdung und Vereinzelung als Tyrannis-Wirkung. Hier fragmentieren Zusammenhänge in jeder Art. Jetzt hätte ich Lust das Buch fast wieder, unter genau diesen Aspekt zu lesen 🙂 Danke! Viele Grüße!

  2. Merci! Hab das Buch zwar net gelesen…aber anderes von der Müller. Eine – wenn auch zerhaeckselte Sprachgewalt ist ihr nicht abzusprechen. Hier in D ist sie mir öfters durch sehr nationalistische Aeusserungen aufgefallen 🙂 Aber man soll ja nicht von den politischen Ansichten aufs Literarische schliessen, gell, Ezra Pound?

    1. Auch ich möchte mir die Bücher nicht nehmen lassen, obwohl sich manche zu seltsamen, oder mich gruselnden Kommentaren hinreißen lassen. Herta Müller interessiert mich nur als Wortakrobatin und Poetin – und hier habe ich sie stets mit viel Gewinn gelesen. Ezra Pound noch nicht. Ein blinder Fleck in meiner Literaturwelt :O …

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