Rezensionen 2023


George R.R. Martin: „Die Herren von Winterfell“

Unterhaltsamkeit: 4 Sterne. Pacing: 3 Sterne. Figurenensemble: 2 Sterne. Sprachvergnügen: 1 Stern. Ein holpriger Einstieg. Bis auf einige Stellen sehr fixiert auf Äußerlichkeiten.

G.R.R. Martins „Das Lied von Feuer und Eis“ springt in seiner Erzählform zwischen den Schauplätzen umher. Die Schnitte sind hart, und auch die Erzählzeit variiert stark. Weniger die Innerlichkeit der Figuren spielt eine Rolle, als deren dialogische Wechselwirkung und Kostümierung, so dass der Roman teilweise eher einem Drama oder Theaterstück oder Operatte entspricht. Die reflexive, sich weitende epische Möglichkeit des Romans wird nicht ausgespielt. Martin kommt schnell und hart zur Sache:

„Bei dieser verfluchten Hitze war die halbe Stadt wie im Fieber, und jetzt mit all diesen Besuchern … gestern Nacht gab es einen Tod durch Ertrinken, eine Massenschlägerei in einer Taverne, drei Messerstechereien, eine Vergewaltigung, zwei Brände, Räubereien ohne Ende und ein alkoholisiertes Pferderennen auf der Straße der Schwestern. In der Nacht davor wurde im Regenbogenteich der Großen Septe der Kopf einer Frau gefunden.“

Der eigentliche Plot besitzt Kriminalromancharakter. Eddard Stark fahndet nach dem Mörder der Rechten Hand des Königs, dem Ehemann der Schwester seiner Frau, Jon Arryn. Das Haus der Lennisters agiert gegen seine Versuche, Licht ins Dunkle zu bringen, während das Haus Targaryen sich bei dem Volk der Dothraki vorbereitet, den Thron zurückzuerobern. Das Haus Stark gerät zwischen alle Stühle. Rundum diesen Plot veranstaltet Martin Ritterturniere, Orgien, Bordellbesuche, Intrigen, ohne jedoch auf magische Ereignisse oder Monstren, Fabelfiguren zurückzugreifen. Es handelt sich (noch) um eine sehr realistische, obgleich sehr brutale Welt:

„Die Spitze von Ser Gregors Lanze war in seinem Hals gebrochen, und langsam pulste das Blut aus ihm hervor, schwächer und immer schwächer. Seine Rüstung war poliert und neu, und wie Feuer blitzte es an seinem ausgestreckten Arm auf, als die Sonne sich im Stahl brach. Dann verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und das Feuer war erloschen. Sein Umhang war blau, von der Farbe des Himmels an einem klaren Sommertag, besetzt mit einer Borte aus Halbmonden, doch als sein Blut einsickerte, verdunkelte sich der Stoff, und die Monde wurden rot, einer nach dem anderen.“

Die Anschaulichkeit in jeder Szene ist gegeben. Alles steht klar vor Augen, nur nicht die völlig ergebende, völlig reflexionslos hingebende Akzeptanz der Figuren, in diesem Krieg aller gegen alle mitzuwirken. Hier hetzen die Figuren von einem Ort zum nächsten, stellen nichts in Frage, suchen keine innere Ruhe und versuchen sich nicht zu befreien. Diese holzschnittartige Erzählweise nimmt den Figuren jede Luft zum Atmen. Nur selten spannt die Erzählung weit ihre Schwingen auf, wie bei der Alten Nan:

„[Alte Nan] Stimme war ganz leise geworden, fast schon ein Flüstern, und Bran merkte, wie er sich vorbeugte, um sie verstehen zu können.
»Nun waren es die Zeiten, bevor die Andalen kamen, und lange bevor die Frauen aus den Städten der Rhoyne über die Meerenge flohen, und die hundert Königreiche jener Zeit waren die Königreiche der Ersten Menschen, die den Kindern des Waldes das Land genommen hatten. Doch hier und da lebten die Kinder noch immer im Wald, verborgen in ihren hölzernen Städten und den hohlen Hügeln, und die Gesichter der Bäume hielten Wacht. Als nun Kälte und Tod die Erde erfüllten, beschloss der letzte Held, die Kinder aufzusuchen, in der Hoffnung, dass ihre uralten Zauberkünste zurückgewinnen könnten, was die Armeen der Menschen verloren hatten.“

Was nämlich fehlt: Raumzeitliche Weite für die Figuren, ihr Gedächtnis, ihre eigene Konstitution, sich gegenüber der Gegenwart selbstbewusst zu verhalten. Der Erzähler hetzt wie der Wolf die Meute seine Figuren durch die kalte, üble Wintersnacht und gewährt ihnen weder Pause noch Rast.


Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Verschworen-verschwurbelt über den Schmerz. Der letzte Gast, der Tod, verdrängt und doch erkannt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter auf kommunikativeslesen.com

Peter Handkes „Die Ballade des letzten Gastes“ heißt nicht nur Ballade, sie ist auch eine und kein Roman. Es gibt zwar eine Handlung, einen Plot, der wie immer bei Handke minimalistisch ausfällt, aber die Darstellung, die Erzählweise lässt von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht um den Plot, sondern um das, was hinter ihm lauert und steht, geht:

„Und wie ich als der letzte Gast an einem wackligen Tisch saß, und den dann noch stärker zum Wackeln brachte, und dazu die verschiedenen Fingerabdrücke auf dem Glas vor mir – je verschiedener, desto besser. Und als das Schulkind, trödelnd auf dem Heimweg, im Gehen den Schulbeutel von der einen auf die beiden Schultern wechselte.“

Handke spielt hier auf Wolfgang Borcherts „Nachts schlafen die Ratten noch an. Das lässige Schulbeutel Tragen bei Handke, das Schwenken des Korbes bei Borchert, allegorisiert die Erduldung des Schicksals mit Unverdrossenheit. Statt kleinbeizugeben, wird weitergegangen. Statt zu verstummen, wird gesungen. Der Chronist in „Die Ballade des letzten Gastes“ betrauert den Tod seines Bruders und vermag deshalb nicht darüber zu berichten, zu viel steht auf dem Spiel, zu viele Gelegenheiten blieben ungenutzt, also flieht er dem familiären Zusammenhang und schläft lieber unter freiem Himmel:

Und wieder wünschte der Einschlafende sich, es wäre schon Winter, und zwar weltweit, und seinetwegen, warum nicht, in der südlichen Hemisphäre anstelle des Orion das Kreuz des Südens. Und wieder war das ehr als bloß ein Wünschen, es war ein Sichsehnen, und das da, wie fast in der Regel, wenn es sich ins Einschlafen mischte, war ein besonderes und zugleich himmlisch, ja, himmlisch süßes, wenn der Traum darauf auch sofort wegkippte in ein Waldstück, wo am Fuß eines jeden Baums ein Soldat lag. – Tot?“

Wer Die Ballade des letzten Gastes schnell zu lesen sucht, wird verärgert. Wer sich nicht konzentriert, wird entnervt. Wer die verhakelten, manierierten Unsatzbauten nicht melodisch umsetzen möchte, wer nicht in die Übersetzerarbeit hineingleitet und hinter Allegorie und Auslassung, Ellipse und Partizipkomposita das geheime, nicht verlautbare Zentrum zu ahnen versucht, den Tod, das Sterben, den Abschied, der nicht vollzogen werden möchte, die Zeit, die vergeht, fühlt sich möglicherweise sogar hinters Licht geführt. Peter Handke nervt in Die Ballade des letzten Gastes. Er macht es seinem Publikum wirklich und absichtlich so schwer wie möglich:

Nicht zu  vergessen, trotz allem, der Schwung, der ausgegangen ist und weiterhin ausgeht, von den Blättern und Zweigen, die mich im Wald und auch anderswo gestreift und gerempelt haben. Ja, komm, Zeitalter des Verschweigens , her mit dir – und trotzdem war da einiges, was nicht verschwiegen sein wollte.

Homers „Odyssee“ in Verbindung mit Tolstois „Der Tod des Iwan Iljitsch“ in Verbindung mit Elfenbeinturmliteratur, und mit einer den Rücken zur Gegenwart gedrehten Selbstbeweihräucherung schafft es „Die Ballade des letzten Gastes“ dennoch die Trauer eines Verlustes zu transportieren, kommt so nahe ans Schweigen wie Schreiben möglicherweise nur kann, ein Rätsel der Sphinx, das nicht Mensch, das Tod heißt und einen entsprechend zerschmettert zurücklässt.

Wer mit „Die Ballade des letzten Gastes“ durch ist, kann mit Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ direkt weitermachen, dort aber ohne Schnöselalarm, den es bei der Handke-Lektüre wie immer erst einmal zu überwinden gilt.


Peter Handke: „Publikumsbeschimpfung“

Eine leere fröhliche Fahrt mit unübersehbarem Zeitstempel: Zersetzung statt Überschreitung.

„Publikumsbeschimpfung“ versteht sich als Theaterperformance. Als Text verliert das Stück seine situative Intensität. Der Sprechakt verzögert sich. Es wird nicht gehört. Es wird gelesen. Hinzukommt, nach beinahe 60 Jahren, dass der diskursive Gegner, das epische Theater, völlig fehlt. Im Gegensatz zum Performance-Theater ist der klassische Brechtstil so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Mit anderen Worten, vielleicht hat Handkes „Publikumsbeschimpfung“ seine historische Mission erfüllt:

„Sie wurden starr und Sie blieben starr. Sie bewegten sich nicht. Sie handelten nicht. Sie kamen nicht einmal nach vorne, um besser zu sehen. Sie folgten keinem natürlichen Antrieb. Sie schauten zu, wie Sie einem Lichtstrahl zuschauen, der schon längst, bevor Sie schauen, erzeugt worden ist. Sie schauten in einen toten Raum.“

Brecht versuchte durch das epische Theater die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufzuheben. In diesem Sinne sagen die Stimmen bei Handke, „sie kamen nicht nach vorne“, denn Brecht drängte darauf, dass die Zuschauer tätig werden, sich den öffentlichen Raum erobern, Fragen stellen, selbst auf die Bühne treten, eigene Reden schwingen. Handke, der ebenfalls die Grenze zwischen Publikum und Bühne thematisiert, lässt dagegen die Grenze verschwimmen. Er hebt sie nicht auf:

„Während [die Sprecher] in den Vordergrund kommen, in einem Gang, der nichts anzeigt, in einer beliebigen Kleidung, wird es wieder hell, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Die Helligkeit hier und dort ist ungefähr gleich, von einer Stärke, die den Augen nicht wehtut. Das Licht ist das gewohnte, das einsetzt, wenn zum Beispiel die Vorstellung aus ist.“

Diese Regieanweisung illustriert Handkes dramatisches und narratives Verfahren. Er reduktioniert ironisch-gebrochen das Erzählen/Schauspielen auf das Nicht-Erzählen/Nicht-Schauspielen, d.h. er schüttet das Kind mit dem Bade aus, ähnlich wie der konsequente Skeptiker, der alles in Frage stellt, keine Frage mehr kennt, da er den Ausgangspunkt seines Fragens durchs Fragen verloren hat. Handkes Theaterstück findet noch in einem Theater statt. Es handelt sich noch immer um einen Monolog, indem die Ausgangssituation aber ignoriert wird, fällt das Stück als Gegenstück für sich genommen in sich zusammen:

„Wir haben keine Rollen. Wir sind wir. Wir sind das Sprachrohr des Autors. Sie können sich kein Bild von uns machen. Sie brauchen sich kein Bild von uns machen. Wir sind wir. Unsere Meinung braucht sich mit der des Autors nicht zu decken.“

Handkes „Publikumsbeschimpfung“ versteht sich als Antithese, die ohne die These gegenstandslos wird, ähnlich dem, der alles anzweifelt, ohne eine eigene Behauptung/Gegenbehauptung aufzustellen, auf Dauer ein ermüdender Gesprächspartner ist. Alles ist falsch. Franz Kafka beschrieb diese Haltung als „leere fröhliche Fahrt“. Handke erweist sich in „Publikumsbeschimpfung“ als getreuer Korrepetitor dieser Haltung. Sie erweist sich als arbiträre Provokation, die jedoch vor dem Obszönen zurückschreckt und als Beschimpfung mit ‚Maulaffenfeilhalter‘ auftrumpft.


Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen zur Ästhetik“ (Band 1)

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort. Kein authentischer Hegel, aber ein Fast-Hegel. Mitschriften-Konkordanz.

In editorischer Hinsicht bleibt die Suhrkamp-Ausgabe von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Werke problematisch. In ihr mischen sich kunterbunt studentische Mitschriften mit Originaltexten, nicht nur von Band zu Band, sondern sogar inmitten von Bänden. Beispielsweise wird in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften nicht zwischen Mitschriftapparat und Hegels Text unterschieden. Die Vorlesungen und darunter diejenige über die Ästhetik setzen dem ganzen den Hut auf. Wo Hegel drauf steht, muss Hegel nicht drin sein:

„In dieser Beziehung [dass die Darstellung das Sinnliche mit Geist durchdringt] liegt die Kunst dem Geiste und seinem Denken schon näher als die nur äußere geistlose Natur; er hat es in den Kunstprodukten nur mit dem Seinigen zu tun.“

In diesen Sätzen, wer nur ein wenig von Hegel versteht, erstaunt der platte Gegensatz zwischen geistlosem Äußeren und geistvollem Inneren, als vermittele sich in der Kunstschönheit nicht das Streben und intuitive Treiben mit dem geistigen Weitblick. In seinen Originalschriften vermittelte sich alles, treibt aus dem Sein und Nichts das Werden hervor und kreiert von unterster bis oberster Stufe der Komplexität ein in sich dynamisches Weltganzes, d.h. der Geist durchdringt alles. Nur die Grade unterscheiden sich. Gerade aber dieses wohltemperierte, nicht exkludierendes Denken bleibt in den Mitschriften oft auf der Strecke:

„Den rein theoretischen Prozeß verrichten die Sinneswerkzeuge des Gesichts und Gehörs; was wir sehen, was wir hören, lassen wir, wie es ist. Die Organe des Geruchs und Geschmacks dagegen gehören schon dem Beginne des praktischen Verhältnisses an. Denn zu riechen ist nur dasjenige, was schon im Sichverzehren begriffen ist, und schmecken können wir nur, indem wir zerstören.“

Eine solche Sichtweise erscheint nicht in den materialen Schriften Hegels. Auch das Sehen absorbiert Licht, wechselwirkt wie das Gehör mit einem Medium, wie bereits Lukrez in „Die Welt aus Atomen“ beschreibt. Wer aber bereits „Die Phänomenologie des Geistes“ oder „Die Wissenschaft der Logik“ gelesen hat, erkennt in den „Vorlesungen über die Ästhetik“ hinter der schnöden Mechanik des dualistischen Argumentierens das tastende Gespür nach Selbstentfaltung und Selbsterforschung des Lebendigen selbst, und hier eine begriffliche Möglichkeit ästhetische Erfahrung differenzierter zu präzisieren:

„Hat der Künstler diese objektive Vernunft ganz zur seinigen gemacht, ohne sie von innen oder außen her mit fremden Partikularitäten zu vermischen und zu verunreinigen, dann allein gibt er in dem gestalteten Gegenstande auch sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität, die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene Kunstwerk sein will. Denn in allem wahrhaftigen Dichten, Denken und Tun läßt die echte Freiheit das Substantielle als eine Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht des subjektiven Denkens und Wollens selber ist, daß in der vollendeten Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben vermag.“

Vorlesungen über die Ästhetik“ ist genauso wenig ein Werk von Hegel wie die über die Philosophie der Geschichte, der Religion oder der Geschichte der Philosophie selbst. Dennoch bereiten diese Texte auf den Fluss, die Verdichtungen, Verstrebungen und Verstrickungen eines angstlosen Denkens in Hegels Haupttexten vor und bereiten Freude, differenzieren zwischen Rätsel und Geheimnis, Fabel und Parabel, Symbol und Allegorie und hintertreiben selbstreferenzielle Ironie, um Platz für ästhetische, grenzenlose, sich selbst überschreitende Erfahrung zu schaffen.


Ernesto Sabato: „Der Tunnel“

Vom philosophischen Reißbrett abgepauster, leicht zu durchschauender Erzählversuch, der über die eigenen Beine und Symbole stolpert und ins literarische Nichts fällt.

Der Tunnel“ von Ernesto Sabato erschien 1948. Sein nächster Roman „Über Helden und Gräber“ dreizehn Jahre später (1961) und sein letzter „Abbadon“ (1974) weitere dreizehn Jahre danach. In all diesen Romanen spielt die Blindheit eine große Rolle, der blinde Fleck eines Individuums, die Versuche, ihm zu entkommen, dem selbstgemauerten Gefängnis zu entfliehen:

Dort setzte ich mich hin und weinte. Das schmutzige Wasser unter mir zog mich magisch an. Wozu leiden? Selbstmord ist so verlockend durch die Leichtigkeit, mit der alles zunichte wird. In einer Sekunde bricht diese ganze absurde Welt zusammen wie ein riesiges Kartenhaus, so als ob die Festigkeit seiner Wolkenkratzer, seiner Panzerkreuzer, seiner Tanker, seiner Gefängnisse nicht mehr wäre als eine Phantasmagorie, nicht fester als die Wolkenkratzer, Panzerkreuzer, Tanker und Gefängnisse eines Alptraums.

Sabato beschreibt in „Der Tunnel“ das Geständnis, den Monolog eines Mörders, Juan Pablo Castel, Maler, der María Iribarne in einem Akt geistiger Umnachtung ermordet hat. Bezeichnend für den ganzen, ziemlich wirren und wabernden Text steht die Stelle in dem obigen Zitat, in der die Festigkeit von Wolkenkratzern mit dem eigenen Erkenntnisprozess verwechselt wird. Die Welt existiert nur als die Projektionsfläche des Protagonisten, bringt er sich um, so seine Gedanken, fällt diese in sich zusammen. Mit anderen Worten, die Welt erscheint als reine Illusion, und genau das wird María zum Verhängnis. Sie entspricht nicht Castels Erwartung, also muss sie umgebracht werden:

»Was wirst du tun, Juan Pablo?« Ich legte meine linke Hand auf ihr Haar und antwortete: »Ich muss dich töten, María. Du hast mich alleine gelassen.« Da stieß ich ihr weinend das Messer in die Brust. Sie presste die Kiefer zusammen, schloss die Augen, und als ich das blutüberströmte Messer herauszog, öffnete sie sie mühsam und sah mich mit einem schmerzhaften, ergebenen Blick an. Eine plötzliche Raserei verlieh meiner Seele Kraft, und ich stieß das Messer wieder und wieder in ihre Brust und in ihren Leib.

Der Roman handelt kurz die Idee ab, die den Gedanken an etwas mit dem etwas selbst verwechselt, nur weil es manches gibt, das nur in Gedanken existiert (bspw. Zahlen). Schmerz, Festigkeit, Wolkenkratzer können bekanntlich unabhängig vom Betrachter existieren (selbst Jean-Paul Sartre musste das irgendwann einsehen und ging schließlich doch wegen einer verfaulten Wurzel zum Zahnarzt, siehe „Zeremonien des Abschieds“). Sabatos‘ psychopathologischer Twist liegt in der Darstellung einer Figur, die der Welt das Versagen auflastet, unabhängig vom Handeln der Figur zu existieren. Die Welt, Mutter Erde, also María, muss dafür zahlen. Die Symbolik ächzt.

In dürftiger Schreibweise und einem Stil, der fast nur aus Hilfsverben, Präpositionen und Konjunktionen besteht, Sätze, die über das Subjekt-Prädikat-Objekt so gut wie nie hinausreichen, in geradezu radebrechender, überstürzter Weise beendet und abgeschlossen, vermag Sabatos „Der Tunnel“ nicht die Intensität zu entfalten, die dem Wahnsinn seiner Figur gerecht wird:

Mindestens eine Woche! Die Welt schien unterzugehen, alles kam mir unglaubhaft und sinnlos vor. Ich verließ das Café wie ein Schlafwandler. Ich sah absurde Dinge: Straßenlaternen, Leute, die hierhin und dorthin liefen, als ob das zu etwas nütze wäre.

Straßenlaternen und Leute sind nicht per se absurd. Hierzu bedarf es der Darstellung des Gemüts, was dieses Gemüt, diese Figur mit den Menschen in Buenos Aires verbindet, weshalb in ihm alles zerfahren, zusammenhangslos, beliebig geworden ist. Davon wird nichts berichtet. Wer nicht von alleine „Straßenlaternen“ und Leute absurd findet, muss sich nun etwas darauf zusammenreimen. Hier hilft es nicht, dass Albert Camus in „Der Mensch in der Revolte“ oder „Der Mythos des Sisyphos das Absurde definiert hat. Es hilft auch nicht, dass der Stil anderer existenzialistischer Romane gleichfalls simplizistisch bleibt wie „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre, da dort wenigstens die Gedankengänge der Figur, Antoine Roquentin, angesichts einer fratzenhaften Wurzel ausführlich nachvollzogen werden.

Ernesto Sabato hat zwar mit „Der Tunnel“ ein Grundstein für seine späteren, dichten, komplex verwebten Romane gelegt, aber sein Erstling gereicht kaum als Skizze und Trittbrettfahrerei auf die französischen Vorbilder und strotzt dazu noch vor sprachlichen Mängeln, die nach Konsultation der englischen, französischen Übersetzungen nicht dem Übersetzen ins Deutsche allein angelastet werden können.


Martin Mosebach: „Krass“

Die Sehnsucht nach dem Besonderen und Singulärem – zerschmettert in der eigenen Unfähigkeit. Den Anti-Bildungsroman zum ornamentalen Abschluss gebracht.

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Martin Mosebach, Georg-Büchner-Preisträger von 2007, zeichnet in seinem 2021 erschienen Roman „Krass“ eine Welt des Zerfalls. In apodiktischer Ironie beginnt der Roman im Winter 1988, geht über das Jahr 1989 über jeden Mauerfall und Wiedervereinigungskontext hinweg und landet unversehens wieder im Jahr 2008, ohne einschneidende, die Welt bewegende politische Momente auch nur am Rande zu thematisieren. Das Thema des Buches lässt dies auch nicht zu: Ralph Krass, ein Geschäftsmann, steht über diesen Dingen.

«Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.» Das sei [so Ralph Krass] bereits an den Ereignissen der Weltgeschichte ablesbar – sie seien nichts anderes als Verlängerungslinien einer Persönlichkeit. Ein Krieg, ein Frieden, eine Eroberung seien vor allem in die Außenwelt projizierte, zu Tatsachen geronnene Charaktereigenschaften, leicht erkennbar bei Alexander, Cäsar, Attila, Napoleon, Hitler, Stalin. «Was diese Männer taten, das waren sie. Männer wie diese schreiten durch die Welt als Rätsel und Fatum und Ausstrahlung einer anonymen Kraft – manchmal haben sie vor sich selber Angst.»

Im ersten Teil des Romans befindet sich Ralph Krass mit seiner Entourage in Neapel, in der Nähe des allbedrohlichen Vesuvs, eingedenk des Schicksals Pompejis. Gerade dort sucht Krass mit Hilfe seines Assistenten Dr. Jüngel nach einer Bleibe, lernt die Lebenskünstlerin Lidewine Schoonemaker kennen und bindet diese mit Geld und Geschenken an sich. Als aber ein Waffengeschäft mit den Ägyptern platzt, zerstreut sich die Entourage in alle Winde. Jüngel, der sich finanziell große Hoffnung durch die Beschäftigung bei Krass, gemacht hat, heiratet, lässt sich scheiden und flieht, finanziell und sozial runiniert nach Frankreich, in die Nähe von Châteauroux, wo der zweite Teil spielt, um seine Wunden zu lecken:

Das Glück wohnt dort, wo ich nicht bin. Ich muß ja nur daran denken, wo ich mich jetzt eine Weile aufhalten darf: in einem schöneren Haus als dem, vor dem ich stehe, aber seine Kälte, die sich mit meiner inneren Abgestorbenheit verbindet, macht es zu einem Grab, selbst wenn ich vom Holzstoß im Garten ein paar Scheite holte und aus dem Kamin Rauch aufsteigen ließe.

Nach einem Autounfall mit dem besoffenen Klosterschuster endet der ausschließlich von Jüngel handelnde Teil, und der Roman kehrt zu Ralph Krass zurück, der mittlerweile, nachdem wiederum ein Waffendeal mit den Ägyptern, genauer mit General Habob, platzt, finanziell und ökonomisch vor dem Aus steht. Nur mit Kleingeld in der Tasche flieht er aus dem Hotel, streift durch Kairo, noch voller Illusionen, aber mit der nagenden Ahnung, dass es mit ihm zu Ende geht:

Wie er da im Dämmer lehnte, Weihrauch einatmend, sich von ihm nährend, war ihm, als spüre er seine Gewalt über die Myriaden Einzelteilchen, aus denen sein Körper sich zusammensetzte. Auch jetzt, in seiner Erschöpfung, übte er diese Herrschaft aus: Die Milliarden pumpten, blähten sich auf, absorbierten seine Gedanken, sonderten feine Flüssigkeiten ab, verzehrten etwas, schieden etwas aus und erneuerten sich. Er ließ sein Herz schlagen, das Blut strömen, und obwohl er gar nicht genau wußte, wo die meisten inneren Organe eigentlich saßen – die Milz? Die Zirbeldrüse? Die Galle? –, wußte er, daß sein Wille sie zur Arbeit antrieb.

„Krass“ von Mosebach dekonstruiert seinen Protagonisten, und mit diesem radikalisiert er eine Kritik an die, die Ralph Krass stützen, ihn benutzen, sich an ihn hängen. „Krass“ liest sich so als exzessive, symbolisch überladende Weltvernichtungsprosa, die in ihrer melodischen, rhythmischen, allegorischen Übertreibung an Gustav Flaubert und seinem Roman „Salammbô“ erinnert. Die Welt gerät ins Hintertreffen. Die Sprache befördert sie ins Jenseits, in ein darbendes Totenreich, wo die Untoten wandeln und sich nicht zu helfen wissen. Aus mit Saus und Braus, Mosebachs wohlfeile Sprache zerfetzt die Ideologie durch eine übertriebene, heilsbringende Erwartungshaltung, die rückhaltlos von allen Seiten enttäuscht wird und doch an Schärfe nicht verliert. Hier, wiewohl ex negativo, schwingt dennoch trotz des stellenweise altbacken-reaktionären Schmollmundes, im Schattenriss die Utopie einer Sprache mit, die gegen den Lebens- und Ausdrucksverlust und -verdruss gelungenen Einspruch erhebt.


Michel Serres: „Der Parasit“

Ein Außenseiter der Philosophie – an der Grenze der Sprache, der Kultur, das Unaussprechliche erforschen. Ein Denken im freien Fall.  

Michel Serres hat keine Denkschule begründet. Sein Denken bleibt zu mysteriös, zu singulär, zu allegorisiert. Es erlaubt kein Freund-Feind-Denken. Es untergräbt solche Dichotomien. Es provoziert, rüttelt an festgeglaubte Maßstäbe. Er denkt als Wissenschaftler gegen die Wissenschaft, als Kulturarbeit gegen die Kultur, als Geistesarbeiter gegen den Geist, aber nicht wie Michel Foucault, um dem großen Raunen des Diskurses das Wort zu reden, und auch nicht wie Jacques Derrida, um die Diffèrance in allem obsiegen zu sehen. Er denkt gegen das Denken als Denker:

„Die Geschichte ist der Ort der zureichenden Ursachen ohne Wirkung, der gewaltigen Wirkungen aus unbedeutenden Gründen, der starken Folgen aus schwachen Ursachen, der strikten Effekte aus zufälligen Gründen. Wir wissen endlich, dass diese Logik in der physikalischen und der lebendigen Welt am Werk ist, wir müssen noch lernen, dass sie in der Geschichte am Werk ist. Die Geschichte ist der Fluss der Umstände und nicht länger die alte Bahn der Mechaniker, die mit ihren Konflikten und Kräfteverhältnissen ausgestattet ist.“

Michel Serres geht es um eine Kommunikationstheorie des Rauschens. Er weiß und davon geht er aus: Bringt der Sender eine Nachricht an den Empfänger, hört die Kommunikation für einen kurzen Moment auf. Wird die Übermittlung der Nachricht aber gestört, rauscht es, zapft etwas an der Leitung, wiederholt sich der Sender und der Empfänger hört weiterhin zu. Die Kommunikation hält an. Serres denkt systemtheoretisch, kybernetisch vom Standpunkt der Evolution aus. Was erhält ein System, wie erhalten sich Systeme, wie wachsen sie, wie zerfallen sie?

„Der Parasit ist ein Operator, er ist ein generalisiertes clinamen […] Die Zeit der Geschichte beginnt, sobald eine im Sinne der Evolution parasitäre Art sich daranmacht, Botschaften anzuzapfen, und zum Parasiten im logischen Sinne wird; sobald der Sinn des Wortes sich vervollständigt; sobald das Tier am Tische des Wirtes speist und den Austausch vom Logischen des Sinnes seines Signals gegen Materielles erfindet.“

Serres Begriffsbildungen bieten keine klaren Fronten. Er unterläuft die Begriffe Wissen und Einbildung, Information, Rauschen, System und Umwelt. Ihm geht es um die schmerzhafteste aller Fragen: unter welchen Umständen wird ein Kraut zum Unkraut, ein Unkraut zum Kraut. Er bietet keine Antwort, aber seine Gedankengänge durchforsten unter diesem Gesichtspunkt die Klassiker der abendländischen Buchgeschichte: Fabeln von Jean de La Fontaine, Platons Das Gastmahl, Molières Tartuffe, die Sage um die Joseph-Brüder, aber auch die systemtheoretische Situation des Fußballs wird hinzugezogen:

Erfreuen wir uns im Vorübergehen an der Metapher, die Rudyard Kipling nicht verachtet hat: Die Rote Blume hält die Tiger fern, und der goldne Zweig ist nicht weit. Der Ball ist das Subjekt der Zirkulation, die Spieler sind nur Stationen und Ruhepunkte. Der Ball kann sich in einen Zeugen der Ruhestation verwandeln; Zeuge, das heißt auf Griechisch Märtyrer.“

Michel Serres liest sich nicht leicht, aber bietet viele Anknüpfungspunkte für bspw. an Niklas Luhmann Interessierte, oder an Michel Foucault Verzagende, oder von Jürgen Habermas Provozierte. Serres bietet ein altes Denken, ein Denken gegen sich, gegen die eigene Sprache, gegen die eigenen Mythen. Wer ist Parasit? Wer ist es nicht? Wer profitiert wie, wodurch und wovon? Hält der Parasit nicht das System am Laufen?

Dass die Antworten ausbleiben, nur angedeutet werden, schwächt den Text nicht. Es stärkt ihn. Er ist von Wort zu Wort durchdrungen von einer großen Liebe zum Reden und Leben, wie auch seine Alterswerke bezeugen, die da heißen: „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ und „Was genau war früher besser?“ Michel Serres bietet die genuinste Form des utopischen Denken und das kann, weil Denkgrenzen überschreitend, nie leicht und eingängig sein. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg, auf dass das Denken endlich das Fliegen lerne.   


Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werther“

Schwungvoller Beginn. Pathetisch, plastisch verliebt ins Leben und die Welt platzt am Ende alles wegen eines drögen altväterlichen Herausgebertons.

Einer der ersten Bestseller, jener Roman, der eine Lesesucht ausgelöst habe und zu einer Suizidwelle führte, Schlüsselroman und erfolgreich wie kein zweiter – Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ kursiert unter vielen Attributen und Vorzeichen. Zwischen Kitsch und Krankheit zum Tode, zwischen Psychopathologie und Gesellschaftskritik schimmert der Protagonist mit Sturm und Freiheitsdrange zu Beginn durch die Zeilen:

Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier.

Werther reist von Zuhause weg nach Wahlheim, um Erbschaftsangelegenheiten für seine Mutter zu klären. Dort verliebt er sich in die bereits verlobte Charlotte, sucht aber tröstenden Abstand und nimmt eine Assistenz bei einem Gesandtem eines nicht näher bestimmten Hofes an. Werther führt sich aber unter den Augen des Grafes unziemlich auf und muss erneut, vor allem aus Eitelkeit, das Weite suchen, kommt bei einem befreundeten Fürsten unter, nur um dann doch wieder zurück nach Wahlheim zu reisen, sich letztlich doch seiner Liebe zu Charlotte völlig hinzugeben, um daran zu verzweifeln, und sich dann am Ende auch noch umzubringen:

»Die menschliche Natur«, fuhr ich fort, »hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.«

Die Leiden des jungen Werther“ beginnen enthusiastisch als Briefroman. Werther schreibt an Wilhelm, seinen besten Freund, und berichtet von seinem ungebrochenen Lebensdrang. Hier glänzen die Passagen, die Sentenzen, die breit geschwollene Brust des Protagonisten. Ihm dürstet nach Kleinem wie Großem. Nichts entgeht ihm. Er gleitet durch den Tag in einem ausufernden ozeanischen Gefühl. Ab dem zweitem Buch schaltet sich jedoch verdruckst ein Herausgeber ein, kommentiert auktorial, ordnet ein und inszeniert den psychischen Niedergang Werthers relativ souverän und retardierend, sodass Distanz und eine gewisse Ironie die Handlungsweise der Figur untergräbt und im lächerlichen Licht dastehen lässt:

„[Werther] kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm leuchten wollte, das Licht aus der Hand und ging allein in sein Zimmer, weinte laut, redete aufgebracht mit sich selbst, ging heftig die Stube auf und ab und warf sich endlich in seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem Herrn die Stiefeln ausziehen sollte, das er denn zuließ und dem Bedienten verbot, den andern Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen würde.“

Das zweite Buch bricht mit der authentischen, immersiven, ja schwungvollen Rekapitulation des Verliebten und zeichnet etwas dröge, unter vielen Aufschüben und teilweise ungekennzeichneten Spekulationen das damals herrschende Gesellschaftsbild der Reichen und Schönen. Die Komposition gerät derart außer Kontrolle, dass seitenlange aus Ossians „Die Gesänge von Selma“ rezitiert wird:

„Und es erscheint in seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen Freunde, sie sammeln sich auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber sind. – Fingal kommt wie eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind seine Helden, und, siehe! die Barden des Gesanges: Grauer Ullin! stattlicher Ryno! Alpin, lieblicher Sänger! und du, sanft klagende Minona!“

Seitenweise werden plötzlich, aus dem Ärmel Figuren geschüttelt, die mit der Handlung nunmehr nur noch einen vagen Zusammenhang besitzen: Überschwang, Verliebtheit, Opferbereitschaft. Das Bild bricht auseinander. Aus dem ergreifenden Zeugnis Werthers verzetteln sich seine Leiden in Kulturgeschwätz, die dann den Selbstmord als Akt völlig geistiger Umnachtung nahelegt und die Figur jeder Nachvollziehbarkeit beraubt. Ob das der nachträglichen Editierung zu verdanken ist, um den Suizid nicht zu verklären, das herausfinden, nach dieser schalen Lektüre, erscheint nicht der lieben Mühe wert.

Dann doch lieber nochmals Friederich Hölderlins „Hyperion“ oder moderner, Henry Millers „Der Wendekreis des Krebses“.  


Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen W.“

Lebensbejahende Selbstgenügsamkeit in der sozialistischen Vorstadttristesse. Eine völlig andersgeartete Subversion. Intensität statt Larmoyanz.

Ausführlicher, vielleicht begründeter auf kommunikativeslesen.com

Der „Werther“ aus Plenzdorfs 1973 erschienen Jugendroman „Die neuen Leiden des jungen W.“ heißt Edgar Wibeau, das, wie er betont, französisch ausgesprochen gehört und sich für ihn auf „Niveau“ zu reimen hat. Edgar, Musterschüler, Mustersohn, packt es eines Tages. Er schmeißt alles hin, büchst aus und zieht in eine abbruchsreife Laube ein:

„Erst wollte ich einfach pennen gehen, ganz automatisch. Meine Zeit war ran. Dann fing ich erst an zu begreifen, daß ich ab jetzt machen konnte, wozu ich Lust hatte. Daß mir keiner mehr reinreden konnte. Daß ich mir nicht mal mehr die Hände zu waschen brauchte vorm Essen, wenn ich nicht wollte. Essen hätte ich eigentlich müssen, aber ich hatte nicht so viel Hunger. Ich verstreute also zunächst mal meine sämtlichen Plünnen und Rapeiken möglichst systemlos im Raum. Die Socken auf den Tisch. Das war der Clou. Dann griff ich zum Mikro, warf den Recorder an und fing mit einer meiner Privatsendungen an: Damen und Herren! Kumpels und Kumpelinen! Gerechte und Ungerechte! Entspannt euch!“

Plenzdorfs Roman hat in der DDR Furore gemacht und diente zuerst als Drehbuch, geriet dann aber zum Roman und wurde als Theaterstück uraufgeführt, um erst dann verfilmt zu werden. Edgar Wibeau versprach Aufbruch, Neuerfindung und Fröhlichkeit, eine frische, neue Variante, sich die Tradition anzueignen, in diesem Fall Johann Wolfgang Goethes „Werther“-Buch, das als Toilettenpapier herhalten musste und aus diesem Grunde allein schon bei seiner angehimmelten Charlie auf keinen großen Widerhall stoßen kann:

Ich wollte sofort meine Chance nutzen und meinen Kopf wieder bei ihr unterbringen, und es hätte garantiert auch geklappt, wenn mir in dem Moment nicht dieses blöde Werther-Heft aus dem Hemd gerutscht war. Ich hatte mir angewöhnt, es immer im Hemd zu haben, ich wußte eigentlich selbst nicht, warum. Charlie hatte es sofort in der Hand. Sie blätterte drin, ohne zu lesen. Ich sah ziemlich alt aus. Ich wäre mir reichlich blöd vorgekommen, wenn sie alles mitgekriegt hätte. Sie fragte, was das ist. Ich nuschelte: Klopapier. Eine Sekunde später hatte ich das Ding wieder.

Charlie ist Kindergärtnerin, verlobt mit einem vom Wehrdienst zurückgekehrten Germanisten namens Dieter, Anfang zwanzig und ihrer Meinung viel zu alt für Edgar, der schlanke siebzehn ist. Getreu dem Vorbild artet das Ganze zu einer mittleren Tragödie aus. Im Gegensatz aber zu Goethes Variante spricht hier ein fröhlicher, kesser Edgar aus dem Jenseits den Text, wie sein Vater nach und nach herausfindet, was eigentlich da in der Laube alles passiert ist und was das mit dem NFG, also dem nebellosen Farbspritzgerät, zu tun hat.

Plenzdorfs Roman zeichnet sich durch Lockerheit, Witz, Geschwindigkeit und eine, selbst noch nach Jahrzehnten frischen Jugendsprache aus. Der Plot rast geschwind an einem vorüber. Geistige Irrfahrten geraten zu Selbstfindungsversuchen, und Jeans-Songs zur Selbstunterhaltung, während Edgar Kassetten-Nachrichten für seinen besten Kumpel Willie aufnimmt. Es klappt so gut, weil der Roman sein dubioses Setting gekonnt ausreizt – der personale Erzähler, der aus dem Off die Vorgänge nach seinem Tode kommentiert, richtig stellt und, ja, auch ein wenig zur Selbstreflexion angeregt wird.

Hier spielt eine jugendliche Unverletzbarkeitsstrategie in die literarische Fiktion hinüber und erzeugt Witz und Spannung, ohne belehren oder im Gestus subversiv erscheinen zu wollen. Die Subversion gelingt von ganz alleine, einfach durch Ton, Haltung und Intensität, sodass Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ mit Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und Werner Bräunigs „Rummelplatz“ sowie Christoph Heins „Der Tangospieler“, das als sentimental-depressiver, Trauerklos neben Edgars Reise um das große Nichts herum erscheint, das Bild der Jugend- und Problemwelt der in die Jahre gekommenen DDR komplettiert, die in Gegenwartsliteraturen nur noch äußerst verdruckst, verschämt, in sich gebrochen vor sich hin wabert und in die Ausweglosigkeit versiegt.


Rainald Goetz: „Irre“

Ein gezähmter Expressionismus ohne Mythos, oder: Einem Monolog geht der Atem aus.

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Rainald Goetz, Georg-Büchner-Preisträger von 2015, schimpft in seinem Debütroman „Irre“ aus dem Jahr 1983 wie ein Rohrspatz gegen Herbert Achternbusch und Magnus Enzensberger, gegen Diedrich Diederichsen und den Springer Verlag, gegen die Regierungsparteien, Willy Brandt und viele mehr. Einige Monate zuvor ritzte sich besagter Goetz beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb die Stirn mit Rasierklingen an und blutete sein Manuskript und das Lesepult voll. Sein Roman gleicht auch eher einer Intervention und hat mit einem Roman nur noch sehr äußerlich etwas zu tun:

Raspe schlug seinen Kopf an der Schreibtischkante auf. Da fiel ein Gehirn heraus. Es tropfte auf die Seiten eines Buchs. Oder war das Wasser? In den Augen tanzten nur die Wörter, verloren, Buchstaben ohne Zusammenhang und Sinn. Ich muß das Lesen wieder lernen. Raspe verstand nur noch Symptome, zerfallen waren die Geschichten. Alle fiktiven Bücherleben waren tot wie nie, doch auch die eigene Geschichte war so zerhackt. Jetzt jetzt: Riechen Sie das? Ein Lärm, ein Chaos hinter meinen Augen, wie das stinkt, Gehirngeruch.

Offiziell, von Goetz selbst angegebenes Vorbild von Raspe, der Hauptfigur in „Irre“, ist Werff Rönne aus Gottfried Benns Novellensammlung „Gehirne“. Beide üben den Arztberuf aus. Beide geraten in eine Sinnkrise. Beide entfliehen ihrem Job: Raspe, bei Goetz, indem er säuft und säuft und säuft, sich prügelt, auf Punkkonzerte geht und Drogen nimmt. Er will mit der verlogenen Gesellschaft so wenig wie möglich zu tun haben und kündigt schließlich. Danach gurkt er herum, schmuggelt Drogen und beginnt für Zeitungen zu schreiben. Es hilft aber alles nichts:

Und es waren doch die KlinikBilder, die ich auch nach dem Verlassen der Klinik aus dem Kopf nicht heraus gekriegt habe, durch kein Vergessen, kein Bier, durch kein nichts, Bilder, die mich in einen wochenlangen narkolepsiegleichen Schlaf in das Bett hinein gefällt haben. Und es waren diese Bilder, die mich nach Monaten, keineswegs nur belanglosen PipifaxMonaten, dann doch ganz und gar eingefordert haben, die mir meine Pflicht gegeben und die größte Anstrengung auferlegt haben, Bilder, die ich habe weg schreiben wollen, die ich aber mit keinem Wort und mit keiner Beschreibung weg kriegen habe können, Bilder, die mich immer noch verfolgen und in die panischste Panik hinein jagen.

Voller Inbrunst, Intensität, voll reißerischer, sich überbietender, überbordender Sprache rast der Ich-Erzähler durch die 1983er-Gegenwart und lässt kein gutes Haar an nichts. Er will alles mit sich in den Abgrund reißen und holt zum literarischen Rundumschlag aus. Nur so richtig weh tut es leider nicht. Die Hauptfigur wirkt zu wenig kohärent, selbst zu irre, zu spontan, unberechenbar und neben der Spur, als dass die Tiraden treffen könnten. Die Glaubwürdigkeit stellt sich nicht ein. Es fehlt die Selbstbeschränkung, die Rahmung, die Positionierung seines Angriffes. Er bleibt zu referenziell und hiermit zu abhängig von seinem Kritisierten, ohne den Schritt zum selbstreferenziellen Abgrund eines Thomas Bernhard in „Auslöschung. Ein Zerfall“ zu wagen.

So bleibt Rainald Goetz in Irre zwischen dem Benn‘schen Mythos und der Bernhard‘schen Selbstzerfleischung unentschlossen stehen und wirkt eigenartigerweise am Ende nur noch zahm. 


Heinrich Mann: „Der Untertan“

Stilistisch holprig, dialogisch collagiert und holzschnittartig verbrämt, dennoch ein Wilhelminisches Gruselkabinett ersten Ranges.

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Heinrich Mann schreibt in „Macht und Mensch“, dass er in „Der Untertan“ den „widerwärtig interessanten Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseres Wissen“ gestalten möchte. Seine Kunstfigur heißt Diederich Heßling, und sie kommt, wie bereits zu erahnen ist, im Buch nicht gut weg:

Die andern schwankten hinterdrein, Diederich aber, kein Komment half ihm mehr, glitt hin, wo er stand. Zwei städtische Wächter [Roms] fanden ihn, an die Mauer gelehnt, in einer Lache sitzen. Sie erkannten den Beamten im persönlichen Dienst des Deutschen Kaisers, und voll tiefer Besorgnisse beugten sie sich über ihn. Gleich darauf aber sahen sie einander an und brachen in ungeheure Fröhlichkeit aus. Der persönliche Beamte war gottlob nicht tot, denn er schnarchte; und die Lache, in der er saß, war kein Blut.

Heinrich Mann greift zur bitterbösen Satire und tritt mit dem 1918 erschienen Roman, vier Jahre später als geplant wegen der kaiserlichen Zensur während der Dauer des 1. Weltkrieges, deutlich gegen die nun Geschichte gewordenen Kaisertreuen nach. Ausgewogenheit lässt sich nicht erhoffen. Der aufhaltsame Aufstieg Diederichs findet vor allem statt, weil alle anderen auch nicht besser sind. Der Untertan spielt einzig in der Oberschicht, nicht ganz aristokratisch, aber schon fast nicht mehr bürgerlich. Es geht um Staatsanwälte, Industrielle, um reiche Erbinnen, Inzest im Großbürgertum, um Sadomasochismus, Kurtisanen, um Regierungspräsidenten, also um die repräsentativen, sich ums Politische streitenden, erotomanischen Bessergestellten:

Dies schien Guste die letzten Bedenken zu nehmen. Sie erhob sich; indes sie in fesselloser Weise mit den Hüften schaukelte, begann sie ihrerseits heftig zu blitzen, und den wurstförmigen Finger gebieterisch gegen den Boden gestreckt, zischte sie: »Auf die Knie, elender Schklafe!« Und Diederich tat, was sie heischte! In einer unerhörten und wahnwitzigen Umkehrung aller Gesetze durfte Guste ihm befehlen: »Du sollst meine herrliche Gestalt anbeten!« — und dann auf den Rücken gelagert, ließ er sich von ihr in den Bauch treten.

Was geht schief? Die Satire trifft den Zeitgeist. Das Buch Der Untertan wird zum riesigen Erfolg und feiert seinen eigenen Sieg auf dem Rücken der jüngst niedergerungenen Kaiserherrlichkeit. Heinrich Mann bedient Schadenfreude und zieht alle Register, seine eigenen Figuren ins Lächerliche zu ziehen. Leider bleibt dabei die Handlung, völlig auf der Strecke. Die Intrigen, von denen der Roman nur so strotzt, werden inhaltlich gar nicht motiviert. Es bleibt völlig im Unklaren, welche Rollen die Stadtverordnetenversammlung, der Regierungspräsident, der Kriegsveteranenverein administrativ einnehmen. Auch der Börsenhandel, die Spekulation, die industrielle Produktion dümpeln im Ungefähren herum. Details spielen einfach keine Rolle. Wichtig ist nur, dass der intrigante Heßling Profit daraus schlägt. Woraus? Unwichtig, und weiter geht’s.

Sprache wie Handlungsbogen, wie Konfliktsituation von „Der Untertan“ überzeugen nicht. Der Roman erscheint als Vorläufer von den Bertolt Brechtschen Agitprop-Theaterstücken Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui und Die Dreigroschenoper, nur ohne die Fröhlichkeit, die Intensität, ohne die Lieder und das Selbstbewusstsein, die darin überparteilich aufblitzen mögen. Über 500 Seiten darauf zu verwenden, immer wieder darzulegen, was für ein schlechter Kerl der Diederich Heßling ist, ohne die Konfliktkonstellationen auszuloten, erscheint dann am Ende zu wenig, zumal die Sprache spröde, holzschnittartig, brachial zu Werke geht und Lesefluss wie -genuss trotz Glaubwürdigkeit der Figuren gar nicht erst aufkommen lässt.


Friedrich Hölderlin: „Der Tod des Empedokles“

Unvollendetes Pathos in Reinform. Naturgesättigter Idealismus auf Abwegen.

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Friedrich Hölderlin gilt als ein hermetischer Dichter. Schon sein Roman „Hyperion“ besitzt mehrere Bedeutungsebenen, die sich von Antike vermittelter Gegenwartskritik, über poetisch reaktualisierter Transzendentalphilosophie bis hin zur intensiven Ich-Katharsis differenzieren lassen. In „Der Tod des Empedokles“, entstanden zwischen 1797 bis 1800, setzt er seinem Literaturprojekt die Krone auf. Es blieb leider unvollendet:

PAUSANIAS. Warum Verbirgst du mirs, und machst dein Leiden mir
Zum Rätsel? glaube! schmerzlicher ist nichts.
EMPEDOKLES. Und nichts ist schmerzlicher, Pausanias! Denn Leiden zu enträtseln.

Hölderlin spürt in „Der Tod des Empedokles“ antiken Tragödien des Sophokles nach, die er, wohlmöglich als Vorbereitung auf die Beendigung seines Empedokles-Projekt ab 1800 übersetzte. Es erschienen in eigenwilliger Diktion „Antigone“ und „Ödipus der Tyrann“. Die erste Fassung des Empedokles besitzt im Vergleich zu den Übersetzungen und den letzten beiden Fassungen noch eine vergleichbar nachvollziehbare Sprache. In erster Linie geht es im Empedokles um die Problematik der Benennung, der Bezeichnung, der Kommunikation über Inkommunikabilitäten:

EMPEDOKLES. O stille! gute Götter! immer eilt
Den Sterblichen das ungeduldge Wort
Voraus und läßt die Stunde des Gelingens
Nicht unbetastet reifen.

Empedokles lebt in Agrigent und gilt dort als Weiser. Eines Tages vergreift er sich im Wort und vergleicht sich bei einer Rede mit einem Gott, woraufhin ihn eine tiefe Scham befällt und er sich mit einer Sinnkrise konfrontiert sieht. Diese nutzt der Priester Hermokrates aus, um ihn vor aller Augen aus Agrigent zu verbannen. Leidend, aber sich zurecht als verstoßen fühlend, hat er sich doch gegen die Götter vergangen, geht Empedokles mit seinem letzten ihm verbliebenen Anhänger Pausanias zum Ätna hinauf. Bevor er den Plan, sich umzubringen, in die Tat umsetzen kann, erscheint Hermokrates samt Gefolgschaft, um sich zu entschuldigen:

ZWEITER BÜRGER. Du solltest König sein. O sei es! seis!
Ich grüße dich zuerst, und alle wollens.
EMPEDOKLES. Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr.
DIE BÜRGER erschrocken. Wer bist du, Mann?
PAUSANIAS. So lehnt man Kronen ab, Ihr Bürger.

Die Entfremdung und Enttäuschung sitzt aber zu tief. Unter dem wankelmütigen Volk Agrigents will er, selbst als König, nicht mehr leben. Er sucht die Einheit mit der Natur, das Verstehen, die Wechselwirkung, die er nicht mehr in Zwischenmenschlichen erhofft. Das Wort hat sich verbraucht. Hölderlins Fassung „Dichter in dürftiger Zeit“ findet den Höhepunkt im Sprung in den Vulkan, in die irdische Sonne, wo alle Differenzen funkensprühend verglühen.

Was Hölderlins „Der Tod des Empedokles“ auszeichnet, lässt sich als poetisierte Philosophie beschreiben. In Reden, überschwänglichen Emphasen, in Tiraden, melodiösen Zeremonien, in Gesang, Klagen und Litaneien kämpft Empedokles um sein ozeanisches, inspiriertes Lebensgefühl. Der hymnische Ton, das buntschillernde Pathos, die Rhythmik entschlüsseln den Text als Versuch, symbolisch, poetisch, durch Klang und Reim die Sprache und mit ihr das Gemüt zurück in den Kosmos zu versetzen und das Urteil, die Entzauberung der Welt zurückzunehmen.

Ein grundlegender Pessimismus durchzieht unüberhörbar das ganze Spätwerk Hölderlins und so auch die Tragödie „Der Tod des Empedokles“. Fast ein Jahrhundert später wird Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“ schreiben. In Diktion, Ziel und Form sehr ähnlich, lassen sich die beiden Werke als Ying-Yang eines deutschen Geschichtspessimismus lesen, die von einem hegelianischen fortschreitenden Weltgeist nichts wissen wollen und im zyklischen Fatalismus poetische Beruhigung und Selbstbestätigung suchen.   


John Williams: „Stoner“

Elfenbeinturm adé. Tragische Missverständnisse eines Zartbesaiteten.

Mit viel Ruhe, nicht zu sagen Nostalgie, berichtet John Williams Roman „Stoner“ über den fiktiven Literaturwissenschaftler William Stoner an der Universität von Missouri. Der Anfang lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass „Stoner“ nicht auf ein klassisches Happy End hinausläuft:

[William Stoner] brachte es nicht weiter als bis zum Assistenzprofessor, und nur wenige Studenten, die an seinen Kursen teilnahmen, erinnern sich überhaupt mit einiger Deutlichkeit an ihn.

Der Ton von Williams bleibt das ganze Buch über unaufgeregt. Es geht in ihm nicht um den Effekt. Bei Fragwürdigen wird sofort in die Zukunft geschaut und gesagt „das wird sich auch nicht ändern“ oder „das war das letzte Wort, das sie je miteinander sprachen“. Bis auf drei Ausnahmen wird streng aus der Perspektive von Stoner erzählt. Er weiß nicht alles und oft durchblickt er auch nicht die Zusammenhänge. Seine Liebe gilt einzig der Literatur, und sein Vorbild heißt Archer Sloane, der ebenso zurückgezogen, streng, detailversessen Literatur betrachtet wie Stoner selbst:

Sloanes Augen richteten sich wieder auf William Stoner, und er meinte trocken: »Über drei Jahrhunderte hinweg redet Mr Shakespeare mir Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören?«
William Stoner fiel auf, dass er mehrere Sekunden die Luft angehalten hatte. Behutsam atmete er nun weiter und war sich bis ins Detail bewusst, wie die Kleidung über seinen Leib glitt, als ihm der Atem aus den Lungen fuhr.

Die Zeiten aber innerhalb der Universität haben sich geändert. Sloane gerät unter die Räder und so auch Stoner. Die Universität wandelt sich von einem Elfenbeinturm in ein öffentliches politisches Kampfgebiet, in welchem es um Posten, Karriere, um Pfründe, Eitelkeiten und Stellen geht. Beide, Sloane wie Stoner, können sich nicht überwinden, ihre Ideale aufzugeben, und geraten ins Hintertreffen. Sie werden ausrangiert, nur weil sie auf Texttreue, Detailkenntnisse und Sachargumente bestehen. Weder in seiner Ehe noch in seinen Freundschaften, weder in seiner Affäre noch als Vater vermag sich der sanfte Stoner durchzusetzen.

Wie Archer Sloane begriff er, welch eine Vergeudung und Sinnlosigkeit es bedeutete, sich ganz jenen irrationalen und dunklen Kräften zu überlassen, von denen die Welt ihrem unbekannten Ende entgegengetrieben wurde; und wie Archer Sloane es getan hatte, zog auch Stoner sich ein wenig in Mitleid und Liebe zurück, weshalb ihn die allgemeine Rastlosigkeit verschonte, die er überall beobachten konnte. Und wie in anderen Momenten der Krise und Verzweiflung wandte er sich erneut jenem verhaltenen Glauben zu, der in der Institution Universität zum Ausdruck kam. Er sagte sich, dies sei gewiss nicht viel, doch wusste er, dass es alles war, was er hatte.

Das Festhalten an seiner Ehe, dem anfänglichen Liebesversprechen, das Klammern an die universitären Ideale, die längst nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen, das Hoffen auf Verständnis, das mit Hohn überschüttet und durch oberflächliche Sachzwangargumente beiseitegeschoben wird, geraten Stoner zum Verhängnis. Er hat die elterliche ländliche Bescheidenheit und das Durchstehvermögen geerbt, die in den gebildeten Kreisen ganz und gar nicht zum Vorteil gereichen. Stoner, ein Farmerssohn, hat sich schlicht verirrt und findet nicht mehr zurück. Der Elfenbeinturm, wenn’s ihn je gegeben hat, ist nicht mehr. Sloane stirbt wie er verkannt:

Sachlich, nüchtern sinnierte er, dass man sein Leben für gescheitert halten würde. Er hatte Freundschaft gewollt und freundschaftliche Nähe, die ihn im Schoß der menschlichen Gemeinschaft hielt; und er hatte zwei Freunde gehabt, der eine war sinnlos gestorben, ehe er ihn richtig kennenlernen konnte, der andere zog sich jetzt so weit in die Riege der Lebenden zurück, dass … Er hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen sollte, also war sie gestorben. Er hatte Liebe gewollt, und er hatte Liebe erfahren, sie aber aufgegeben, hatte sie ins Chaos des bloß Möglichen ziehen lassen.

Das Selbstbild der Universität für die Realität zu halten, das hat Stoner das Genick gebrochen, und das Ja-Wort seiner Gattin ist kein Ja zu ihm gewesen. Er hat naiv geglaubt und musste so an den perfiden Selbstlügen seiner Mitmenschen zerschellen. Was ihm am Ende bleibt, bis ganz zum Schluss aber, ist die Literatur, das Sprechen über die Jahren, Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg zu denen, die hören möchten.


Joshua Groß: „Prana Extrem“

Drogen als Bewusstseinserweiterung. Literarische Schwebezustände zwischen Traum, Rausch und Erzählung.

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„Prana“ stammt als Begriff aus dem Hinduismus und bedeutet „Lebenskraft“. Joshua Groß will mit seinem Roman also auf die volle Lebendigkeit hinaus, „Prana extrem“, ohne Hindernisse und ohne falsche Binnendifferenzierung und sozioökonomische Denkschablonen. Es geht um das gute Leben schlechthin, die Dezentrierung, das Überschreiten und Überschreiben alter Denkmuster. Es geht um ‚high‘ sein, um Schwebezustände, um das Gleiten über die Schranke hinweg. Allegorisch steht hierfür das Skispringen im Zentrum des Romangeschehens:

„Auffällig ist beim Skispringen ja vor allem, dass es Springerinnen oder Springern nur sehr selten gelingt, über mehrere Saisons hinweg in der Weltspitze zu bleiben. Es heißt immer, dass das vom psychischen Druck und den Regeländerungen und den technischen Weiterentwicklungen komme […] Komplette Verkeilung, Egosumpf, Selbstverherrlichung. Und ich glaube, man kann dagegen nur ankommen, indem man eine fortlaufende Verflüssigung anstrebt. Prana muss ungehindert zwischen Scheitelpunkt und Beckenboden fließen.“

Der Plot dreht sich um Joshua und Lisa. Beide verdienen ihr Geld mit Schreiben. Sie ziehen bei Johanna und Michael ein, die das elterliche Haus in Tirol bewohnen, wo sie ungestört Michaels Sommertraining für die österreichischen Skimeisterschaften planen und vorantreiben können. Libellen fliegen umher. Paintball wird gespielt. Ein Nichte kommt zu Besuch. Die Oma Joshuas taucht auf. Besuche im Wellness-Center finden statt, und vieles mehr. Viele Lollis werden gelutscht und Drogen genommen. Zum Glück sind alle wohlhabend genug dafür: Pillen, Marihuana, LSD. Die Berge selbst wirken eher als Störenfriede, die die Figuren auf die Erde binden wollen, während sie es allesamt in neue kosmische Dimensionen mit ihrem gestohlenen Meteoriten zieht:

„Melierte, fluoreszierende Stoppeln sprossen dicht von seinem Kinn weg. Ich selbst lehnte währenddessen an der kühlen Wand und betrachtete den Meteoriten. Dabei lächelte ich. Minuten vergingen. Ich versprühte Raumspray. Allmählich vergaß ich die ballernde Sonne draußen, allmählich vergaß ich die bestialischen Berge. Die Hände von Ignar Drugh vibrierten.“

Das dritte Pärchen im Bunde bilden Ignar Drugh und Gertrude Rhoxus, wohl fiktive Gestalten der internationalen Kunstszene, die den Erzählkontext ins Globale und Multimediale aufweichen. „Prana Extrem“ zeichnet sich durch ein extrem ausgeprägtes Körperbewusstsein der Hauptfigur aus. Seine Zähne sind ihm ein Greuel. Das Licht wirkt auf seiner Haut brachial. Er spürt die Schwerkraft, das Ziehende, mit jedem Schritt. Deutlich genug findet hier, in der Sprache, eine körperliche, physische, materielle Dezentralisierung statt, bis nur noch ein Fluss, eine virtuelle Bewegung, ein ausuferndes, psychedelisches körperbefreites Weltbewusstsein bleibt. Die Kommunikation findet multipolar statt, wortlos, körperlos, berührlos in antizipierter Materialismustranszendenz:

„Am Weihnachtsmorgen setzten Lisa und ich uns einander gegenüber, auf eine Wolldecke. Wir waren nackt. Wir befriedigten uns jeweils selbst. Dabei schauten wir uns ununterbrochen an. Lisa sprach, während sie kam, aber ich konnte nichts davon verstehen. Sie sprach leise und entrückt. Ich wischte mir Sperma von meiner Handfläche, sorgfältig, mit einem endorphinierten Weltraumgefühl im Körper.“

Prana Extrem“ liest sich als solipsistischer Trip. Die Sprache fließt. Sie stößt auf keine Hindernisse. Zeitweise suspendiert das Dichterische den Plot in eine bedeutungsentleerte Trance hinein und lässt die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik verschwimmen. Joshua Groß‘ Jugendsprache passt. Die vielen Fachbegriffe geben ihm Schwung. Er invertiert sie, ohne sie zu missbrauchen. Er spielt mit ihnen. Er malt mit ihnen Szenerien, die Bedeutungsgrenzen auffächern. Seine Prosa lässt sich mit Hunter S. Thompsons „Fear and Loathing in Las Vegas“ und „The Soft Machine“ von William S. Burroughs vergleichen. Vision, Träume, Utopien gehen ineinander über. Sie befreien die Sprache. Sie geben dem Wortrhythmus Luft zum Atmen.

„Als wir aufschauten, bemerkten wir ein grünlich-bläuliches Glimmen in der Luft. Ich starrte auf die güldenen Kiefernnadeln; darüber verebbten allmählich die Lichtimpulse. Sie verteilten sich in grüne Fetzen, rautenförmig, zerfließend. Die Vögel waren fort. Jasper zeigte in den Himmel. Über einer Anhöhe am Horizont erkannten wir ein Ufo: schwarz, schwebend, mit ebenjener grünlich-bläulichen Aura – nicht weit über den Baumspitzen, die gleichermaßen aufleuchteten. Die Heuschrecken sprangen in Richtung des Ufos; überall stieben sie hell angestrahlt aus den Sträuchern auf.“

Leider wirkt das Ende zu abrupt, zu schematisch und skizzenhaft. Das Zeitgefühl des Romans ändert sich mit der Rückkehr von Joshua und Lisa zurück nach Braunschweig allzu schlagartig. Monate statt nur Tage vergehen. Nur noch rhapsodisches, angedeutetes, silhouettenhaftes Erzählen bleibt übrig. Die Zeit in Tirol hängt im Nichts, so auch das Pärchen in Braunschweig. Kompositorisch hält das Buch deshalb nicht, was es verspricht, die Zeiten zu durchschreiten, mit dem Skiflieger für einen kurzen Moment, bevor es ans Landen geht, zu schweben, schwerelos zu gleiten. Der Roman erlebt eine brutale Bruchlandung, die hastig und deshalb fiktional unausgegoren wirkt.


Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Ein sprachlich gelungener Etikettenschwindel: Das Heldinnenepos als Flussfahrt mit Huhn aus dem Kuriositätenkabinett.

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Anne Weber wählt in „Annette, ein Heldinnenepos“ eine ungewöhnliche Form. Statt eine klassische Biographie über eine promovierte Neurologin, Résistance-Kämpferin und Verfechterin für Frauen- und Menschenrechte zu schreiben, besingt sie das Leben von Anne Beaumanoir in rhythmisch-strukturierten Versen und Absätzen wie anno dazumal Homer Odysseus und Vergil Äneas, nur hier modern-gebrochen und ironisch-konterkariert:

Von ihrem freien Willen
dankt sie ab, jedenfalls so lange, bis sie irgendwann
selbst ein paar willenlose Bauern zu dirigieren hat.
Was ist es eigentlich? Was treibt sie an? Warum hat sie
Ihr eignes Leben, das einzige, das sie nun einmal hat,
von einem Tag zum andern aufgegeben, bevor es richtig
angefangen hat? Weiß sie es selbst? Weiß man es je,
warum man letztlich etwas macht?

Anne Weber wählt in „Annette, ein Heldinnenepos“ die dem Epos angemessene Form der distanzierten, im Nachhinein alles überschauenden Erzählinstanz. Üblicherweise berichtet diese allwissend über einen heilsgeschichtlichen Vorgang, über ein Ziel, die Vorbestimmung einer Heldenfigur, deren Schicksal, Erfolge und Niederlagen bereits vorgezeichnet sind. Weber bricht diese Form radikal, indem sie alles, was ihre Heldin schafft, in Frage stellt und sogar cartoonhaft überzeichnet:

In diesen Abgrund könnte man gut fallen, aber
[Annette] fällt nicht, nein, sie rennt beharrlich weiter,
als wäre unter ihren Füßen Boden; in alter
Zeichentrickmanier wirbeln die Beine unter ihr.

Mit eigentümlicher, an Wilhelm Busch erinnernder Nachsicht beschreibt Weber die Höhen und Tiefen ihrer Figur, die teils als blind, vernunftlos, teils als idealistisch, aber in jedem Fall todesversessen beschrieben wird. Die Erklärung liegt auf der Hand: Annette hat, laut Erzählerin, zu viele André Malraux Romane konsumiert und zieht nun los, wie Don Quijote, als Ritterin der traurigen Gestalt, um für das Gute in der Welt zu kämpfen. Das hierbei viel schief läuft, versteht sich fast von selbst:

»Wenn man mit sechzehn keine starken
Überzeugungen hat« (Zitat Annette), »hat man
gute Chancen, nie welche zu haben« (Zitat
Nichtannette). Vor Toten und Terror und was
aus Revolutionen gewöhnlich sonst noch so wird,
verschließt man die Augen, »man hofft und
rennt los« (in der Überstürzung: Zitanette),
und zwar auf einen Ort zu, den es gar nicht gibt
und auch nie geben wird […]

Gesangstechnisch rhythmisch, locker und flapsig, ja leicht herablassend, doch stets versöhnlich rekapituliert „Annette, ein Heldinnenepos“ die Irrungen und Wirrungen der Anne Beaumanoir. Form und Inhalt bekämpfen sich jede Zeile. Sie liegen im argen Widerstreit. Idealisieren will Anne Weber nicht, verteufeln aber auch nicht, und so kommen nichtssagenden Sätze wie diese heraus:

Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Oder:

Stattdessen – das kommt später raus –
begibt sie sich nach Avignon. Warum? Es gibt an diesem Tag
nur einen Zug, der also gleichzeitig der erste und der
letzte ist. Und dieser fährt nach Avignon.

Es ist ziemlich klar, dass, wenn es Gott gibt, er als Schöpfer auch Annette geschaffen hat; und es ist auch klar, dass der einzige Zug, der erste und letzte ist, und wenn dieser auch noch nach Avignon fährt, sie also, so sie den Zug als Transportmittel wählt, ebenfalls nach Avignon reist. Das aufmerksame Lesen entdeckt auf fast jeder Seite mehrere Tautologien und gewollt-humoreske Paradoxien, die im Grunde nur sehr deutlich zeigen, wie fremd Anne Weber trotz intensiver Beschäftigung Anne Beaumanoir für sie geblieben ist. Der versprachlichte, fröhliche, mitunter fließend-sprudelnde witzige Gesang verdeckt diesen gravierenden Mangel auf Dauer leider nur äußerst oberflächlich, sodass das Heldinnenepos nachgerade zum Etikettenschwindel gerät und eher dem Kabarett-Kuriositätenkabinett zuzurechnen ist.


Charlotte Gneuß: „Gittersee“

Eine lebendige, freche Ich-Erzählerin, die zu ihrer konstruierten Erzählwelt nicht passt.

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Der Debütroman von Charlotte Gneuß fällt mit der Tür ins Haus, d.h. er beginnt mit seinem Ende und beschäftigt sich auf seinen darauffolgenden Seiten damit, wie es zu dem Motorradunfall gekommen, wer überhaupt ums Leben und wer der Rühle ist, der die Spuren im Wald beseitigt. Bei all dem Unklaren, eines ist klar. Karin liebt Paul, aber liebt Paul Karin?

Ich setzte mich hinter eine Buche, die nur wenige Meter hinter dem Punkt stand, an dem Paul sein Moped gepackt hatte. Du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe, versprich mir das, hatte Paul damals geflüstert.

Paul nämlich hat die Faxen dicke und macht rüber und lässt sein ganzes Leben, insbesondere seinen Bergbauerjob, in Gittersee zurück, um in Düsseldorf Kunst zu studieren. Gneuß‘ Roman spielt 1976, als Wolf Biemann ausgebürgert wurde. Es gibt die Jodelkuh-Lotte von den Puhdys, Tote Oma als Hauptgang, Karins Vater trinkt, Karins Mutter und beste Freundin Marie sind lesbisch, und ja, Paul ist auf und davon und hat Rühle, seinen besten Kumpel und eine ganze Menge Schlamassel mehr für die sechzehnjährige Karin zurückgelassen, die eigentlich Besseres zu tun hat:

Marie kicherte, setzte sich auf und sagte, wir haben übrigens auch Rumkugeln. Also holten wir die Rumkugeln aus dem Schnapsversteck unter der Spüle hervor, und dann teilten wir sie so, dass jede acht Kugeln bekam. Marie glaubte, dass die Kugeln richtig betrunken machen würden. Sie fand betrunken sein irgendwie erwachsen. Im Fernseher wechselte das Bild. Der Arzt war jetzt im Krankenhaus, am Bett einer Oma. Die Oma jammerte. Oh, ich muss sterben. Der Arzt lächelte, streichelte ihre Perücke und sagte, auf keinen Fall, Sie werden bestimmt fünfundachtzig. Die Oma stöhnte, aber ich bin schon neunundachtzig. Ach so, sagte der Arzt und kratzte sich am Kopf.

Streng aus der Ich-Perspektive erzählt, mit vielen Jugendwörter und ineinander übergehenden Gedanken und direkten Dialogen schildert Karin die Probleme, die auf Gittersee seit Pauls Verschwinden lasten. Alles geht zugrunde, irgendwie. Das Loch, das Paul reißt, lässt sich nicht mehr von der Staatssicherheit in der Person eines Wickwalz kitten, der Karin als Inoffizielle Mitarbeiterin akquiriert. Hier beginnen aber die Probleme des Romans. Die Handlung passt nicht zum großen Mundwerk der Protagonistin. Sie ist direkt, unverhohlen, hedonistisch und unbändig. Die Story, die sie erzählt, aber verdruckst, intransparent und verschämt:

Jetzt war es wieder still, doch ich blieb zur Sicherheit noch ein bisschen stehen. Jaja, der Kindheit glückliches Spiel. Wickwalz’ Stimme vermischte sich mit der von Rühle. Der Frost schimmerte auf der Bank. In den Fenstern lagen Weihnachtskugeln, Engel hingen an den Bäumen. Es hätte mir gleich am Bahndamm auffallen müssen.

Das passt nicht. Karin, die sagt, was sie denkt, hätte klar Schiff gemacht und Tacheles gesprochen, im Rückblick, denn im Rückblick ist die Geschichte erzählt, nicht im Präsenz. Hinzukommen ärgerliche gewollte Literaturschulen-Idee wie Rahmenwirkung durch Wiederholung („der Ginster blühte [….] der Ginster blühte“, „es läuft gut mit Paul […] mit Paul läuft’s gut“ etc …) Auf diese Weise wirkt Gittersee wie ein aus den Ufer getretenes Jugendbuch, das durch schlechte Ratgeber, ähnlich wie Bettina Wilperts Herumtreiberinnen, kein empowertes Ulrich Plenzdorf Die neuen Leiden des jungen W., sondern ein problematischer Roman mit Vergangenheitsaufarbeitung werden sollte. Hari Kunzru in Red Pill, oder Jenny Erpenbeck in Kairos haben das Unheimliche der Staatssicherheit überzeugender beschrieben.

Gittersee von Charlotte Gneuß präsentiert eine frische, quirlige sechzehnjährige Karin Köhler, die den Dreck unter ihren Zehen hervorpullt, Stress mit ihren Eltern hat, Sex will und Alkohol genießt. Die konstruierte Fiktionalität rundum das Schicksal des Stasimitarbeiters passt nicht. Karins Stimme klingt lauter durch die Zeilen hindurch und sollte ein weiteres, eigenes Buch bekommen, in welchem sie nun endlich richtig vom Leder ziehen kann, und zwar ohne plottechnischen Maulkorb.


Thomas Hettche: „Sinkende Sterne“

sinkende sterne

Unausgewogener Mischmasch aus Kulturessay, Polemik, Fantastik und Bauernromantik.

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Thomas Hettches Roman „Sinkende Sterne” spielt in der Schweiz, dient als Sprachrohr eines mittelalten Junggesellen, eines Hagestolz, der in das Haus seiner Eltern, ins Wallis fährt und dort zwischen den Erinnerungen an die guten alten und schlechten neuen Zeiten herumschwankt, während ihn Krankheit und Enteignung drohen und plagen:

Spinnen hatten ihre Netze in den Türsturz gewebt, zusammengebackener goldgelber Flor aus Lärchennadeln im windstillen Schatten der Schwelle. Ich schloss die Augen. Im Wagen, wusste ich, tickte noch der heiße Motor von der Fahrt herauf, doch er würde leiser werden und kalt und schließlich verstummen, und dann würde es sein, als hätte der Wagen immer schon hier gestanden, auf diesem Parkplatz am Rande des Lärchenwaldes hoch über dem Tal der Rhone.

Was episch, fantastisch anfängt, einen groben, wohlgezimmerten Plot ankündigt, in welchem ein Gebirgstal, abgeschottet durch einen Gesteinssturz, plötzlich nationale Gefühle und Separatismusgedanken hegt, stürzt alsbald als eine verkappte literaturwissenschaftliche Arbeit über Homer und die Odyssee, über Rilke und die Geschichten von Tausendundeiner Nacht und Sindbad ab. Leider, wie so oft, unentschieden, dümpelt der Text zwischen allen Textformen und gereicht sich selbst zur Satire, weil er zu viel will, aber zu wenig bietet:

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um und erschrak. Eine junge Frau trat geschmeidig durch die Glastür des Lettners. Das Klappern ihrer Pantoffeln auf dem Stein. Über ihrer violetten Soutane wehte ein weißes, spitzenbesetztes Rochett, darüber wiederum eine violette Pelerine. Sie trug eine FFP2-Maske in derselben Farbe, golden verziert mit den gekreuzten Schlüsseln Petri, und auf dem kahlgeschorenen Kopf ein Birett, dessen vier Hörner nach allen Seiten stachen. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren, während sie auf mich zukam. Sie war wunderschön und groß, und sie war schwarz.

… und entpuppt sich später als Mann. Mit jähen Diskursfetzen jagt Thomas Hettche durch den Zeitgeist und erinnert in Setting und Klang, nur nicht im Humor, an Christian Krachts Selbstpersiflage Eurotrash. In seinen besten Passagen verarbeitet es Max Frisch Der Mensch erscheint im Holozän, dort, wo ein älterer untrainierter Mensch den Berg hinauf schwankt, atmet, mit rasendem Herzen die Landschaft betrachtet und sich klein und unbedeutend fühlt. In seinen schwachen Passagen wird es wirr wie Martin Mosebachs Das Beben, sobald Hinterzimmer in kleinen Wohnungen zu reinsten Spiegelkabinetten werden und irrste Komplotte zu schmieden erlauben.

Thomas Hettches „Sinkende Sterne“ fängt gut an und endet wirr und unentschieden, will eine Allegorie sein, aber erscheint als Lose-Motiv-Sammlung einer möglichen Romanidee, die sich aber während des Schreibens scheinbar verdünnisiert hat. Trotz seiner vielen guten Worte, seiner oft geschliffenen und fein-austarierten Sprache bietet „Sinkende Sterne“ ein Paradebeispiel dafür, dass gutes Schreiben mehr als nur gute (obgleich heutzutage sogar rar gesäte) Sprachkenntnisse erfordert. Es bedarf vor allem einer Schreibidee, die in Thomas Hettches Roman völlig fehlt. Es bleibt eine Glosse ohne jede Pointe.


Thomas Mann: „Der Tod in Venedig“

Der gähnende Abgrund zwischen Hoffnung und Zerfall. Vom beklemmenden Befreiungsversuch, den Klauen des Todes zu entweichen.

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Konzipiert als moderne Tragödie beschreibt Thomas Mann die Situation eines gealterten Schriftstellers, der in Würde und Erhabenheit um den Abschluss seines literarischen Werkes bangt, aber keinen Lebensmut und keine Inspiration mehr in sich fühlt, um es zum Abschluss zu bringen. Auf einem Spaziergang überkommt besagtem Gustav Aschenbach überraschend ein Fernweh:

[…] eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend bewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen. Es war Reiselust, nichts weiter […]

Das „nichts weiter“ setzt sich nun fort. Eine kleine Odyssee führt letztlich nach Venedig, wo er entkräftigt, müde sich nach Ruhe und Erholung sehnt. Sichtlich am Ende erfährt er einen unvorhergesehenen Lebensodem durch Tadziou, einem polnischen Knaben, der mit seinen Geschwistern am Strand spielt. Für Aschenbach das Sinnbild der Schönheit gerät Tadzious Anblick zum Anlass, um über Schönheit, Vergänglichkeit, Zeit und Kunst nachzudenken:

Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.

In verschlungenen Sätzen, Hypotaxen, in Appositionen, nicht enden-wollender Satzkonstruktionen zieht Thomas Mann ein Netz um Gustav Aschenbach, um seine Welt, um die Enge und gleichzeitige Weite seiner Sehnsucht, dem Versuch, Impulskontrolle zu leisten und das Scheitern derselben. Aschenbach verliebt sich, unwillig, beschämt. In voller Selbsterkenntnis fällt er, nach gierigem Verfolgen Tadzious, auf die Stufen einer Zisterne, aufgetakelt, auf jung gemacht, bar jeder Würde, ein alter Geck, einsam, nur mit sich und seiner Leere, seiner hohlen Selbstauffassung und nun akzeptierten Perversion konfrontiert:

Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.

Die Inspiration, sie liegt im Begehren – und Aschenbach erfährt sie ungemindert in der verbotenen und von der Gesellschaft tabuisierten. Im Begehren des Knaben schweift Aschenbach aus und sucht die Freiheit jenseits der sozialen Konventionen, denen er doch seinen Ruhm und sein Ansehen verdankt. Den Widerspruch hält er nicht aus. Er zerbricht an ihm, und Thomas Mann rundet dieses Zusammenbrechen, Aufgeben, diese Implosion mit antik-anmutender Verve und Intensität ab.

Der Tod in Venedig ballt auf kürzestem Raum die Essenz eines von vielen möglichen Künstlerleben. Es kondensiert Aufstieg und Fall einer Illusion, souverän über sich und seine Sprache, seine Inspiration verfügen zu können. Sie erscheint als Gnade und Zufall, als ein Jenseits von Gut und Böse, wodurch Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer unversehens durch die Hintertür in die Novelle treten. Das Zerbrechen einer Ich-Illusion wurde selten so erbarmungslos und konsequent in Szene gesetzt wie in Thomas Mann „Der Tod in Venedig“. Eines von den wenigen Werken Thomas Manns, von denen sich behaupten lässt, sie seien zu kurz geraten. Eine ausgiebige, ausgestaltete Version findet sich bei Hermann Broch und seinem „Der Tod des Vergil“, das Motiv und Situation und fast den Titel von Thomas Mann wieder aufnimmt, in die Zeit des Römischen Reiches versetzt und zu ähnlichen Ergebnissen kommt.


Vladimir Nabokov: „Lolita“

Intensives, farbenfrohes Szenario der USA der Nachkriegszeit, aber mit inkonsistentem Erzähler, schwimmenden Erzählrahmen und satirisch-ironisch gebrochenen Plotpirouetten.

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Lolita von Vladimir Nabokov erregte zur Zeit seines Erscheines, 1955, großes Aufsehen. Es gelangte über Umwege in die Öffentlichkeit, wurde erst in Frankreich publiziert, dann 1957 in den USA. Wenige Bücher besitzen so sehr den Skandalnimbus wie Nabokovs. Pornographievorwürfe an Franz Wedekinds Lulu oder Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, an Henry Millers Wendekreis-Romane oder Anaïs Nin Das Delta der Venus reichen dar nicht heran, schließlich geht es in ihnen um Sex zwischen Erwachsenen, in Lolita aber um Pädophilie:

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand, Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Der Plot lässt sich schnell zusammenraffen. Ein in Paris geborener Literaturwissenschaftler namens Humbert Humbert erbt von seinem reichen Onkel aus den USA ein kleines Vermögen, lässt sich scheiden und dümpelt in den USA vor sich hin, stets von seiner Begierde nach Sex mit vorpubertären Mädchen getrieben, die er ‚Nympchen‘ nennt, um schließlich seinen Traum an der zwölfjährigen Dolores Haze in einem jahrelang währenden Roadtrip vollziehen zu können. Wie es dazu kommt, spielt keine große Rolle – der Text befreit seinen Protagonisten absichtlich von allen materiellen Nöten und sozialen Zwangslagen, um zu zeigen, wie dieser die Freiheit nutzt, nämlich monströs.

Aber das Schreckliche an dieser ganzen Überlegung [über meine Taten] ist dies: Nach und nach war meiner konventionellen Lolita während unseres unerhörten und bestialischen Zusammenhausens klargeworden, daß selbst das erbärmlichste Familienleben der Parodie des Inzests vorzuziehen wäre, die auf lange Sicht das einzige war, was ich dem heimatlosen Mädchen zu bieten hatte.

Humbert Humbert missbraucht seine Lolita, wie er Dolores nennt, wo und wie er nur kann, droht ihr, schlägt sie, sperrt sie ein und bewacht sie eifersüchtig und voller Angst, sie zu verlieren. Über Dolores gibt der Roman so gut wie nichts preis, denn Nabokov lässt nur Humbert sprechen und über weite Strecken des Buches dient Lolita nur als Projektionsfläche seiner abartigen Selbstgespräche. All dies könnte jedoch literarisch überzeugen, als Abgrund, als Vernichtung, als Entfremdung und Zerstörung, brandrodende Intensität, die das Fürchten und Gruseln vor derartigen Individuen lehrt. Das aber ist in Vladimir Nabokovs Lolita nicht der Fall:

Und so rollten wir ostwärts, ich durch die Befriedigung meiner Leidenschaft eher zerrüttet als beflügelt, sie bei strahlender Gesundheit, und die Girlande zwischen ihren beiden Darmbeinen war noch immer kurz wie bei einem Knaben, obgleich das Mädchen fünf Zentimeter größer und acht Pfund schwerer geworden war. Wir waren überall gewesen. Wir hatten eigentlich nichts gesehen. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß unsere lange Reise nur das herrliche, vertrauensvolle, träumerische, unermeßliche Land mit einer gewundenen Schleimspur besudelt hat, das Land, das, rückblickend, uns nicht mehr bedeutete als eine Sammlung abgenutzter Landkarten, zerfledderter Reiseführer, alter Autoreifen und ihrer Schluchzer in der Nacht – jede Nacht, jede Nacht -, sobald ich mich schlafend stellte.

Humbert Humbert als Erzähler verunklart die Situation, spielt mit literarischen Anspielungen und tritt auf der Stelle. Von den letzten hundert Seiten abgesehen gibt es so gut wie keinen Plot und keine Entwicklung der Figuren. Humbert geht es nur um Sex mit vorpubertären Mädchen, und dieser Sex wird nicht beschrieben. Der blinde Fleck des Romans, die bestialische, allnächtliche Missbrauchssituation, wird ausgeklammert. Nur das Taghelle, das Kultur-Ich Humbert Humberts wird vom Stapel gelassen, das aber ein und dasselbe Motiv wieder und wieder durch den Leierkasten zieht, ohne den Figuren etwas hinzufügen. Dolores bleibt eine Lithophanie, wie der Text selbst sagt. Humbert eine Persiflage auf einen Künstlertypen, der die Kunst und das Künstlertum nur als Maske für das ungestörte Ausleben seiner Perversionen nutzt.

Der Text scheitert an schlechten Beschreibungen, die keine sind: „maulwurfgrau“, „Marmorarmen“, „Rauhreifspitzenmuster Quebecs“, „das Fleisch klaffend wie das Ventil einer Fußballblase“ oder: „das erdverhaftete Gegenstück eines Fliegenden Teppichs“. Humbert erzählt manieriert, unrhythmisch, verstockt, hinter vorgehaltener Hand. Er verbirgt sich, und das Versteckspiel, das vor literarischen, und offensichtlichen Querverweisen, nur so wimmelt, streckt den ohnehin sehr dünn geratenen Plot nur bis zur Unkenntlichkeit aus.

Es bleibt nicht viel, aber die Trauer um Dolores. In der kurzen Szene, in der sie einmal sie selbst sein darf, kurz vor Schluss, verdichtet sich das ärmliche Vorstadtszenario und ihr ganzes Elend steht klar vor Augen. Sie hätte ein besseres Buch als Lolita verdient, Nabokov hat es ihr nicht gewährt und eine Persiflage auf Künstler wie André Gide, Thomas Mann und Paul Gauguin geschrieben. Und noch nicht einmal eine böse.


Voltaire: „Die Prinzessin von Babylon“

Dem Wahnsinn von der Schippe gesprungen, durchs Weltenrund gelaufen, Abenteuer erlebt und Spaß gehabt. Literatur ohne schlechtes Gewissen, voller Aberwitz und Wortwitz.

Voltaires „Die Prinzessin von Babylon“, enthalten in Sammlungsbänden wie „Kleine Romane“, besticht durch seine Verknappung und Kürze. Auf weniger als 80 Seiten reisen zwei sich Liebende durch die Welt, suchen sich, betrügen sich, mehr oder weniger unfreiwillig, aneinander und finden zueinander. Der Plot ist platt. Die Kritik an den herrschenden Umständen in Albion (Großbritannien), Gallien (Frankreich) usw. durchschaubar, aber so gestaltet, dass die Wortfreude über allem prangt. Voltaire singt, schreibt, plädiert, wie ihm der Schnabel gewachsen ist:

Wie gros war nicht [Formosantes] Erstaunen, als sie diesen Scheiterhaufen, wie sie die Asche des Vogels darauf ausgebreitet hatte, sich von selbst entzünden sahe. Alles war sehr bald verzehrt. Statt der Asche gewahrte man nichts als ein grosses Ei, aus dem sie ihren Vogel viel prachtvoller hervorgehn sahe, als er je gewesen war. Es war der schönste Augenblik, den die Prinzessin je in ihrem Leben gehabt hatte; es gab nur noch einen, der ihr theurer sein musste; sie wünschte ihn, hofte ihn aber nicht.

Voltaires Pärchen, Amazan und Formosante, erleben eine Berg-und-Tal-Fahrt, die ihres Gleichen sucht. Sie werfen sich in die Vielgestaltigkeit der Welt, rasten nicht, suchen, begehren, widerstehen und lassen sich weder durch Weltmeere, Gebirge, Kriege, Intrigen und/oder Feiern und Versuchungen aufhalten. Sie begehren sich, jeden Tag aufs Neue, wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche, denn jeden Tag aufs Neue wächst und wieder erwacht die Liebe. Beachtliche Hindernisse stellen sich jedoch in ihrem Weg, allesamt wohlbekannt aus anderen Liebes-und-Reiseromanen seit dem Mittelalter. Was Voltaires „Die Prinzessin von Babylon“ jedoch auszeichnet, ist überbordende Erzähllust:

Die drei Fürsten warfen sich sogleich vor Belus und Formosante’n nieder zur Erde. Des König von Aegypten übergab der Prinzessin zwei der schönsten Krokodille des Nils, zwei Fluspferde, zwei Zebras, zwei Aegyptische Ratten und zwei Mumien samt den Büchern des grossen Hermes, welche er für die grösste Seltenheit auf dem ganzen Erdboden hielt.

Voltaire übertreibt nach Herzenslust, um die Intensität zu feiern, die das Lieben mit sich bringt, die Anziehungskraft, die über Kontinente hinweg verbindet, Briefe, Missverständnisse, Gekränktheiten jagen die beiden von China, über Indien, über das Mittelmeer hinauf in den Norden von Europa, zurück nach Spanien und wieder in die Heimat, um in einer wüsten Schlacht die Gemüter verschiedener Könige letztlich zu befrieden. „Die Prinzessin von Babylon“ besitzt zwar viele Ebenen, viele Möglichkeiten, politische Seitenheibe zu extrahieren, aber vor allem besticht es durch den klar formulierten Hedonismus:

[…] daß das Leben zu kurz sei, um es auf eine andre Art zu geniessen; daß Prozesse, Intriken, Kriege und die Priesterstreitigkeiten, welche das Leben der Sterblichen aufreiben, Ungereimtheiten und Abscheulichkeiten wären; daß der Mensch zur Freude geboren sei, und daß er die Vergnügungen nicht so leidenschaftlich und so unablässig lieben würde, wenn er nicht dazu geschaffen wäre; daß mit Einem Worte das Wesen der menschlichen Natur darinn bestände, sich zu ergezen, und daß alles Uebrige Thorheit sei. Diese vortrefliche Moral ist nie als durch Thatsachen widerlegt worden.

Eine Lektüre voller Sinnlichkeit, sprühender Wortlust, voller Erfindungsreichtum. Narration, die sich keinerlei, weder politische, kulturelle noch physikalischen noch sonstwelche Grenzen auferlegen lässt.


Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

Etwas unausgegoren zuerst, im letzten Drittel entschieden und dicht erzählt, mit argen Schwächen in der Metaphorik und der biederen Dialogführung, dennoch als Phantomschmerz überzeugend.

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Daniel Kehlmann nimmt sich historisch verbürgte Szenerien und wandelt und füllt und lädt sie mit seinem magischen Realismus auf. Gemäß dieses Schreibvorhabens nimmt er sich in seinem neuesten Roman „Lichtspiel“ die letzten Lebensjahre des bekannten Regisseurs Georg Wilhelm Pabst an. Kehlmann nennt am Ende seines Buches den Grund seines Buches:

G.W. Pabsts Film ‚Der Fall Molander‘ wurde in den letzten Kriegsmonaten in Prag gedreht, das Material ist jedoch verschollen. Über die Umstände der Dreharbeiten ist nichts Konkretes bekannt.

Wie üblich mischt nun Kehlmann Phantasie mit Historie, d.h. die meisten seiner Figuren existieren jenseits seines Textes. Wie und ob sie aber auf die Weise agiert, gesprochen haben, wie Kehlmann sie darstellt, spielt nur hintergründig eine Rolle. Als Roman kann jede Szene, jeder Dialog, jedes Detail reinste Erfindung sein. Die Schreibweise selbst gibt klar zu erkennen, dass es sich nicht um einen historischen Roman handelt:

[Pabst] war so müde, ihm kam es vor, als ob der Asphalt kleine Wellen würfe; dann auch, als ob sie mit dem Kopf nach unten gingen und der Himmel ein unendlicher Abgrund wäre. Ein Militärboot tuckerte träge vorbei, es schien zu schweben, und er fragte sich, ob die grauschweren Wolken über der Stadt von Bränden herrührten.

Uneindeutigkeit, schwebende Erzählführung, wegsaugende Assoziationen und auseinanderlaufende Beschreibungen kennzeichnen den Stil von „Lichtspiele“, das wie ein Aquarell im Regen Schlieren zieht oder wie eine Windschutzscheibe, auf die der Regen prasselt, lediglich einen tropfenbeschwerten Blick auf die Landschaft, den Plot, gewährt. Die vielen Handlungsfäden finden nicht zueinander, werden aber trotzdem immer wieder aufgenommen. Zwar stehen im Zentrum der Handlung die Eheleute Pabst, Trude und Georg Wilhelm, aber um sie herum streunern eine Menge anderer, nicht zuletzt ihr Sohn Jakob, der überzeugter Nationalsozialist wird, ohne dass diese Wandlung vom sensiblen, zeichnenden Jugendlichen zum narben- und kriegsversehrten Museumsgehilfen oder die der anderen nachvollzogen wird.

«Ich habe viel gemalt. Aber dann …» Jakob hebt seine Hände. Seine entstellten, beschädigten Hände, seine schmerzenden Hände: Die Haut geschwärzt auf der Rechten, Klein- und Ringfinger lassen sich nicht mehr krümmen, auf der Linken fehlt die Daumenkuppe, der Zeigefinger ist immer gekrümmt und lässt sich nicht geradebiegen. Man kann ganz gut damit leben, es tut nur bei feuchtem Wetter weh.

Kehlmanns Erzählinstanz wechselt die Zeiten, die Figuren, die Erzählperspektiven nach Belieben. Konsistenz wird nicht angestrebt, eher ein Panorama, ein Brainstorming über das Thema von einem verschollenen Film, der möglicherweise, möglicherweise auch nicht unter verbrecherischen, brutalen Umständen gedreht worden ist. Diese freischwebende Kamera lehrt an manchen Stellen gelungen das Gruseln. An vielen anderen Stellen wirkt sie bemüht und unsicher, fast schüchtern und ängstlich. Angst durchzieht eine verhaspelte, gekürzte, sich nicht vertrauende, fast kindliche Sprache:

Er drehte vorsichtig den Kopf. Er lag in einem dunklen Raum mit fleckigen Tapeten. Ein schiefer Holztisch stand verloren, auf ihm brannte eine Kerze. Schatten tanzten an den Wänden. Das hier war nicht sein Schlafzimmer. Vor dem Fenster war es dunkel. Weder seine Kleider noch seine Schuhe waren zu sehen.

Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ unterhält und wird im letzten Drittel spannend, sobald der Fokus alleine auf die Kunstfigur Pabst und seinen nie vollendeten Film „Der Fall Molander“ liegt. Eine Welt zerbirst und inmitten dieser Welt Kehlmanns dicklicher, schwankender, teigiger, infantiler Regisseur, der nicht will, was er will, nicht mit der Frau zusammenlebt, die er liebt, und nicht befürwortet, für was er offiziell einsteht und so einen innerlich gebrochenen Fürsprecher des eigenen Romans abgibt. Aber manchmal ist unterhaltsame Ratlosigkeit nicht das Schlechteste …


Knut Hamsun: „Hunger“

Über Fremd- und Selbstbeschimpfung einer misslungenen Emanzipation. Intensives, atemloses halluzinatorisches Abtauchen in städtische Mischwelten und Mischwesen und selbstauferlegter Selbstzerstörung.

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1890 erschien der Debütroman von Knut Hamsun, der 1920 den Literaturnobelpreis erhielt. Der Roman bricht mit den damals üblichen Erzählweisen und besticht vor allem in den traumartigen, sequenziellen Unzurechenbarkeiten eines herumstreunenden, arbeitslosen Schriftstellers, der halluziniert, imaginiert, in der Stadt herumläuft und von inneren Monologen geplagt wird. Seine Selbstverachtung und sein Selbstekel kennen hierbei keine Grenzen:

Ich sitze auf der Bank und denke über all dieses nach und bin ziemlich traurig. Es ekelte mich vor mir selbst; sogar meine Hände kommen mir widerlich vor. Dieser schlappe, schamlose Ausdruck auf meinem Handrücken peinigt mich, macht mir Unbehagen; ich fühle mich durch den Anblick meiner mageren Finger roh in Mitleidenschaft gezogen, ich hasse meinen ganzen schlottrigen Körper und schaudere bei dem Gedanken, ihn zu tragen, ihn um mich zu fühlen. Herrgott, wenn es doch nur ein Ende nehmen wollte!

Der Plot lässt sich schnell zusammenfassen. Ein Schriftsteller lebt in völliger Armut unter den Menschen, lässt sich treiben, hungert, um große Werke verfassen zu können, die er dann aber doch nicht schreibt. Er ist völlig angewiesen auf die Almosen seiner Mitmenschen, denen er sich dennoch in einer von Hass und Unterwürfigkeit, von Scham und Schande zerrütteten Existenzweise gegenüber wankelmütig und undankbar erweist. Sein Stolz und seine Eitelkeit stehen im Wege, die ihm angebotene Hilfe anzunehmen, wie ihm auch seine Fahrigkeit zum Verhängnis wird, wenn er sich um eine Stelle bewirbt. Er wirft alles durcheinander, Zahlen und Daten, und erwirbt sich mehr und mehr den Ruf eines Taugenichts, der nicht einmal seiner Wirtin bei einer einfachen Berechnung behilflich sein kann:

Als ich mich ein paar Minuten mit diesen Zahlen herumgetummelt hatte, fühlte ich leider, daß in meinem Kopf alles zu tanzen begann; ich machte keinen Unterschied mehr zwischen Soll und Haben, ich mischte das Ganze zusammen […] Von neuem versuchte ich mit diesem kleinen Rechenstück fertig zu werden, das ich vor einigen Monaten in einer Minute gelöst haben würde. Ich schwitzte stark und dachte aus allen Kräften über diese rätselvolle Zahl nach und blinzelte nachdenklich mit den Augen, als ob ich ganz scharf dieser Sache nachgrübelte; aber ich mußte es aufgeben. Diese fünf Lot Käse gaben mir den Rest; es war, als zerbräche etwas hinter meiner Stirne.

Hamsuns Roman stellt eine Flucht durch die Straßen dar. Atemlos, ringend, von Angst, von Eitelkeit, von Wahn gepeitscht wankt der Protagonist durch die Straßen, fühlt sich bedroht, falsch gesehen, falsch eingeschätzt, missverstanden und um sein Lebenswerk gebracht. Das Universum hat sich gegen ihn verschworen, und so vermag er nur von Hunger getrieben, bei halbem Verstand, nachdem er noch sein letztes Geld verschenkt hat, um eine kurze Genugtuung zu erlangen, die Menschen und den gesamten Kosmos zu beschimpfen und ewige Rache zu schwören:

Ich sage dir, du heiliger Baal des Himmels, du lebst nicht, aber wenn du lebtest, würde ich dir so fluchen, daß dein Himmel vom Feuer der Hölle erbeben würde. Ich sage dir, ich habe dir meine Dienste angeboten, und du hast sie abgewiesen, du hast mich verstoßen, und ich wende dir für ewig den Rücken, weil du die Stunde der Gnade nicht erkanntest. Ich sage dir, ich weiß, daß ich sterben muß, und ich spotte deiner trotzdem, mit dem Tod vor Augen, du himmlischer Apis. Du hast Gewalt gegen mich angewandt, und du weißt nicht, daß ich mich niemals dem Unglück beuge.

Aber er beugt sich, er verneigt sich, er bettelt, er lügt, er betrügt, er erniedrigt sich. „Hunger“ von Knut Hamsun beschreibt eine misslungene Emanzipation, ein in sich zerstrittenes Befreiungsunterfangen, eine Kehrseite der Medaille im künstlerischen Schaffensprozess, die sich gewaschen hat – eine Gottwerdung im halluzinatorischen Nichts einer selbstauferlegten Selbstzerstörung. Indem er die Kunst nicht idealisiert, monologisch Zeit und Raum zusammenfahren lässt, beschwört er eine Moderne, die gerade, im Jahre 1890, erst begonnen hat, eine der Selbst- und Publikumsbeschimpfung.


Jon Fosse: „ Der andere Name“

Das Bewusstsein im Moment kurz vor seinem Verlöschen, Erzählung ohne Erzählung, oder was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Eine literarische Katharsis.

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Eine der Begründungen für die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2023 an Jon Fosse lautet, dass Fosse dieser dem Unsagbaren eine Stimme verleihe. In seinen eigenen Aussagen führt er dies näher aus, nämlich als das Schreiben eines Erzählers, der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befindet:

„[…] bald sind wir dort, denke ich und ich gehe weiter und ich schaue auf den Hund, der sich seinen Weg durch den Schnee bahnt, und er scheint etwas müde geworden zu sein, er keucht schlimm, denn es ist ein kleiner Hund und er hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, also bleibe ich stehen und hebe den Hund auf und dann gehe ich weiter, den Hund auf dem Arm, und ich denke nichts und es schneit immer weiter und kein Mensch ist zu sehen und es schneit immer weiter […]“

Fosses Roman „Der andere Name“ gehört zu jenen Büchern, die fast gar keinen äußerlichen Plot besitzen. Er schrumpft auf das Minimale zusammen. Ein Maler bricht auf, um in der nächst größeren Stadt, Bergen, einkaufen zu gehen, kehrt zurück und begreift, dass er vergessen hat, nach einem Freund, ebenfalls Maler, zu sehen. Er fährt zurück, findet ihn besoffen im Schnee liegen und bringt ihn in eine Notfallstation. Er übernachtet in einem Hotel, findet aber keinen Schlaf, fährt zurück, spricht mit seinem Nachbarn und schläft endlich ein. Zwei Tage in einem punktlosen Monolog voller Erinnerung, Überlagerungen, voller Dialoge, innerer Gespräche, Ängste, Hoffnungen und Bilder voller Trauer:

„[…] man soll auf keinen Fall mit Schwarz malen, denn das sei keine Farbe, sagten sie, aber Schwarz, ja wie sollte ich meine Bilder malen, ohne Schwarz zu benutzen? Nein das begreife ich nicht, denn in der Dunkelheit wohnt Gott, ja Gott ist Dunkelheit, Gottes Dunkelheit, ja dieses Nichts, ja das leuchtet, ja aus Gottes Dunkelheit kommt das Licht, das unsichtbare Licht, denke ich […]“

Was Fosses Erzählweise in „Der andere Name“ auszeichnet, lässt sich als Parallaxenverschiebung beschreiben. Alle Figuren tauchen verspiegelt und gespiegelt auf. Der Ich-Erzähler Asle hat einen Freund namens Asle. Beide haben eine Schwester namens Alida. Der Ich-Erzähler hat eine Affäre mit einer Frau namens Silje, die sich aber als Guro vorstellt, so heißt aber auch die Schwester Åsleiks, sein Nachbar. In dem Spiegelkabinett stehen nur der Nachbar Åsleiks, als bodenstämmiger Seemann, und der Hund Bragi als Fixpunkte. Sie geben dem Ich-Erzähler halt. Alles andere verschwimmt, geht ineinander über, wird unerkennbar identisch, als Grau in Grau:

„[…] da sind auch so viele Graufarben, für die es keinen Namen gibt, und Die Schwester sagt ja und er hält ihre Hand fest, man könnte fast Angst bekommen, dass es so viele Graufarben gibt und so viele Tönungen der anderen Farben, man sagt Blau, einfach nur Blau, aber dann gibt es sicher tausend verschiedene Blaufarben, tausend, mindestens tausend, nein es sind zu viele, man kann sie gar nicht zählen, denkt Asle […]“

Namen reichen nicht aus. Die Individuen, die einzigartigen Erscheinungen lassen sich nicht zählen und nicht erzählen. Eine tiefe Sprachscheu breitet sich durch den Text aus. Nichts darf benannt werden, denn der bloße Versuch nährt die Hoffnung, etwas wie Schmerz, wie Trauer, etwas wie Verlust könnte beschrieben werden. Adjektivlos, fast detaillos gleitet der Text über einen gähnenden schwarzen Abgrund, den Tod, das Ende aller Dinge. Fosses „Der andere Name“ nimmt einen auf diese Reise mit, ein Höllenritt. Alles ist Angst. Alles ist Schmerz, Verlust, und die Sprache vermag nichts. Weder zu trösten noch zu erklären noch einzubetten. Nur die Wiederholung, die Litanei, das Verdrängen der sichtbaren Welt tröstet, das totale Versinken im kosmischen Schwarz, in welchem alles wieder eins wird.

Verwandt mit Samuel Becketts „Der Namenlose“, durchdrungen in Assonanz und Motivik mit Knut Hamuns „Hunger“, schwarz und rauschend wie Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten und Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ und gerahmt von einem Mystizismus eines Meister Eckharts und dessen Predigen umkreist Jon Fosse eine urverdrängte Simplizität: das Bewusstsein und die Antizipation seines Verlöschens und die ungerechtfertige Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Danach.


Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“

So entrückt und empathielos wie ein Fels in der Brandung. Ein Buch für alle und niemanden, das als Roman nicht überzeugt, nur stellenweise mit geschliffener Sprache glänzen kann.

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Literaturnobelpreisträger von 1961, Ivo Andrić hat mit „Die Brücke über die Drina“ einen Roman sowie eine Chronik über Višegrad geschrieben. Schon auf dem Titelblatt konfligieren also zwei Ansprüche, zwei Erzählweisen: Die detailgenaue Chronik über eine Stadt, die keine Rücksicht auf Längen, Langeweile und Lektüreerwartungen nehmen kann; und der Roman, der erzählen, verdichten, zusammenfassen möchte, so dass das Vergangene wieder lebendig vor Augen gestellt wird. Wo sich aber zwei streiten, freut sich nicht immer ein Dritter:

Die Kinder wurden eingemauert, denn es konnte nicht anders sein. Aber der Baumeister – so sagt man – empfand Mitleid und ließ in dem Pfeiler Öffnungen, durch die die unglückliche Mutter ihre geopferten Kinder stillen konnte. Das sind die schön ausgehauenen blinden Fenster, eng wie Schießscharten, in denen jetzt die Wildtauben nisten.

Geprägt wird der Stil von „Die Brücke über die Drina“ von einem auktorialen Erzähler, der über den Dingen schwebt, weit seine Kreise zieht und nur manchmal, überraschend und scheinbar auch willkürlich, in vereinzelte Figuren hinabstürzt und aus deren Innenleben berichtet. Die überhöhte Distanz, die keinem Chronisten entspricht, da aus der Höhe und Entfernung des Erzählstandpunktes Details verloren gehen und unwichtig werden, ja, ein Allgemein-Menschliches durch den Abstraktionsgrad scheinbar, und zwar aus Ermangelung an Nähe und Empathie, erzwungen wird, führt zu vielen phraseologischen Wendungen und Klischees:

[…] Denn eine liebende Frau liebt, auch wenn sie völlig enttäuscht wurde, ihre Liebe, als sei sie ein Kind, das ihr vom Schicksal nicht bestimmt wurde.

[…] Jener Rausch der nächtlichen Schönheit und Größe der Welt, den sie noch eben verspürt, erlischt kraß. Jenes üppige Atmen der Erde hört auf. Die Brüste des Mädchens erstarren in einem leichten Krampf. Die Sterne und die Weiten versinken. Nur das Schicksal, ihr Schicksal, ausweglos, jäh, morgig, erfüllt und vollzieht sich, gleichzeitig mit der verrinnenden Zeit, in der Stille der Reglosigkeit und Leere, die hinter allem bleibt.

Die Erzählinstanz von Andrić liebt die Verallgemeinerung, das Schicksal, die Natur, das Blut, die gottgewollte Ordnung und besingt sie melancholisch durch die Zeiten, vom 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Ein starker Strom drang aus der sommerlichen Erde in die tanzenden Füße und verbreitete sich durch die Kette heißer Hände; an dieser Kette zitterte der Kolo [die tanzenden Jungen und Mädchen] wie ein einheitliches Lebewesen, erhitzt vom gleichen Blut und getragen vom gleichen Rhythmus.

Die Brücke gilt als das verbindende Element, das die osmanische Herrschaft der serbischen und bosnischen Bevölkerung der Stadt hinterlassen hat. Die Mischung aus Chronik und Erzählung verliert sich zunehmend im Ungefähren, denn politische, militärische, wissenschaftliche, architektonische Hintergründe tauchen so gut wie gar nicht auf. Andrić geht es um das Zwischenmenschliche in der kulturell-sanktionierten Einheit. Das Individuelle trennt. Das Kulturelle bindet.

[Die Vagabunten] sind ein ewiges und uneingestandenes Bedürfnis der Städter, deren Geistesleben eingeengt und verzerrt ist. Solche Männer und Frauen, Sänger, Spaßmacher, Sonderlinge und Possenreißer gibt es immer in der Stadt. Verschwindet einer von ihnen und stirbt, dann löst ihn ein anderer ab, denn neben den Bekannten und Berühmten entwickeln sich und wachsen neue heran, die neuen Generationen die Zeit verkürzen und das Leben froh machen.

Auf Details wird kaum eingegangen, und wenn, dann verkürzt, fast hektisch. Auf diese Weise geht der narrative Zusammenhang verloren, was aber eindrücklich entsteht und vor Augen geführt wird, ist die Brücke als identitätsstiftender Zusammenhang, von dem der Roman singt und handelt. Es geht um die Einheit, den Zusammenhalt, der nur auf Kosten der einzelnen und des Einzelnen zustande gebracht werden kann. Erzähltechnisch handelt es sich bei dem Roman von Ivo Andrić eher um eine Hymne, um eine narrativ eingeholte symbolische Geste, eben um ein Nationalepos, das sich so jeder ästhetischen Bewertung entzieht, als Roman jedoch nicht überzeugt, nur hier und da kurz mit seiner geschliffenen Sprache glänzen kann.


Carl Einstein: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“

Ein an sich selbst irre gewordener Humanismus. Ein Dokument. Kein Roman.

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Bebuquin“ von Carl Einstein erschien 1912. Sein von ihm als Roman bezeichneter Text gilt als ein Wegbereiter für die Moderne, für den Surrealismus und den Dadaismus, als bahnbrechend für alogische, akausale, also absolute Prosa. Er gilt auch als ziemlich unlesbar.

Fräulein Euphemia bat die Herren, mit ihrem Geist rationeller umzugehen, und sie wolle gern ein Ball-Lokal besuchen. Die beiden nickten und stampften die Holztreppe hinunter. Euphemia holte einen Abendmantel, und Nebukadnezar ergriff ein Sprachrohr und bellte in die sich breit aufrollende Milchstrasse: »Ich suche das Wunder.« Der Schosshund Euphemias fiel aus dem Sprachrohr; Euphemia kehrte angenehm lächelnd zurück.

Kaum Texte reduzieren ihre eigene Logik so sehr auf die szenische Gestaltung und die formalen Aspekte wie Einsteins „Bebuquin“. Mit anderen Worten, Einsteins Text markiert so etwas wie den Grenzwert des Verzichtes auf Inhalt, welcher bis aufs Dünnste kondensiert aus folgendem Plot besteht: Giorgio Bebuquin, Nebukadnezar Böhm und Euphemia befinden sich in einer Ménage-à-trois und machen das großstädtische Nachtleben unsicher. Euphemia bringt einen Sohn namens Emil zur Welt, für den sich Böhm verantwortlich fühlt. Unzufrieden sowohl mit Böhm wie mit Bebuquin geht Euphemia, die Schauspielerin, nach einem missglückten Heiratsantrag von Bebuquin ins Kloster. Bebuquin und Böhm folgen ihr. Sie kehren schließlich allesamt und ungeläutert zurück. Euphemia fordert von Bebuquin Seriosität, der aber beerdigt lieber sein alter Ego Böhm, legt sich hin und stirbt.

Bebuquin schlief ruhig ein, fuhr im Schlaf einigemal mit den Händen empor; sein Gesicht lag allmählich wie im Krampf, die Haut faltete sich und umrunzelte den ganzen Schädel. Ruckweise öffneten sich auf Sekunden seine Lider, er zog Finger und Zehen sich spreizend in die Länge, dann ging er eng zusammen und zitterte heftig. Gegen Morgen wachte er auf, war unfähig zu reden und konnte nicht mehr allein essen. Nur einmal schaute er kühl drein und sagte: Aus.

Szenisch wirr, dialogisch konfus, ohne klare Beobachterposition schaukelt der Text zwischen Montage, Traum, Groteske und theatraler Dialogform hin und her und ergeht sich in philosophische Spekulation über Tod, Logik, Vernunft und Kunst und entspricht so einem aus der Art geschlagenen Theseroman. Was sich bei Einstein ungemindert ausdrückt, lässt sich nur als Parodie auf Hermetik, Absolutheitsansprüche und eine Form von l’art-pour-l’art verstehen, die die Körper- und Erfahrungslosigkeit, die Entwurzelung, Verzweiflung im Freischwebend-Artistischen der wirklichkeitsentfremdeten Dekadenzliteratur anprangert:

Der Schrecken des Farbenwechsels der übergehenden Zeiten machte sie stumm. Die Nacht, welche die vom Licht übergrellten Gesichte liebt, starb in den Tag hinein. Man fühlte, man müsse die Nächte zu einem ernsten Training benutzen, denn [Bebuquin, Böhm und Euphemia] wollten um jeden Preis Visionäre werden, ganz unmenschlich sein. Sie waren ihres Körpers und seiner Formen unabweislich müde geworden und spürten, dass sie sich verzerren müssten.

In späterer Form schrieb Carl Einstein das Fragment gebliebene Pamphlet „Fabrikation der Fiktionen“ als Intellektuellenschelte. „Bebuquin“, oft missverstanden, stellt bereits eine solche dar. Sie trinken, fummeln, saufen und grölen, philosophieren und begrapschen die Nächte hindurch, nur um immer wieder im Morgengrauen, wenn der Alkohol seine Wirkung verliert und der Selbstekel anwächst, von der Erlösung durch die Religion und das Kloster zu faseln, fabeln und fantasieren. Böhm und Bebuquin, zwei Seiten der Medaille, finden nicht zusammen, auch nicht durch die Versöhnung versprechenden mystischen Liebe zu Euphemia, die von beiden gleichermaßen enttäuscht bleibt.

In „Bebuquin“ taucht unverhohlen die vollendete Tristesse eines Avantgardismus auf, der nicht auf eigenen Beinen zu stehen vermag, der stets den Ast absägt, auf dem er sitzt, und lediglich über die Leere des eigenen Lebens zu jammern und in Selbstbezüglichkeit zu ersticken vermag. Ein trister, noch immer aktueller Text, der vor vielen expressionistischen, nouveau roman, postmodernen und popliterarischen Werken den Vorzug besitzt, grundweg ehrlich, direkt und nicht den Hauch eines Sinnes als die Langeweile, den Ennui und die Unlust an der eigenen Dekadenz enthält, und wie diese mehr Dokument als Literatur darstellt.


Ulrike Sterblich: „Drifter“

Kurzweiliges Panorama über das Mögliche und Unmögliche, das Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche im postmodernen Großstadtleben. Surrealistisch konstruktiv Verwirrung stiften.

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Ungebremste Fabulierlust besitzt Seltenheitswert. Nur wenige trauen sich, einfach drauflos zu erzählen. Nur wenige lassen die Zügel schießen und geben ihren jeweiligen, sich ergebenden, spontan erscheinenden Einfällen nach. Nur wenige vertrauen ihrer Erzähl- und Wortschmiede- und Kompositionskunst so sehr, dass sie Plot, Bedeutung und Realismus gänzlich hinter sich lassen können, um sich ihrer Phantasie und Narration rückhaltlos hinzugeben. Ulrike Sterblich gehört, zumindest nach ihrem Roman Drifter, dazu.

«Keine Ahnung, kann ich nichts zu sagen.»
Nee, klar. Konnte [der Buchhändler] nichts zu sagen, was sollte er denn auch wissen? Von dem Buch, dem Hund, der Frau, von den Pferden, dem Gewitter und dem Blitz, der meinen besten Freund über die Rennbahn geschleudert, ihm die Haare versengt und sich auf seiner Haut eingebrannt hatte. Er wusste nur, was sein Computer ihm sagte, und der Computer sagte: Nein.

Sterblichs Ich-Erzähler heißt Wenzel Zahn, und dieser ist völlig außer sich. Sein Lieblingsautor, K:B Drifter, hat ein neues Buch herausgebracht, ohne dass er davon erfahren hätte. Es heißt „Elektrokröte“, und er hat es in den Händen einer geheimnisvollen Frau gesehen, die in der S-Bahn saß, ein goldenes Kleid trug und einen Zottelhund mit sich führte. Zu allem Überfluss verabschiedete sich die Frau mit einem in die Luft gemalten Blitz, der wenig später seinen besten Freund Marco Killmann, genannt Killer, trifft. Nach dieser Begegnung und dem Blitz ändert sich das Leben der besten Freunde schlagartig:

«Ja, Drifter. Elektrokröte. Das war der Titel des Buches. In der S-Bahn hatte ich eine Frau damit gesehen, Vica heißt sie, inzwischen arbeite ich für sie bei LosVideos, aber das Buch gibt es nicht, und sie tut so, als hätte sie damit nichts zu tun. Mein bester Freund, Killer, er wohnt jetzt [nachdem er seinen hochbezahlten Job aufgegeben hat] wieder in diesem Haus, in dieser Wohnsiedlung, wo wir herkommen, und Vica hat dort plötzlich lauter Wohnungen, sie hat sich da eingenistet, wie eine Fledermaus.»

Drifter von Sterblich zeichnet keine besondere Story aus. Ihre Story bleibt die geheimnisumwitterte Vica, deren Namen an Wicca erinnert, die Religion der Hexen. Vica bleibt im Hintergrund, taucht auf, wann sie will, tut, was sie will, entzieht sich jeder Logik, jeder Kausalität und spielt auf der Klaviatur der Weltmächte, dem Finanzwesen, den sozialen Medien, den Immobiliengeschäften. Vica erscheint wie ein Mephistopheles. Sie agiert ohne Agenda und provoziert Veränderung, Neuerung, innere wie äußere magische wie kryptologische Transzendenz:

Das Licht wurde gedämmt, ein Vorhang öffnete sich, und ein Kegelscheinwerfer erleuchtete eine Bühne. Im Scheinwerferlicht stand Vica. Sie trug ihr goldenes Kleid und sprach in ein großes Gesangsmikrofon, das nostalgisch, aber auch nach Hightech aussah: «Verehrteste Gäste. Ich freue mich außerordentlich über Ihr gut gekleidetes Erscheinen zu unserem ganz unbescheidenen Fest. Wir feiern damit die Eröffnung des Malabene&Friends Syndikat für Halbwahrheit und Trüffelzucht hier im Ranunkelring Nummer zweiundneunzig.»

In wohlgeformten Sätzen, schnell, auf den Punkt, witzig und viel Leichtigkeit gestaltet „Drifter“ ein besonderes, symbolisch-geschlossenes Panorama. Wer Genaues wissen will, liegt hier falsch. Es geht um die Zwischentöne, die Dissonanzen, die sich verbinden, das wortfeile Aufeinander-Beziehen von Allegorien, die verspielte Mosaike permutieren, die synchrone Erarbeitungen von Möglichkeiten, den Alltag umzugestalten, mentale Prozesse neu zu entfachen und Liebe wie Freundschaft im Spiel eines kosmopolitischen, multiperspektivischen Universums mit operettenhaften Jokern zu stiften. Drifter von Ulrike Sterblich schafft dies. Sie erzählt um des Erzählen willens und steht in der Tradition des surrealistischen, absoluten, absurden Romans wie Carl Einstein „Bebuquin“, André Bretons „Amour fou“, sein „Nadja“ oder Raymond Queneaus „Zazie in der der Métro“,nicht zu sprechen in der Gegenwartsliteratur von Leona Stahlmanns Diese ganzen belanglosen Wunder.

Ihre Raben begleitete Vica verhext den Text und versinnlicht Sinn. Literatur zum Entspannen und Weiterträumen.


Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Stilistisch unterfordernd, inhaltlich unzusammenhängend, kompositorisch unentschieden erlaubt Toni Schachingers Roman „Echtzeitalter“ ein geradezu atemberaubendes Lesetempo, das jeden Sinn und Zusammenhang mit Leichtigkeit abschüttelt.

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Zur Schule zu gehen, heißt, mit Themen, Probleme konfrontiert zu werden, die überhaupt nicht im Interessenhorizont existieren. Die Klasse sitzt da und lauscht über Robert Musil, Anna Seghers, über Robert Walser und Adalbert Stifter. Sie muss André Gides „Die Falschmünzer“ lesen, wobei sich einzelne in Gedanken mit Computerspielen, Rauchen, Sex und Partys und Drogen beschäftigen. Till Kokorda, der Protagonist aus Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“ gehört dazu:

[…] Till lauscht mit gebührender Langeweile, wie der [Klassenlehrer] Dolinar einige seiner Klassiker wiederholt, über das Verhältnis von Kirtagen und Hintern und darüber, dass es nicht reicht, manchmal hier zu sein, dass es notwendig ist, hier und nur hier zu sein, nicht im Park, nicht in anderen Klassen, nicht bei irgendwelchen Ablenkungen, sondern: «Hier, hier, hier … Verstehst du, was ich sage, Kokorda?»
Till blickt auf.
«Das glaube ich nicht! Sonst würdest ned nach irgendan Schas schreiben über irgendein deppertes Videospiel.»

Wie die Themen in der Schule kunterbunt, ungeordnet auf die Schülerschaft fliegen, wie keine Verbindungen zwischen Französisch, Chemie, Russisch, Sport und Informatik gezogen werden, genauso Potpourri-mäßig plätschert Schachingers „Echtzeitalter“ vor sich hin. Die Themen spielen keine Rolle. Wie auch? Der Protagonist weiß nicht, was er fühlt, wie er in Verbindung zu irgendetwas in der Welt steht, wer er ist, was er sein will, was er möchte. Ihm bleibt nichts übrig, als vor sich hinzudümpeln und mit seiner Freundin Feli Computer zu spielen:

„Till fängt ein Pferd. Feli tauft es Zelda. Till fragt, ob das nicht verwirrend ist, wenn die Prinzessin im Spiel auch so heißt. Feli sagt Nein. Feli ist beeindruckt davon, was Till alles machen kann, obwohl Till kein besonders guter Zelda-Spieler ist. Sie findet, dass Till lässig spielt. Einmal allerdings zu lässig, denn während Till auf Zelda reitet, wird er von einem Wächter getroffen, und Zelda fällt um und bleibt reglos liegen. Feli weint. Sie sagt: «Das ist genauso wie mit dem Pony damals!»“

Schachingers Schreibstil besitzt Chat-, Twitter- oder Twitch-Charakter. Kurz und bündig, so kurz und so bündig, dass das eher einem Morse-Code entspricht, der fast in Lichtgeschwindigkeit gelesen werden kann. Die Worte rattern an einem vorbei. Sie hinterlassen nichts: Subjekt-Prädikat-Objekt; Subjekt-Prädikat-Objekt ohne Konsistenz und Kohärenz, denn der Ich-Erzähler besitzt keine und so kann diese auch nicht dargestellt werden:

Überhaupt ist es schwer, zu wissen, was man genau fühlt, weil es ja nicht nur einfache Gefühle wie Traurigkeit und Wut und Erleichterung gibt, sondern all die Gefühle, die man zwar spürt, aber nicht in Worte fassen kann, all die Mini-Gefühle, die an vergangene Erfahrungen anknüpfen, an Muster, auf die man als Kind oft draufgeschaut hat oder Gerüche bestimmter Putz- oder Waschmittel.

Komposition: Fehlanzeige. Die Dinge reihen sich aneinander, unbestimmt, beliebig. Themen durchdringen sich nicht, laufen eher parallel nebeneinander her. Viele Figuren besitzen nicht einmal ein Äußeres wie das Schulgebäude keine Dreidimensionalität besitzt oder einen genauer bestimmt Ort erhält, außer dass es Steinlöwen vor dem Eingang hat, die bespuckt werden können. Typische Konjunktivformen werden im Indikativ gesetzt. Alles bleibt im Präsenz, doch wird es zeitlich dennoch beliebig rasch oder langgezogen.

Besonders auffällig und stilprägend für Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“ bleibt das Wort „nicht“, das laut meinem E-Reader 1182 mal vorkommt, fast so oft wie „Till“ nämlich 1308. Nehme ich auch „kein“ hinzu, 289 mal, dann finde ich in dem Text mehr Verneinungen als Verweise auf die Hauptfigur, und das ist stimmig. „Echtzeitalter“ weiß nicht, was es will, wo es steht, was es von sich und der Welt hält, was es fühlt, sich wünscht. Alles ist so kompliziert, schnell und ändert sich. Alles, was ist, ist nur Ersatz, für das, was nicht ist. Was das aber ist, bleibt unklar, und so verpufft ein Text bereits im Moment seines Lesens und verschwimmt, so plötzlich, wie er aufgetaucht ist, im Buchstabenmeer des Vergessens.


Stendhal: „Rot und Schwarz“

Die Überfülle des Allegorischen.

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Stendhals Roman „Rot und Schwarz“ lebt vom Interesse am Zwischenmenschlichen. Er lebt nicht von einem sich absolut setzenden Individualismus, von einer Romantik des Hier und Jetzt einzig gültigen Sentimentalen. Im Gegenteil, er taucht ab in den Diskurs, ins Salongespräch, ins verwobene Miteinander eines Paris und Frankreichs der Restaurationszeit um 1830.

Nach der Rede des Bischofs und den Erwiderungsworten des Königs trat Seine Majestät unter den Thronhimmel und kniete andachtsvoll auf einem Kissen nahe dem Altar nieder. Rings im Chor standen Lehnstühle, zwei Stufen über den Steinfliesen. Auf der untersten Stufe nahm Julian Platz, zu Chélans Füßen, wie in der Sixtinischen Kapelle in Rom die Schleppenträger der Kardinale. Das Tedeum begann. Qualmende Weihrauchfässer wurden geschwenkt. Und draußen donnerten schier endlose Kanonen- und Flintenschüsse. Die Bauern waren trunken vor Frömmigkeit und Überschwang.

Der Protagonist von „Rot und Schwarz“ heißt Julien Sorel (in manchen Übersetzungen Julian), ein Sägemüllersohn aus der Provinz, der mit seinem Dasein als Holzhändler sprichwörtlich auf dem Kriegsfuß steht. Geschult von seinen Lektüren über Napoleon sieht er sein Leben, seine Welt, seine Laufbahn als eine Art Schlacht an, in der er sich zu beweisen sucht. Das Ziel steht im klar vor Augen: Kriegsheld oder Bischof, weshalb manche den Titel „Rot und Schwarz“ mit dem Militär und dem Klerus als Wappenfarben in Verbindung bringen. Aus dem Text lässt sich diese Deutung jedoch nicht bekräftigen, zumal die Farben des Klerus in der Geschichte wechseln. Im Rot und Schwarz geht es um Zufall und dessen Abwesenheit in der damals modernen Zeit:

Damals waren die Menschen noch nicht Mumien, noch nicht alle in eine ewig gleiche Schale eingezwängt. Damals gehörte mehr Mut dazu, um elf Uhr abends aus dem Palast Soissons, wo Katharina von Medici wohnte, hinauszugehen, als heutzutage eine Reise nach Timbuktu zu unternehmen. Damals war das Leben eines Mannes eine Kette von Zufällen. Jetzt hat die Zivilisation den Zufall verjagt. Es gibt nichts Unverhofftes mehr. In der Ideenwelt verspottet man es. Wo im wirklichen Leben Zufälle auftauchen, entstehen Paniken. Jede Feigheit, jede Torheit, angesichts eines Zufalles begangen, findet Entschuldigung. Das ist die entartete langweilige moderne Zeit!

Vor diesem Hintergrund erscheint „Rot“ und „Schwarz“ auf das Glücksspiel Roulette zu verweisen, mit welchem viele ihrem Leben einen gewissen Kick zu geben versuchen. Gegen die Tristesse der Provinz, gegen das unsägliche Mühen und Schuften, Sparen und Mausern, gegen das Abgefeimte des Salons, die Sicherheit des Adels, die vorhersehbaren Laufbahnen der hohen Töchter und Söhne, gegen das Entfernte, Entfremdete begehren die Figuren von „Rot und Schwarz“ innerlich, mit sich im Unreinen verbleibend, auf. Ihre Rebellion verpufft im Meinungsdschungel ihrer je sie umgebenden Gegenwart. Sie streben große Gesten an. Selbst ein Todesurteil wirkt plötzlich attraktiv:

»Ich sehe, nur ein Todesurteil zeichnet einen Mann wirklich aus«, dachte Mathilde. »Das ist das einzige, was sich nicht kaufen läßt. Übrigens eine gute Bemerkung, die ich mir da eben sage! Schade, daß sie mir nicht in einem Augenblick einfiel, wo ich damit hätte glänzen können!« Mathilde hatte zu viel Geschmack, um ein zurechtgemachtes Bonmot in ihre Plauderei einzuflechten, aber sie war zu eitel, um über ihren Einfall nicht entzückt zu sein.

In „Rot und Schwarz“ prallen Welten aufeinander, die zusammen ein explosives Gemisch erzeugen wollen, aber jäh in vereinzelter Armseligkeit enden. Niemand findet zum anderen. Alle bleiben sich fremd. Sie reden und reden in Bonmots. Sie diskutieren und diskutieren um den heißen Brei herum. Sie verausgaben sich, aber letztlich für nichts als für die Geste, die Repräsentation, für das Bild einer heroischen Tat. In dem Wirrwarr verblasst das gute Leben. Das Leben selbst verliert an Wert.

Das Sittengemälde intensiviert sich von Zeile zu Zeile. Atemlos jagt eine Episode die nächste, was aber bleibt, das ist die Leere des sich nicht wählenden, des sich nicht bejahenden, des unaufrichtigen Individuums. Julien Sorel verpasst sein Leben durch sein Bemühen, es nicht zu verpassen. Ein Don Quijote des 19. Jahrhunderts, eine Vorwegnahme von Diederich Heßling aus Heinrich Manns „Der Untertan“, ein Felix Krull aus Thomas Manns gleichnamigen Roman, ein Paul Riesling aus Sinclair Lewis‘ „Babbitt“.

Rot und Schwarz“ nimmt so viel Psychologisches vorweg, fasst so viel Erfahrenes zusammen und strotzt vor Überfülle und Erzähllust, das eine wie auch immer geartete Bewertung völlig überflüssig erscheint.


Terézia Mora: „Muna“

An der Erzählperspektive gebrochener Masochismus, der die Handlung unter einer Glasglocke ersticken lässt.

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Der Roman Muna von Terézia Mora besitzt als Rahmen eine absolute, selbstbezogene Form von Liebe. Muna, die Protagonistin, liebt Magnus bedingungslos, obwohl dieser ihr die meiste Zeit über, die der Roman von Leben Munas abdeckt, über 20 Jahre, die kalte Schulter zeigt. Sie will Kontakt. Sie sucht seine Nähe. Sie gibt alles für ihn auf. Hauptsache sie ist in seiner Nähe. Sie erträgt alles, denn er ist schön. Das ist alles, was sie am Anfang von ihm weiß, aber es ist genug, um ihn ein halbes Leben zu verfolgen:

Danke!, rief ich und stürmte an ihm vorbei, fiel durch die Tür ins Zimmer mit dem großen Tisch und den Regalen, wer im Raum war, schreckte hoch. So sah ich ihn zum ersten Mal, sich irritiert nach mir umdrehend: den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.

Muna kennt ihn nicht. Es ist Magnus, und es ist das Jahr 1989 in Jüris, einer kleinen Stadt in der Nähe von Magdeburg, einer Stadt eines Staates, den es bald nicht mehr geben wird, die DDR. Magnus‘ Schönheit überwältigt Muna derart, dass sie nicht aufhören kann, an ihn zu denken, und dies, obwohl er bald für Jahre aus ihrem Leben verschwindet. Magnus An- und Abwesenheit bestimmt fortan ihr junges Leben. Sie ist achtzehn. Er ist bereits Lehrer, möchte aber an die Universität. Als die innerdeutschen Grenzen sich lockern, flieht er, aber nicht ohne mit Muna vorher geschlafen zu haben:

Du kannst nicht gehen, du kannst nicht gehen! Wie kannst du mich entjungfern und dann einfach gehen? Ich kralle mir irgendwelche Klamotten (heule ich etwa schon wieder?), poltere in Hausschuhen die Treppen hinunter, aus dem Tor, hinaus auf die Straße, da ist er, er ist noch nicht weit gekommen. Das ungeduldige, genervte Gesicht, das ich aus der Redaktion kenne. Was soll das? Es sind Leute auf der Straße. […] Geh wieder rein. Es sind doch nur drei Wochen.

Aus drei Wochen werden Jahre, aber sie treffen sich wieder. Ein Auf und Ab beginnt. Es hört nicht auf. Magnus bleibt der bestimmende Faktor in Munas Leben. Sie hängt sich an ihn. Sie gibt alles auf, fragt nicht, duldet alles, was er mit ihr anfängt, erträgt Misshandlungen, erträgt Zurückweisungen, Beleidigungen, erträgt das Würgen, die Drohungen, das Eingesperrt-Werden, sinkt auf die Knie und betet ihn an. Terézia Moras Roman Muna lässt sich als Drogenroman deuten. Wie in Heroin Chic von Maria Kjos Fonn die Protagonistin nicht vom Heroin die Finger lassen kann, vermag Muna nicht Magnus aus ihrem Leben zu verbannen, obwohl er es ihr so leicht wie nur möglich macht. Die Gewalt geht von ihm aus, aber die Bestrebung, zusammenzubleiben von ihr:

Dass er’s doch gewusst habe. In dem Moment, wo ich ins Frühstück reingelatscht kam. Hatten wir nicht besprochen, dass ich nicht herkommen und ihm auf die Pelle rücken und ihn ablenken und in unangenehme Situationen bringen würde? Und, was habe ich getan? Natürlich genau das! Jetzt wissen alle, dass er eine gewöhnliche und großmäulige Freundin hat, die sich entweder an jeden ranschmeißt oder sich mit jedem anlegt, aber sonst nichts Relevanz zu irgendetwas beizutragen hat! Er hat genug von diesem Zirkus! Ich soll zusehen, dass ich mich verpisse, er will mich hier nicht mehr sehen!

Aber sie geht nicht. Sie will nicht gehen. Sie erträgt lieber die Gewalt, als ihn gehen zu lassen. Problematisch an Muna wird die Ich-Perspektive, die einen psychologischen Hintergrund andeutet, diesen aber nicht einlösen kann. Kjos Fonn löst diese Problematik, indem sie Elise in Heroin Chic die Drogen bejahen, ersehnen, mit vollem Bewusstsein und Verantwortung nehmen lässt. Es geht Elise um die Drogen, nichts als um diese, aber Muna geht es in Terézia Moras neuem Roman um Liebe, nicht ums Geschlagen-Werden. Sie wünscht sich Kinder, eine heile Welt, eine Schutzzone. Sie will gesehen, beachtet, gehört werden, und das von einem Mann, der sie schlägt, einsperrt und zu töten droht. Aus der Ich-Perspektive betrachtet lässt sich diese Ambiguität nicht lösen. Sie bekommt nicht, was sie will und will es trotzdem weiter, und dies nur, weil Magnus schön ist.

Vieles an Muna könnte auch an Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin erinnern. Doch hier löst Jelinek das Problem mit einer distanzierten, auktorialen Perspektive – vermeidet bewusst das Ich als Handlungsträger, verobjektivert Erika Kohut in der narrativen dritten Person, um die Handlung für sich selbst sprechen zu lassen. In Muna aber spricht die Protagonistin, und ausschließlich sie, ohne sich an irgendeiner Stelle verständlich machen zu können. Sie spricht ins Leere, ins Defokussierte, ins Beliebige, und so zerschellt und zerspringt die Narration in Tausend Stücke und hinterlässt nichts als Irritation und Fremdheit und Unwohlsein, auf seltsame Art gefoppt worden zu sein.


Manfred Frank: „Die Unhintergehbarkeit von Individualität“

Potpourri aus Vorlesungsmitschriften ohne eigene Position, eigene Meinung.

Manfred Franks „Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung.“ wird oft viel zitiert, bspw. von Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann. Sein 1986 erschienener Text argumentiert gegen den Versuch, poststrukturalistische Sprachphilosophien und Dekonstruktionsmethoden als Lösung klassischer Hermeneutik- und Reflexionsparadoxien zu betrachten. Laut Frank weichen diese Theorien der grundlegenden Frage aus und fallen einer ungebremsten Entfremdung anheim:

Aus der Einsicht, dass die Individualitätsvergessenheit der exakten Wissenschaften und der sie ins Werk setzenden Technik dem idealistischen Subjektivismus nur in letzter Konsequenz die Treue hält, begründet sie einen »theoretischen Antihumanismus«. Damit scheint die äußerste Spirale der Entfremdung erreicht. Statt unter dem Korsett einer totalitär gewordenen »Rationalität« ein gequältes und verstummtes Subjekt zu gewahren, gibt sie es endgültig auf.

Nach der Einleitung seines Textes lässt sich ein Plädoyer für dieses gequälte und verstummte Subjekt erwarten. Was aber auf die Emphase am Anfang folgt, lässt sich als ein Potpourri aus Vorlesungsmitschriften verstehen. Frank, seines Zeichen Philosophieprofessor in Tübingen, rekonstruiert lediglich, zumindest belegt mit Zitaten, die Philosophien eines Jean-Paul Sartre, Bertrand Russell, eines William James und Dieter Henrich, um schließlich über Peter Strawson, Ernst Tugendhat zu Ludwig Wittgenstein und zurück zu Gottfried Wilhelm Leibniz und dann Friedrich Schleiermacher zu gelangen. Manfred Frank bietet also in seinem Buch eine Zusammenfassung diverser Philosophien unter dem Aspekt des „Ich“ und des „Subjekts“ und der offenkundigen Vertrautheit des Bewusstseins mit seinem Ich:

Aus dem gleichen Grunde [jede Schau setzt ein Geschautes voraus] kann Bewusstsein auch nicht als Gegenstand eines ‚Wissen‘ betrachtet werden, denn jedes Wissen erschließt etwas als etwas (im Lichte dieses oder jenes Begriffs); das Selbst ist aber unmittelbar mit sich bekannt.

Frank setzt diese Selbstbekanntheit und spielt die Theorien gegeneinander aus, ohne seinen Ansatz zu motivieren, zu plausibilisieren. „Die Unhintergehbarkeit von Individualität“ bleibt deshalb auf dem Charakter eines Sekundärtextes reduziert – eine Sammlung von möglichen Meinungen zum Subjektbegriff unter der Annahme, dass jedes Ich mit seinem Selbst vertraut ist. Am Ende bleibt es beim guten alten Schleiermacher:

Während die strukturalistische ebenso wie die strukturalistische ebenso wie die analytische Sprachphilosophie von der These der gleichsinnigen und gleichförmigen Wiederholbarkeit von Sprachzeichen ausgeht, hält die (Schleiermachersche) Hermeneutik das Individuelle für im eigentlichen Sinne unteilbar und mithin unmitteilbar (»unsharable« sagen die Angelsachsen, beide Bedeutungen zusammengreifend).

Hiermit aber bleibt Franks Buch Aussage-gegen-Aussage und wenig dynamisch in die Diskussion eingreifend. Er stellt seine eigenen Position nicht in Frage. Er exponiert sie und führt andere aufgrund seiner Begriffssetzung mehr oder weniger gelungen vor. Bis auf interessante Lektüretipps bleibt nicht viel vom Franks Text übrig.  


Necati Öziri: „Vatermal“

Anti-Literatur als Literatur verpackt. Ein Schelmenroman auf Abwegen.

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Schreiben dient oft zur Selbstfindung. Tagebuch schreiben, Briefe schreiben, Notizen, kleine Aphorismen und Zusammenfassungen zusammentragen, um dem alltäglichen Chaos, das Auf und Ab, die Gefühlswallungen, Assoziationen einzudämmen, die möglicherweise durchs Bewusstsein branden, und durch Necati Öziris Ich-Erzähler Arda geht eine ganze Menge. Es brennt. Es flammt. Es rumort, kracht und donnert:

„»Was soll ich schreiben?«
»Spielt keine Rolle, Hauptsache halbwegs fehlerfrei, dürfte ja kein Problem sein.«
[…] »Na, dann wollen wir mal sehen: ›Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.‹ «“

Der Clou der Szene: Arda sitzt im Ausländeramt und schreibt die obigen Zeile, um seine Deutschkenntnisse zu demonstrieren. Der Beamte schaut ihm zu, nickt und reicht ihm die Einbürgerungsurkunde. Vieles fällt in dieser Szene zusammen. Ardas Schreiben stiftet seine Identität. Er eignet sich sein eigenes Deutsch an. Er spricht. Er will Deutsch studieren. Er will Literat werden, zieht nach Berlin und schafft es irgendwie auch, bis er plötzlich zusammenbricht. Hepatitis lautet die Diagnose:

„Ich liege hier und warte und aus meinem Hals ragen lauter Schläuche, weshalb ich den Kopf kaum drehen kann, ohne einen stechenden Schmerz bis in die Wirbelsäule zu spüren. Mein rechter Arm ist übersät mit blauen Punkten, Einstichen, so vielen, wie Mama Narben an ihren Beinen hat. Es sind die Zeichen der täglichen Blutabnahme: Jeder Punkt bedeutet neue Blutwerte und damit die Prognose, wie viele Tage mir noch bleiben.“

Wiederum der Clou: Arda liegt im Sterben im Krankenhaus, Schläuche ragen ihm aus dem Kopf, und dennoch, trotz all der Schmerzen, der Lebensangst, der vollständigen Schwächung durch die Autoimmunerkrankung beginnt er einen langen Text an seinen Vater Metin zu schreiben, der abwesende Vater, der Vater, der einfach in einer Nacht- und Nebelaktion, seine Schwester Aylin und seine Mutter Ümram in Deutschland zurückgelassen hat. Plausibel wirkt das nicht. Soll es auch nicht, „Vatermal“ von Necati Öziri lässt sich als Schelmenroman lesen, als Performance, Übertreibung, Parodie, im Grunde als eine Art Anti-Literatur als Literatur verpackt:

„»Ich will was mit Literatur machen«, sage ich. Als ich es ausgesprochen habe, setzt ein Moment Stille ein und dann prusten Danny und Savaş gleichzeitig los.
»Keine Ahnung, irgendwie müssen wir mit diesen ganzen Storys doch Cash machen, oder?«, versuche ich mich zu retten, aber keine Chance. Savaş schlägt die Beine übertrieben eng übereinander und fährt sich mit dem Zeigefinger über die Nase, als würde er eine Brille hochschieben.
»Öhm ja, also mein Name ist Professor Arda und ich bin sehr inte-llelli-gent.«“

Alles nicht so ernst nehmen. Fünfe gerade sein. Einfach mal schreiben. Es missversteht die Haltung des Romans, ihn auseinanderzunehmen, ihm fehlerhafte Beschreibungen, ins Leere gehende Anschlüsse, Bildbrüche vorzuwerfen, die Komposition, die Zeitebenen zu untersuchen, die Plausibilität der Figuren zu hinterfragen, die Szenerien ob ihrer Konsistenz zu beleuchten, den Rhythmus, die Wortwahl, überhaupt nach der Erzählposition, Erzählzeit zu ahnden. Necati Öziris Arda haut auf die Kacke.

Wo Fatma Aydemir in „Dschinns“ die Multiperspektive einübt, wo Emine Sevgi Özdamar in „Ein von Schatten begrenzter Raum“ das innere Erdbeben der Emigration und Heimatlosigkeit auslotet, wo Dinçer Güçyeter in „Unser Deutschlandmärchen“ eine Ode an das Durchhaltevermögen seiner Mutter hält und sich dennoch von ihr und ihrer Härte liebevoll distanziert, da lässt es Arda einfach mal krachen, schlägt über die Strenge und geht voll ab, wahrscheinlich im Ruhrpott, aber wo genau spielt auch keine Rolle. Wer also Lust auf Poetry-Slam mit Gangsterallüren hat, plötzlich tote Mütter in Mayonnaise-Fässer sehen will und von Schwangerschaftsabbrüchen mit Faustschlägen lesen möchte, wird von „Vatermal“ nicht enttäuscht werden. Irgendwie ist alles und nichts drin, und so ist es leider irgendwie auch ziemlich beliebig, ohne Fokus, Perspektive und Empathie für seine Figuren geschrieben.


Hanna Bjørgaas: „Das geheime Leben in der Stadt“

Eine sehr entspannte, konstruktive, freundliche, weitreichende Zeitgeistkritik

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Das geheime Leben in der Stadt“ von Hanna Bjørgaas lässt sich als Notiz- und Tagebuch verstehen. Die Autorin zeichnet ihre Erlebnisse in Oslo und Umgebung auf, ihre Entdeckungsreise in die urbane Wildnis, also ihre Versuche, ihren eigenen Lebensraum mit neuen Augen anzusehen:

„Ich nahm den Weg Richtung Fluss und dachte darüber nach, wie sich die Dinge im Laufe des letzten Jahres für mich verändert hatten. Oder … na ja, die Spatzen, Ameisen und Flechten waren wohl dieselben geblieben, aber ich nicht. Ich zögerte nicht mehr, stehen zu bleiben, mir fünf Minuten zu nehmen, um einen Spatzen, Ameisen oder die Risse in einem Stamm zu beäugen. Oft vergaß ich darüber die Zeit, aber eigentlich lag selten etwas an, was nicht warten konnte.“

Bjørgaas besucht Experten für Ameisen, Flechten, Fledermäuse, Krähen, für Spatzen, Pilze, Möwen und vieles mehr. Sie erweitert ihre Sinne mit Fernglas, Mikroskop, Lupe und Frequenzumwandler, um besser hören, sehen, erleben zu können, was sich in ihrer Umgebung abspielt. Bei ihren Feldforschungen stößt sich auf interessante Zusammenhänge, lustige Anekdoten und mischt ihnen mittels Fußnoten ein paar Quellen, wissenschaftliche Daten und weiterführenden Informationen zu. Was trocken erscheint, bleibt unterhaltsam, denn Bjørgaas hat ihr Buch in einem lakonischen, kolloquialen Stil verfasst, der wie ein Gespräch bei einem Spaziergang erscheint:

„Als ich an diesem Abend nach Hause kam, setzte ich mich wieder an den Küchentisch. Und mir kam ein Gedanke: Die Ameisen, die so unbändig auf ihrem Ameisenpfad über meinen Küchentisch liefen, waren nicht weniger lebendig als ich selbst. Die Stadt der Menschen, der asphaltierte Hinterhof, der kleine Garten mit den Bohnenpflanzen waren, von ihrer Warte aus betrachtet, nur ein weiteres Ökosystem, das sie erobert hatten. Aus der Perspektive der Ameisen gesehen, gehörte der Hinterhof vielleicht gar ihnen. Hatte unsere Präsenz mehr Sinn als ihre?“

Hanna Bjørgaas wird in ihrem halb Sach-, halb Tagebuch niemals schwülstig, moralisierend oder agitierend. Sie kontempliert, beobachtet, lässt sich auf Strukturen, Zusammenhänge ein und sinnt einem Miteinander nach, das weder Flechten noch Pinguine noch Milben ausschließt. Was zuerst nur gut für ein paar Bonmots über Algen, Springschwänze, Pilze oder Elstern erscheint, wächst sich bei längerem Lesen als eine Art Aufmerksamkeitsschule aus: Wer kennt die Bäume in seiner Umgebung, wer kann zwischen einer Amsel und einem Star unterscheiden? Manche können es:

Der Star geht bzw. spaziert wie ein Mensch, im Gegensatz zur Amsel, die auf ihren beiden Beinen hüpft.“

Indem sie weniger abstrakt, mehr anschaulich und sinnlich verfährt, gibt Hanna Bjørgaas viele Details preis, die die Lektüre interessant gestalten. Am Ende fühlt sich selbst die Stadt wie ein Ort voller Geheimnisse an, voller Ecken, Spalten, Details, die sich zu entdecken lohnen. „Das geheime Leben in der Stadt“ erfrischt, belebt, lockert die etwas verkrampften Sinnmuskeln auf. Die Welt als Abenteuerspielplatz zu betrachten, gesellig, offen allen Lebensvarianten gegenüberzutreten, überhaupt weniger Binnendifferenzierungen zu betreiben, daraufhin lässt sich Bjørgaas lesen:

„Ich studierte das [Wimpertierchen], das sich wie in einem Todestanz verrenkte. Ich weiß nicht so recht, was ich eigentlich von einem Organismus erwartet hatte, der aus nur einer einzigen Zelle besteht. Dass ich jedoch Sympathie aufbringen würde, hatte ich nicht gedacht.“

Eine sehr entspannte, konstruktive, freundliche, weitreichende Zeitgeistkritik, wie sie sich auch bei Jared Diamond in bspw. „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben und untergehen.“ und/oder „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“ findet. Wo Diamond geographischer, klimatisch-struktureller beschreibt, bleibt Bjørgaas biologisch-botanischer kleinteiliger. Zusammen geben sie trotz ihres Sachbuchscharakters der Welt viel von ihrem Zauber zurück.


Henri Alain-Fournier: „Der große Meaulnes“

Literatur, die mit Schmerz versöhnt, ohne ihn zu verleugnen oder wegzuerklären.

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Der große Meaulnes“ (1913) blieb Alain-Fournier einziger fertiggestellter Roman, bevor er 27-jährig im 1. Weltkrieg fiel. Er schrieb an diesem acht Jahre lang, um eine unglückliche Verliebtheit zu überwinden, die ihn mit 18 Jahren überkam, als er im Grand Palais in Paris einem Mädchen begegnete. Zwar gehen das Leben des Autors mit den Ereignissen in „Der große Meaulnes“ Hand in Hand, dennoch schiebt sich zwischen diese und jene eine ausgefeilte, für sich bestehende Erzähllogik, die den Text abschließt und unabhängig von jedweder Referenz für sich bestehen lässt. Es bedarf keines Wissens über die Zeit, der Umstände, über das Leben des Autors, um in „Der große Meaulnes“ in der Übersetzung von Arthur Seiffhart, ursprünglich als „Der große Kamerad“ 1930 erschienen, abtauchen zu können:

„Hinter den Hecken der Wiese verborgen weideten Kühe, und ich hörte ihre Glocken, während ich, vom Rad gestiegen, beide Hände am Lenker, die Gegend betrachtete, in die ich eine so schwerwiegende Nachricht bringen sollte. Die Häuser, zu deren Eingängen kleine Holzbrücken führten, waren am Rande eines Grabens entlang der Straße aneinandergereiht wie Barken, die mit gerefften Segeln im Hafen in der Abendruhe ankern. Es war die Stunde, in der in jeder Küche das Feuer entzündet wird.“

In den 1890er Jahren lernt der Ich-Erzähler einen älteren Mitschüler, besagten Meaulnes, kennen, der eines Tages ausbüchst und völlig verändert, nämlich verliebt, wiederkehrt. Von diesem Moment an versucht Meaulnes seine große Liebe wiederzufinden. Nach vielem Hin und Her bekommt er die Nachricht, dass diese in Paris weilt. Er reist nach, verpasst sie aber, verstrickt sich in eine Affäre, kehrt verdrossen und mit schlechtem Gewissen zurück. Unterdessen schließt der Ich-Erzähler seine Ausbildung ab, wird Lehrer und bleibt dem Freund behilflich seinen Lebenstraum zu verwirklichen, nämlich mit der Angebeteten eine Familie zu gründen und ein beschauliches Leben auf dem Lande zu führen.

„Von draußen dringt jetzt kein Geräusch mehr zu den jungen Leuten, nur ein entblätterter Rosenzweig schlägt ab und zu gegen das Fenster zur Heide hin. Wie zwei Insassen eines dahintreibenden Bootes sind die beiden Liebenden, während der Winterwind braust, eingeschlossen mit ihrem Glück.“

Was wie eine Schmonzette auszuarten droht, bleibt dicht und poetisch im Nachempfinden und Nacherleben eines Erzählers, der dem Leben die volle Aufmerksamkeit widmet. Nichts scheint ihm unbedeutend. Alles nimmt teil an der Freundschaft, der Verliebtheit, an dem Abenteuer Leben, Lieben, am Sein im Hier und Jetzt, mit dem Freund, den Wolken, den Hoffnungen und Träumen und alles zusammen:

„Dann gingen wir der Reihe nach zum Brunnen, den wir zuerst verschmäht hatten, und näherten langsam das Gesicht der Oberfläche des klaren Wassers. Aber nicht alle waren an die Sitten der Landleute gewöhnt. Vielen, wie mir selbst, gelang es nicht, den Durst zu stillen: den einen, weil sie Wasser nicht mochten, anderen, weil ihnen die Furcht, eine Assel zu verschlucken, die Kehle zuschnürte, wieder anderen, weil sie, durch die starke Durchsichtigkeit des Wassers getäuscht, die Oberfläche nicht richtig einschätzen konnten und daher gleichzeitig mit dem Mund die Hälfte des Gesichts eintauchten, sodass ihnen beim Atmen stechend das Wasser in die Nase drang und ihnen heiß vorkam, anderen gelang es aus allen diesen Gründen zugleich nicht … Aber was schadete das? – Uns schien, als ob dieser Ort an den unfruchtbaren Ufern des Cher die ganze irdische Kühle enthielte. Und heute noch, wenn ich irgendwo das Wort «Brunnen» höre, denke ich lange nur an diesen Brunnen.“

Alain-Fourniers „Der große Meaulnes“ erzählt eine Geschichte, aber die Erzählweise steht im Vordergrund. In ihr belebt sich das Empfindungsvermögens des Erzählers. Angstlos, sich rückhaltlos den eigenen Assoziationen und Erinnerungen überlassend, steht „Der große Meaulnes“ im direkten Zusammenhang mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Robert Musils „Die Verwirrung des Zöglings Törleß“ und Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Traum, Hoffnungen, Poesie und Prosa mischen sich und erschaffen eine Textwelt für sich, nach der Stéphane Mallarmé in der absoluten Dichtung suchte. Im Gegensatz zu diesem, der alle Bezüge zur Realität unterbinden wollte, taucht Alain-Fournier aber in ihnen ein, lässt sich emporheben und erschafft die ganze Welt neu, nur bunter, intensiver, friedlicher, bar jedweder Gewalt oder Brutalität.


Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“

Ein Episodenroman voller Fülle und fragwürdiger Leere.

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Koeppens Roman nimmt als Motto eine Zeile aus Gertrude Steins Gedicht „From Four Saints in Three Acts“ und zwar „Pigeons on the grass alas“. In diesem zirkelt die Sprache auf sich selbst, zieht sich in Selbstreferenz zusammen, um die Immunität einer Individualität zu vertonen und auch zu retten. In „Tauben im Gras“ gestaltet Koeppen das verletzlich Soziale als Episodenroman, denn mit dem Gesamtgesellschaftlichen am seidenen Faden steht auch die Individualität wieder zur Disposition. Koeppens Roman spielt in einer nicht näherbestimmten süddeutschen Stadt, wahrscheinlich München, kurz nach dem Ende des Krieges:

„Die Stadt erschreckte ihn, die Stadt bekam ihm nicht, sie hatte zu viel durchgemacht, sie hatte das Grauen erlebt, das abgeschlagene Haupt der Medusa gesehen, frevelige Größe, eine Parade von aus ihrem eigenen Untergrund herauf gekommenen Barbaren, die Stadt war mit Feuer gestraft worden und mit Zerschmetterung ihrer Mauern, heimgesucht war sie, hatte das Chaos gestreift, den Sturz in die Ungeschichte, jetzt hing sie wieder am Hang der Historie, hing schräg und blühte, war es Scheinblüte? was hielt sie am Hang? die Kraft eigener Wurzeln?

Protagonist von Koeppens Roman, erschienen 1951, erster Teil seiner Trilogie des Scheiterns, ist die Stimmung, die Atmosphäre in der vom Zweiten Weltkrieg verwüsteten Stadt. Koeppen springt zwischen vielen Figuren, dem Schriftsteller Philipp, seiner Ehefrau Emilia, einer verarmten Großbürgerlichen, dem Schauspieler Alexander, seiner Frau Messalina, dem schwarzen US-amerikanischen Soldaten Odysseus und Washington Price, der Prostituierten Carla, die ein Kind von letzterem erwartet, Zugewanderte, Zurückgekehrte, Wiedergekommene, Dagebliebene. Alle wünschen sich Sicherheit, Wohlstand, ein warmes Bett. Alle versuchen ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen:

Und so betrachtet, war [Philipps] Leben bisher ein einziger langer Urlaub gewesen, ein schlecht verbrachter Urlaub, ein Urlaub bei schlechtem Wetter, in schlechten Unterkünften, in schlechter Gesellschaft, ein Urlaub mit zu wenig Geld.

Koeppens Roman zeichnet die Schonungslosigkeit aus, mit der das Nachkriegsdeutschland beschrieben wird. Die schwarzen US-Amerikanern werden beäugt. Die Besatzer als Zumutung, Hoffnung, als Möglichkeit empfunden. Die Zerstörung als Schmach. Die Gewalt lauert an allen Ecken und Enden. Die Katastrophe naht. Der Ost-West-Konflikt droht. Und dazwischen, zwischen den Mühlrädern der politischen Geschichte raufen sich die einzelne, um ihr kleines Seelenglück bemühten Individuen auf, das aber nicht mehr in Deutschland zu finden ist, das überall, nur nicht mehr in Deutschland verfügbar zu sein scheint:

In Paris hatte man keine Vorurteile. Er konnte in Paris sein Lokal aufmachen: Washington ‚s Inn. Er mußte mit Carla reden. Er konnte mit Carla in Paris leben, ohne daß sie mit jemand wegen ihres Lebens Differenzen kriegen würden. Sie konnten in Paris das Lokal aufmachen, sie konnten sein Schild raushängen, konnten es mit bunten Glühbirnen beleuchten, sein Schild NIEMAND IST UNERWÜNSCHT. In Paris würden sie glücklich sein; sie würden alle glücklich sein. Washington pfiff ein Lied. Er war glücklich. Er verließ pfeifend den Duschraum.

Wolfgang Koeppen hat es mit seinem Roman „Tauben im Gras“ nicht leicht, denn er gibt die Sprache seiner Zeitgenossen getreu wieder, d.h. es tauchen diffamierende Begriffe auf, Aussagen voller Vorurteile, Ängste ohne Boden, Klischees über diese oder jene Personengruppen. All dies fängt  die Angst, die Enge, die Katastrophe, die allgegenwärtige Möglichkeit von Gewalt, die dem Schwarzweiß-Denken innewohnt, ein, das nackte Entweder-Oder, das nur ein Wir und ein Nicht-Wir kennt. Alles gipfelt schließlich auch in der Gewalt, das letzte Mittel die Sprachlosigkeit zu übertünchen. Koeppen erhebt Einspruch, aber sein Einspruch, vollendet desillusioniert, wirkt schüchtern, aber dafür umso überzeugender.

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ lässt sich als dunkler Bruder von James Baldwins 1956 erschienenes „Giovannis Zimmer“ lesen, oder als vertiefendes, düsteres Zeitbild, an dem sich Robert Seethaler in „Das Café ohne Namen“ 2023 versucht hat oder klischiert, aber mit selbiger Thematik, Susanne Abels „Stay away from Gretchen“ 2021. Stilistisch jedoch verwandt mit John Dos Passos Manhattan Transfer aus dem Jahr 1925 reizt er das literarische Moment des Episodenromans völlig aus und hinterlässt in der Fülle zurecht fragwürdige Leere.


Niklas Luhmann: „Liebe als Passion“

Luhmanns Entdeckung der Poesie als innere Grenze der Prosa.

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Die einen sagen, Luhmann schreibt über das, was alle wissen, aber so, dass es kaum jemand versteht. Die anderen sagen, er schreibt über gar nichts, und er selbst beendet seine Abschiedsvorlesung mit den folgenden, eindeutigen Worten:

„Wenn wir nun nach all diesen Ausführungen, die einer Art von skeptischem Relativismus bei aller Bestimmtheit der Theorievorschläge mitführen, wenn wir nach diesen Ausführungen zu unserem Thema zurückkehren und wenn wir noch einmal die Frage stellen: „was steckt dahinter?“, dann sind wir endlich in der Lage, diese Frage zu beantworten. Dahinter steckt gar nichts.“

Dass Luhmann Witz beweist, zeigt schon, dass er, als Systemtheoretiker sich in seiner Monographie „Liebe als Passion“ dem Thema Liebe annimmt und den Diskurs über Intimität der letzten vier Jahrhunderte nachzeichnet, ohne wirklich auf Liebe als Gefühl zu sprechen zu kommen. Vielmehr skizziert er den Diskurs über die Liebe, wie sich dieser Diskurs sich verändert, was thematisierbar wurde und wird und was hingegen Anathema blieb:

„In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.“

Der Abstraktionsgrad in „Liebe als Passion“ bleibt bedenklich hoch. Liebe gilt ihm als Infrastruktur eines Gespräches, als Interaktionsmuster, als individuelles Interpenetrationsschema, das für sich genommen systembildend wirkt: die Paarbeziehung:

Es geht um die Möglichkeit eines sozialen Systems der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung, in der jede Information die Einheit der gemeinsamen Welt bestätigen soll und daher jede Information die Differenz aufbrechen lassen kann.

Nichts anderes bedeutet für Luhmann der Begriff „Liebe“, nämlich die eigene Inkommunikabilitäten zum Thema eines Weltverlangens zu machen, das im Umkehrakt intensiviert, relativiert, erweitert und bestätigt wird. Diese Interpenetration gleitet durch verschiedene Stadien: Im 16. Jahrhundert in der amour passion, im 17. Jahrhundert durch Exzess und Aufschub, im 18. Jahrhundert durch das romantische Verabsolutieren. Im Grunde jedoch umschreibt Luhmann die Subjektwerdung des Individuums als unhinterfragbare Größe im Sinne von Manfred Franks Buch „Die Unhintergehbarkeit von Individualität“, wenn Luhmann schreibt:

Bezogen auf den Gesamtbestand der traditionellen Liebes -Semantik kann man die zugespitzten Paradoxierungen ebenso aufgeben wie die Sinnmomente Passion und Exzeß, die vor allem die Ausdifferenzierung legitimieren sollten. Unverzichtbar bleibt dagegen der neuhumanistisch-romantische Begriff des weltoffenen, eine Eigenwelt konstituierenden Individuums. Ebenso wichtig ist die Vorstellung der Selbstreferenz, des Liebens um der Liebe willen […]

Nebenbei entsteht nämlich ein Verständnis, was es heißt, als Individuum mit Individuen zu kommunizieren und in welchem Sinne dieses Kommunizieren dazu führt, spezielle Kommunikationssysteme zu bilden, in denen das, was nicht gesagt, geschrieben werden kann, doch, wiewohl auf andere Weise, kommuniziert wird oder werden könnte. „Liebe als Passion“ beschreibt also die Entstehung des Inkommunikablen und wie der Liebesdiskurs in diesem sein Geheimnis und seinen Zauber findet – deshalb schon verbindet sich die Romantik mit dem Roman und die Liebe mit der Literatur. Luhmann selbst beendet seinen Ausflug konsequenterweise mit einem (unveröffentlichten) Gedicht (seines besten Freundes), um der Prosa als Riss das Reden um Nichts als Poesie entgegenzusetzen.


Till Nikolaus von Heiseler: „Friedrich Kittlers Flaschenpost an die Zukunft“

Statt „Flaschenpost in die Zukunft“ Muff von Tausend‘ Jahren unter den Talaren.

Wer nur ein wenig von Medientheorie weiß, nur ein wenig über den Tellerrand der hermeneutischen Literaturwissenschaft hinaus geblickt hat, dem wird Strukturalismus, Michel Foucault und mglw. auch Friedrich Kittler zumindest als Name begegnet sein. Wer nun erhofft, dass in diesem letzten, wenige Monate vor seinem Tod aufgenommene und transkribierte Interview der Denker Kittler auftritt und einem die Schlüssel zu seinem intellektuellen Werk in die Hand drückt, irrt.

„Denn das Motiv der Sirenen trägt ja meine ganze Arbeit jetzt, das Spätwerk sozusagen ist um die beiden Sirenen bei Homer in der Odyssee aufgebaut.“

In der Tat, Friedrich Kittler scheint es nur noch um den Liebesgesang zu gehen, um die Liebe, die freie, um das Küssen, das Sich-Begegnen, um die denkerische Stille im Höhepunkt des Aktes. Er reduziert alles darauf:

„Das ist es, was ich von Jacques Lacan glaube gelernt zu haben: sämtliche Philosophien auf die Frage hin zu lesen, was sie über die Liebe zu sagen haben.“

Das Buch liest sich zudem noch als eine Hommage an den Interview selbst, der über lange Passagen ganz alleine das Gespräch gestaltet, bis dass die Fremdscham zwingt, schnell bis zur nächsten Aussage von Friedrich Kittler zu blättern, die dann „ja“ lautet, oder „ist das so?“ oder „vielleicht“ oder gar „Mmm Mmmh“. Kittler dekliniert keine Sprachkenntnis durch. Er wirft mit Bonmots um sich. Er gibt ein paar Anekdoten von sich. Tiefgang, reflektierte Textanalyse, ja, eine besondere Diskurs ereignet sich nicht. Das Interview scheitert von Anfang:

„Till Nikolaus von Heiseler: Puh! Entspannen wir uns kurz. Wie lief es denn so für Sie?
Friedrich Kittler: Wie lief das?
Till Nikolaus von Heiseler: Für mich ist das ein wenig ungewohnt, weil Sie ja so von allein losgaloppieren. Sie schmeißen die Show ja praktisch allein.“

Leider klappt die Selbsttäuschung vielleicht im Gespräch, aber auf Papier? Wer aber in einer Art Drogenrausch durch die Intellektuellen-Phantasmagorien der Bundesrepublikanischen Nachkriegszeit reisen will, wer mit wem konnte, wer wen nicht mochte, zwischen Gottfried Benn, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Niklas Luhmann, und der Alles-Vermittler Jürgen Habermas, wer von Semantik, Psychoanalyse, von Grammatik im Sinne Jacques Derrida und Sexualtheorie von Klaus Theweleit, dem Magazin Spex lesen will, bekommt ein paar Fetzen geboten – leider wirkt das alles sehr verstaubt, nicht anschlussfähig und lässt ein etwas untotes Gefühl zurück – denn im Grunde, so Friedrich Kittler, wollten alle nur ihren Spaß, insbesondere mit ihren Studenten und Studentinnen, und so gerät „Die Flaschenpost in die Zukunft“ zu einer Reise in die Vergangenheit ohne Wiederkehr. Ein Siegfried Lenz hat es mit „So zärtlich war Suleyken“ ähnlich sentimental auf den Punkt gebracht.


Lutz Seiler: „Kruso“

Ideenlos zwischen allen Stühlen. Vom Nichterzählen und die Flucht davor.

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Lutz Seiler schreibt auch Lyrik. Mit Lyrik betrat er die Bildfläche der deutschen Gegenwartsliteratur. „Kruso“ heißt sein erster Roman. Er erschien 2014. 2023 erhielt Seiler den Georg-Büchner-Preis, davor regnete es bereits den Ingeborg-Bachmann-Preis (2007) und andere, und danach den Preis der Leipziger Buchmesse (2020) und den Deutschen Buchpreis für besagten Roman „Kruso“, in welchem es u.a. über Wasserleichen, das Ertrinken geht:

Zum zweiten Verschwinden gehört auch die Strecke unter Wasser, die der tote Flüchtling zunächst auf allen vieren zurücklegt. Seine Leiche treibt wie ein müder, schnüffelnder Hund über den Meeresboden, mit gesenktem Kopf auf dem Grund – schleifende Stirn, schleifende Knie, schleifende Hände, Abschürfungen bis auf die Knochen, abgeschliffene Knochen. Die Extremitäten hängen herab und wirken wie der Kiel eines Schiffes.

Da kann nur ein lyrischer Dadaismus mithalten (Leichen, die eine Strecke auf allen vieren zurücklegen; Tote, die wie Hunde schnüffeln; und Extremitäten, die schlaff und doch zugleich einem Kiel eines Schiffs ähneln).

Aber worum geht’s? Ein Student namens Ed hat die Schnauze voll, verbrennt seine Seminaristenunterlagen und zieht mit Sack und Pack im Sommer 1989 auf die DDR-Insel Hiddensee und arbeitet dort als Saisonkraft. Er hat seine Geliebte verloren und trifft dort auf Kruso, eigentlich Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch, der seine Schwester verloren hat. Zum Glück gibt es sehr viele wie Ed, Männer wie Frauen, die eine Unterkunft suchen und sich sogar erkenntlich zeigen. Kruso verteilt diese sogenannten Schiffbrüchigen auf die Insel und Betten der Saisonkräfte, als sich aber Ed in eine der Schiffbrüchigen verliebt, hängt der Haussegen schief:

»Man wählt seinen Schiffbrüchigen selbst, hast du gesagt.«
»Sicher, Ed. Beim ersten Mal.«
Kruso deutete auf das Grab der Schläfer. »Die Vergabe braucht Kriterien, sie braucht Gerechtigkeit und Disziplin, sonst macht es keinen Sinn, verstehst du? Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über auf unserem Weg. Vergiss nie, wie du selbst aufgenommen wurdest. Du hast hier deine Höhle gefunden. Du hast lange genug nur an dich gedacht.«

Selbstredend findet auch dieser Sommer ein Ende, und mit diesem Sommer endet auch die DDR. All dies wird von Seilers Roman „Kruso“ in Worte gefasst:

„Und die Mechanik der Sorge, die ihm beistehen wollte, aufgrund irgendeiner Erfahrung, die er niemals gemacht hatte. Und darin die Enttäuschung, allein die Enttäuschung war ihm vertraut. Und darin erneut eine Sorge, echte Sorge, die Sorge der Freundschaft, und darin wieder die Enttäuschung, herb und dunkel, und darin die Wut und im Innersten die Hilflosigkeit. Der ganze Irrsinn, der nicht mehr zu begreifen war.“

Wie die Passagen zeigen, geht es Seiler nur zweitrangig um den Plot. Die Sprache spielt die erste Geige. Sie will die Langsamkeit, die Trübseligkeit, die Vermufftheit der letzten Monate der DDR widerspiegeln und schafft dies auf erschreckende Weise. Alles zieht sich. Alle warten nur auf das Ende. Der Roman inszeniert diese Leere sehr gut. Vielleicht zu gut. Leider verpasst er die Chance, nachvollziehbare Figuren zu schaffen, ja, überhaupt gewisse Kohärenzen zu erzeugen. Alles zerfliegt, zerstäubt, zerreibt sich. Alles war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. „Kruso“ liest sich wie die Grabrede für eine Hoffnung, an die niemand geglaubt hat.

Weder Lyrik noch Prosa, weder Spannung noch epische Tiefe, weder Psychologie noch Plot, weder Hüben noch Drüben sucht der Protagonist Ed Trost bei einem toten Fuchs. Der Erzähler wusste selbst nicht, wovon er erzählen wollte, also erzählte er vom Nichterzählen:

Aber ich war abgereist, ich war nicht zurückgekehrt ins Archiv. Auch mein Bericht verrät, wie wenig ich für all das geeignet, wie wenig ich der Aufgabe gewachsen war. Ein Bericht voller nebensächlicher Details, dazu Gefühle und Gedanken, wo es nur um Fakten gehen sollte.

Die Quintessenz rettet den Roman nicht. Er wäre der Anfang eines Neunanfanges. Statt dessen bleibt „Kruso“ die Skizze eines Romanes, der keiner sein wollte, eine Lose-Wort-Sammlung, die keine Verbindlichkeit erzeugt, die wortetechnisch an einem vorüberzieht. Hier und da schillert ein ungewohntes Wort, aber sonst … Bonjour Tristesse.

Jenny Erpenbeck schafft in „Kairos“ ein unvergleichlich viel intensiveres Leseerlebnis. Thomas Kunst in „Zandschower Klinken“ beschreibt ein fröhlicheres Aussteigerleben im zugegebenermaßen wiedervereinigten Osten. Und Christoph Hein lässt in seinem biographischen Romanen wie „Unterm Staub der Zeit“, aber vor allem in „Der Tangospieler“ und „Der fremde Freund“ viel stärker die Enge und Gefangenschaft in der DDR wiederauferstehen, oder auch Hari Kunzru in „Red Pill“ oder Bettina Wilpert „Herumtreiberinnen“. Lutz Seilers Roman „Kruso“ wirkt eher wie ein unentschlossener Uwe Tellkamp, und der sitzt schon gern zwischen den Stühlen.


Christoph Hein: „Der Tangospieler“

Sprachlich eindrücklich und überzeugend inszenierte Endzeitstimmung.

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Christoph Heins erster Roman, Horns Ende (1985), erschien wie sein zweiter Der Tangospieler (1989) noch in der DDR. Der Tangospieler handelt jedoch nicht von der Spätzeit der DDR. Er spielt zur Zeit des Prager Frühlings, also im Jahr 1968. Dennoch schwebt Politik in Heins Roman nur im Hintergrund. Im Vordergrund steht allein das äußerst subjektive Leben und Erleben von Dr. Hans-Peter Dallow, der wegen politisch-unliebsamer Kunst für 21 Monate ins Gefängnis musste. Mit seiner Entlassung beginnt der Roman. Es ist Winter:

Die kalte Luft rötete Wangen und Nase. Als er ans Ende des Waldstücks kam, spürte er den eisigen Wind und kehrte um. Er ging zum Auto zurück und dann wieder den gleichen Weg bis zum Ende des Wäldchens. Immer wieder lief er das gleiche Stück Landstraße auf und ab. Er wollte sich über die vielen Ungewißheiten, die unbestimmten, ungefähren Gedanken klar werden, die ihn fortgesetzt beschäftigten, ohne daß er fähig war, sie auch nur ansatzweise zu formulieren.

Hein schreibt reduziert, lakonisch, unsentimental. Er kennt kein Pathos. Er kennt keine Lyrik. Trocken, kleinteilig, akribisch geht er zu Werke und zeichnet das Psychogramm seiner Hauptfigur nach. Dallow, 36 Jahre alt, geschieden, einst Dozent am Historischen Institut in Leipzig, nun arbeitslos, ledig, läuft verloren, sexhungrig, orientierungslos im Jahr 1968 in Leipzig herum und weiß nichts mit sich anzufangen. Sein soziales System hat sich in Luft aufgelöst. Der Verlust seines Status ist absolut. Er will mit niemandem reden, und niemand will mit ihm reden. Die Resozialisierung gelingt nicht.

Er war müde. Zu müde, um ins Bett zu gehen. Wie ein entlaufener und verwilderter Hund, dachte er. Er lächelte über seinen Vergleich und dachte dann lange darüber nach. Das Bild erschien ihm einleuchtend. Entlassene Häftlinge, sagte er sich, sind diesen armseligen Hunden vergleichbar, sie wirken räudig, sind struppig, laufen mit ständiger Angst vor Prügeln durch die Stadt, beharrlich auf der Suche nach etwas, was sie nicht kennen und doch sehnsüchtig aufzuspüren suchen.

Weil er nicht zurück zu seinen Eltern auf den Bauernhof will, weil er nicht zurück ins Institut möchte, und weil er auch sonst keine Arbeit findet, heuert er auf den Klausner in Hiddensee an, zieht an die Ostsee und nutzt seine Unterkunft, um eine Urlaubsbekanntschaft nach der anderen zu genießen, denn Sex und Alkohol ist alles, was ihm geblieben ist. Der Tangospieler zeichnet diesen Lauf der Ereignisse in geraffter Zeit nach, bleibt dich an der Person Dallows hängen, wagt keine Experimente, keine Zeitsprünge, keine sprachlichen Extravaganzen. Das Biedere der Erzählweise erzeugt eine tief melancholische, triste Stimmung, die sich über das ganze Buch legt. Es wirkt steif, aber nicht bemüht. Es wirkt kalt, aber nicht tot. Es wirkt depressiv, ziellos, antriebslos wie Dallow:

Er goß Schnaps nach und sah durch das Küchenfenster in die Nacht. Er sah die Zweige des Baumes vor seiner Küche, nicht aber den Stamm und schon gar nicht die dahinter liegenden Trockenplätze, Garagen und kleinen Gärten. Das dunkle Küchenfenster beunruhigte ihn. Er hatte das lächerliche Gefühl, die Nacht sehe ihn durch sein Küchenfenster an, das Fenster sei eins der Augen der Nacht. Unverwandt blickte er in das dunkle Fenster. Er wagte es nicht, sich mit dem Rücken zum Fenster zu setzen. Morgen früh kaufe ich mir eine Gardine, sagte er laut und trank den Schnaps aus.

Aber es gibt kein Morgen. Christoph Hein erzeugt in Der Tangospieler eine unvergleichlich dichte Intensität der Leere. Alles wirkt starr. Alles wirkt unveränderbar, zäh, sinn- und freudlos. Durch die Augen Dallows geblickt, entfärbt sich die Welt, wird alles grau und belanglos. Zeit vergeht nicht. Zeit bleibt stehen. Hier entschleunigt sich die Prosa bis ins Schmerzhafteste, aber nie gekünstelt, nie gewollt. Der Sog des Stillstandes gebietet dem Lesen Einhalt. Es schleicht heimlich von Wort zu Wort, fast geduckt, voller Angst, aber ohne Grusel, nur trist und hoffnungslos. Selten schafft ein so leicht lesbarer Roman Weltverlust deutlicher vor Augen zu führen, Welt- und Sinn- und Seinverlust.

Minimalistisch, auf den Punkt, ohne viel Federlesens steigt zwischen den Zeilen die Endzeitstimmung des Jahres 1989 in der DDR hervor. Zusammen mit Jenny Erpenbecks „Kairos“ bildet Christoph Heins „Der Tangospieler“ den vollen und kontrapunktischen Abgesang auf die DDR. Andere, vom Inhalt her vergleichbare Romane bleiben dagegen Fußnoten wie Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück, Lutz Seilers „Kruso“, Bettina Wilperts „Herumtreiberinnen“ oder Jan Faktors „Trottel“. Ihnen eignet nicht die bis zur völligen Entschleunigung ausgedehnte Zeitlosigkeit und innere Bodenlosigkeiten, diese innere Entleerung, die der Implosion von 1989 wohl vorangegangen sein mussten.


Teresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“

Gesprächsabbruch unter fragwürdigen Bedingungen, literaturlos inszeniert.

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Teresa Präauer, nominiert für den Ingeborg Bachmann-Preis 2015 und den Preis der Leipziger Buchmesse, Trägerin des Friedrich-Hölderlin-Preis und des aspekte-Literaturpreises für das beste deutschsprachige Prosadebüt 2012, steht nun 2023 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises mit „Kochen im falschen Jahrhundert“.  Im Zentrum des Romanes steht ein geselliger Abend, den eine Gastgeberin gibt und zu dessen Anlass sie eine Quiche Lorraine backt:

Alles gut. Wieso sagten die Menschen in letzter Zeit so gern alles gut? Wieso fragten sie: Alles gut? Wieso lautete die Reaktion auf Fragen, Wünsche und Aggression stets: Alles gut? Wo doch eigentlich sehr wenig einfach gut war, fast gar nichts. Was ist alles nicht gut, das wäre die Frage, die man stellen könnte. Oh, sorry, sagte der Schweizer dann. Äxgüsi. Es läge an seiner Unterzuckerung und am Kapitalismus.
Alles gut? Nur eine Quiche war gut. Knusprig, cremig, warm und kalorienreich. Der Geschmack von Schinken, Zwiebel, Porree und Ei. Eine Quiche, die zuerst noch gebacken werden musste.

Mittels einer digitalen Version lässt sich leicht herausfinden, dass Präauers Text 179 Fragezeichen enthält, bei einer Gesamtlänge von 198 Seiten fast ein Fragezeichen pro Seite, die leeren und Kapitelüberschriftsseiten abgezogen bleiben schon fast zwei Fragezeichen auf jeder. Der Rest des Textes widmet sich nicht der Beantwortung der meist rhetorischen Einwürfe. Vielmehr wird ein breiter Teil des Textes für die von einer Bilderkennungssoftware zur Verfügung gestellten Verschriftlichung eines Instagram-Food-Feeds verwendet:

Eine Quiche, beinah zur Hälfte aufgegessen.
Eine herrliche Suppe bei der Cousine auf der Terrasse im kühlen April.
Eine Flasche Wein in den Weinbergen, mit Blick auf die Stadt.
Grüner Spargel mit Ei und Kresse.
Frischgebackene Cones, die auf Clotted Cream warteten.
Eine Hand mit rotlackierten Fingernägeln, die eine Tüte hielt, darin eine Kugel grünen Matcha-Eises und eine Kugel grauen Sesam-Eises. Ein Kind mit blauem Sommerhütchen, das uns eine rote Erdbeere entgegenstreckte.

Zum Inhalt: Ein Pärchenabend der Gastgeberin mit ihrem Partner, einem befreundeten Ehepaar und einem Akademiker aus der Schweiz findet statt. Sie essen und trinken, dann kommt ein Zufallsbesuch, ein amerikanisches Touristenpärchen, und eine Orgie bricht aus, bis diese von der an der Haustür klingelnden Polizei jäh unterbrochen wird. Von den Figuren wird kein Bild gegeben. Eigennamen, Fehlanzeige, außer die Katze der Nachbarin, die heißt Minka. Die Ehefrau zumindest trägt im Text mal flache, mal hohe Absätze, mal eine Sommerhose, mal ein knappes Kleid:

Die Ehefrau zog schon vor der Tür die Schuhe mit den flachen Absätzen aus, ganz außer Atem sei sie. Sie trug eine gemusterte Seidenbluse zur flattrigen Sommerhose, Brille und kaum Make-up.

Die Ehefrau trug Schuhe mit sehr hohen Absätzen, die Pumps genannt wurden oder Stilettos. Entgegen ihrer Gewohnheit trug sie auch keine flattrige Hose, sondern ein enges kurzes Kleid.

Ein Verwirrspiel findet statt. Ist es derselbe Abend? Sind es dieselben Personen? Wohl kaum. Wahrscheinlich spielt das alles keine Rolle, da alles so ununterscheidbar einförmig geworden ist, dass Texte ohne Eigennamen, Beschreibungen, ohne Zuschreibungen, Individualisierungen, ohne zeitörtliche Fixierung auskommen können? Literarisch überzeugt Präauers Text nicht. Er gibt sich nicht den Details hin. Führt nichts aus. Schildert kaum etwas. Alles bleibt infrastrukturell allgemein, kaum ausgeführt, nur angedeutet. Die imaginäre Arbeit bleibt gänzlich dem Publikum überlassen:

„Seit ein paar Jahren war die Gastgeberin mit ihrem Partner zusammen, der wiederum mit seinem Smartphone zusammen war. Der Schweizer hatte eine Freundin, konnte aber auch gut alleine sein. Er könne Mixgetränke überhaupt nicht leiden, wiederholte dieser, den Crémant aus dem Elsass würdigend, und hob sein Glas. Santé!“

Crémant kommt 35 mal als Wort vor, Quiche 34, die Gastgeberin 356. Absätze, Strukturen gehen ins durchlässig transparent Abstrakte, wechseln von der „Du“- in die „Wir“-Perspektive, zurück in die anonyme Beschreibung als Kamera beim erweiterten Pärchenabend. Die Stärke des Textes liegt im Performativen, als Aushöhlung, Enthüllung, als Bloßlegung eines Lebensentwurfes, der offenkundig kein Außen mehr besitzt als den Musikstream aus dem Smartphone.

Wer möchte, kann Präauers Text „Kochen im falschen Jahrhundert“ als Zeitgeistkritik oder Selbstbeschimpfung lesen. In der offenkundigen Hilflosigkeit überzeugt die Leere, die Tristesse, das Banale als vorzeitiges Aufgeben, Verbindlichkeit anzustreben. Wie Heike Geißlers Die Woche“ als Dokument, Palimpsest, als Performance möglicherweise interessant, vielleicht für manche Augen sogar auch überzeugend, bleibt literarisch gesehen nichts übrig, woran ein Gespräch sich noch entzünden könnte. Präauer hat mit dem Gesprächsabbruch ernstgemacht, Fragezeichen gesetzt und ihre Figuren und mit ihnen das Publikum ins offene Messer laufen lassen. Und das war offensichtlich so gewollt.


Sylvie Schenk: „Maman“

Freundlich, zurückhaltend, selbstkritisch. Autofiktion ohne Dampfhammer.

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Trittbrettfahrerin Annie Ernaux‘ à la „Das Ereignis“? Möchtegern-Roman im autofiktionalen Stil wie Julia Schochs „Das Liebespaar des Jahrhunderts“? Familien-Muff wie in Birgit Birnbachers „Wovon wir leben“? Autobiographische Lamentiererei wie in Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“? Es wär ein Leichtes, Sylvie Schenks Roman „Maman“ ob seiner Wellenreiterei zu verreißen – wäre da nicht ihr lakonischer, leichter, sanfter Stil, der einfach den Text zuerst Text sein lässt, vor sich hin dümpelnd, interessant, beschwingt, durchsetzt von der Melancholie, die eigene Mutter bis zuletzt und über ihren Tod hinaus nicht kennengelernt zu haben. Schenk schreibt selbstbewusst. Es ist ihre Geschichte, und sie lässt keinen Zweifel daran zu:

„Cécile stirbt. Die Zeit ist für sie aufgehoben. Lyon, das Krankenhaus, die Rhône, die ganze Welt, alles versinkt in der Dunkelheit. In den letzten Lebenssekunden wird sie wieder zum Kind, rennt die Straße vom Croix-Rousse hinunter und hält an, um zwischen den Pflastersteinen der steilen Straße einen Löwenzahn zu pflücken. Pusteblume. Musik, Akkordeon, Jahrmarkt. Freudenschreie. Ein Karussell. Etwas lacht und weint in ihr. Es flackert das Wort Auge im Nebel der Worte auf: Pusteblume, Kind, Leben, Krieg, Soldat, sie spürt ihr Gesicht zwischen zwei Männerhänden.“

Die Ich-Erzählerin erzählt von ihrer Mutter, von deren Geburt, ihrem Status als Waisenkind, ihren Adoptiveltern, ihrer Heirat im Jahre 1936, vom Weltkrieg, den Schwierigkeiten, ja, möglicherweise den Verwicklungen in der Kollaboration oder im Widerstand, vom Verdacht einer Affäre und der Schwierigkeit, sich zu emanzipieren, wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen hat:

„Renée wird fünf, fünfeinhalb, sie spricht kaum und undeutlich, sieht ihre Umgebung immer weniger klar, nicht mal den Kirschbaum betrachtet sie noch, die Welt versinkt in graue Töne, überall, wohin sie schaut, öffnen und schließen sich schwere dunkle Türen, und jede aufgehende Tür macht das Zimmer noch dunkler, anstatt es zu erhellen, das Öffnen wird ein Zumachen, das sie nicht versprachlichen kann, die Suppe wird glasig und kalt, ihre Augen sind verklebt und tränen andauernd.“

Schenks Roman besitzt eine Pointe, aber vor allem besitzt er einen geschlossenen Stil, einen fugenartigen Gesang, ein Wechsel zwischen personalen Erzählen, Ich-Perspektive und einem Chor-Wir, das sich in den dunklen, unbekannten Stellen der Geschichte von der Mutter der Ich-Erzählerin zu Wort meldet. Dort raunt das Geschichtsecho. Es bringt die Leerstellen zum Schwingen:

Wir singen: »Können sie Kohlköpfe pflanzen? Wir, wir, wir können es.« Cécile hat dauernd Hunger. Sie betrachtet die anderen, fast alle Kinder haben ihren Proviant aufgegessen, nur der blasse, dickere Junge, der immer hustet, kaut noch an seinem Brot und beißt mit seinen schlechten Zähnen winzige Stücke davon ab. Wir nähern uns ihm, zeigen auf das Brot: »Gibst du mir was ab?« Der Junge schaut Cécile lange an, mit blassen Augen, er runzelt die Stirn und eine kleine weiße Narbe gerät in Bewegung, dickflüssiger Schleim fällt auf das Brot.

Anders als bei Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“ oder „Das Ereignis“ schwingt bei Sylvie Schenk keine Sehnsucht mit, ihrem Elternhaus zu entkommen. Anders als in anderen autofiktionalen Texten hagelt es nicht Schuldzuweisungen und Urteile wie in Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“. Und vor allem, verglichen mit vielen anderen Familiengeschichten wie Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ oder Alois Hotschnig „Der Silberfuchs meiner Mutter“ bleibt die Sprache nicht nur Vehikel, sondern erhält Stimmung, Atmosphäre, gewährt einen Einblick in die disparate, ins Leere laufende, orientierungslose Liebe zur Mutter, die sich nicht zeigen konnte, nicht gezeigt hat, fremd unter Fremden blieb:

„Meine Mutter entgleitet mir. Sie fließt mir davon, eine innere Blutung, ich muss versuchen, sie festzuhalten, sie wiederzufinden. Ja, sie war erdrückt und entrückt. Unsicher. Unwissend. Es gibt Leute mit einem festen Kern, um den herum sind ihnen Fleisch und Geist gewachsen. Und es gibt Leute wie Maman, die eine Art schwebendes, undefiniertes Wesen haben. Wir sind alle vergänglich, sie aber war vergänglicher, fluider, ungreifbar.“

Ein bescheidener, freundlicher, selbstkritischer, zurückhaltender Roman, der die Ambivalenz der Kluft zwischen den Generationen auslotet, ohne mit dem Dampfhammer überzeugen zu wollen. Still, verzweifelt, ein wenig gruselig, wie wenig von einem Menschen übrigbleibt, fortlebt, gegen den sich die Welt verschworen hat und vergleichbar mit Tatjana Gromačas Roman “Die göttlichen Kindchen”, das auch auf einer Longlist 2023 steht, dem Buch des Jahres aus unabhängigen Verlagen.


Friedrich Kittler: „Philosophien der Literatur“

Ungeschminkter Blick auf die Ästhetiken des Abendlandes mit einhergehender Ideologiekritik der Institution Universität.

Friedrich Kittler, berühmt für seine Aufschreibsysteme, befasst sich mit Literatur vor allem in medialer Hinsicht – wie und auf welchem Wege gelangt Sprache in die Rezeption. Erklärungen, Begründungen, Letztinstanz-Behauptungen lassen sich von diesen an der Systemtheorie Niklas Luhmanns und von Michel Foucaults Diskursanalyse inspirierten Ausführungen nicht erwarten. Sie stellen zusammen:

Die Philosophie, wenn sie nicht scheiternde Selbstbegründung bleiben soll, braucht die Dichtung als ein Anderes, das ihr Wesentliches.“

Kittler resümiert 2500 Jahre Kulturgeschichte von Poetiken: Angefangen bei Aristoteles‘ „Poetik“, über Dantes Reflexionen in die „Göttliche Komödie“, zu Baumgartens Begründung der Ästhetik und Kants „Die Kritik der Urteilskraft“, um schließlich auf das Ende der Kunst bei Hegel, Wiederaufleben der Kunst bei Nietzsche und erneuter Beerdigung bei Heidegger zu sprechen zu kommen. Ein Nachspiel mit Jean-Paul Sartres gibt es noch, der das Untote des literarischen Universums untermauert. Das Untote findet Kittler in der Selbstbefeuerung eines Publikums, das für sich selbst schreibt, sich selbst kritisierend, rekrutierend, in einem Zirkel der Selbstbeweihräucherung namens Philologie verbleibt:

[Die Avantgarde-Künste] komplettieren damit eine moderne Gymnasial- und Universitätsbildung, die laut ‚Fröhlicher Wissenschaft‘  wie alle Bildung eine ‚Geschichte der Narcotica‘ ist. Damit kein Student merkt, dass er einfach zum Staatsbeamten dressiert wird, narkotisieren ihn Wagner oder Baudelaire, deren gegenseitige Bewunderung philologisch aufgedeckt zu haben, eine der großen Freuden des letzten Nietzsche gewesen ist.“

Brutal selbstreferenziell zeichnet Kittler die Geburt der europäischen Universität und gleichermaßen den entstehenden Buchmarkt nach und zwar unter dem Motto:

Ich bin [davon] überzeugt und durchdrungen, nämlich dass die Fiktion der Freiheit reale Unfreiheit noch verschlimmert.

Mit seiner Vorlesung zerstört er die Illusion der Letztbegründung von ästhetischen Urteilen, wie auch immer sie sich kleiden. Danach laufen selbstverständlich alle Urteile ins Leere oder wild. Urteile erscheinen als verkürzte Beschreibungen, die durch inwendige und aufwendige Aufschreibsysteme überflüssig gemacht werden können. Niklas Luhmann fasste es kürzer als die fast 300 Seiten Kittlers:

Die bekannte Henne sollte sich nicht auf die Suche nach dem Ei begeben, aus dem sie entstanden ist, sondern lieber eins legen und gackern.“

Niklas Luhmann aus: „Soziologische Aufklärung“ (Band 6)

Um aber einen gelungenen, ungeschminkten Blick auf die Ästhetiken des Abendlandes zu werfen, dafür dient Kittlers Buch allemal. Leider verkommt auch für ihn die Literatur, das Sprachkunstwerk, nur zum äußeren Anlass, um über Himmel und Erde und alles dazwischen zu räsonieren, und arbeitet keinerlei interessante Beschreibungs- und Anknüpfungskategorien heraus, die den bleibenden Erfolg des Erzählens ein Stück mehr verständlich werden ließen. Es liest sich eher als Ideologiekritik der Universität.


Toni Morrison: „Menschenkind“

Dem Monströsen literarisch die Stirn geboten.

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Die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison, Literaturnobelpreisträgerin von 1993, rückt mit ihrem Roman „Menschenkind“ aus dem Jahre 1987 einem der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte auf den Pelz: Der Sklaverei. Hierfür bietet sie alles auf, was das moderne Erzählen zur Verfügung hat, um dem Vergessen entgegenzuarbeiten und das Vergegenwärtigen mit Intensität und Leben zu füllen. Polyphone Zeitsprünge, fraktalisierte Gespräche, Lücken, Gesänge, rhythmisierte Prosa, und doch viele klar, nur versetzt, zusammenkomponierte Erzählpassagen weben ein immer dichter werdendes Netz aus Verzweiflung, Leid, aber auch aus Hoffnung und unbändigem Widerstandswillen:

„Ob sie sich [beim Schlittschuhlaufen] nun im Kreise an den Händen hielten oder in einer Reihe, die drei konnten sich keine Minute lang aufrecht halten. Doch keiner sah sie fallen.
Jede schien den anderen beiden helfen zu wollen, auf den Beinen zu bleiben, und doch verdoppelte jeder Sturz ihr Entzücken. Die Lebenseichen und die rauschenden Kiefern am Ufer umringten sie und schluckten das Gelächter, während sie gegen die Schwerkraft um die Hände der anderen kämpften. Ihre Röcke flogen wie Flügel, und ihre Haut wurde im kalten und erstrebenden Licht wie Zinn.
Keiner sah sie fallen.“

„Menschenkind“ handelt von Sethe, Denver und Menschenkind, die in 1873 in einem Vorort um Cincinnati mit den Dämonen ihrer Vergangenheit ringen. In Episoden und Bruchstücken wird Sethes Geschichte erzählt, wie sie der Sklaverei entkam, welche Opfer sie aufbringen musste, welche Leiden und Schmerzen sie durchzustehen hatte. Die Handlung setzt an, als sie völlig isoliert am Stadtrand lebten, von allen ignoriert wurden, wegen eines Vorfalls, der allen im Ort noch im Gedächtnis verblieben ist. Sethe hat sich den Sklavenjägern durch angedrohten Mord an ihren eigenen Kindern widersetzt und ermordete sogar eines, ihre zweitjüngste Tochter, auf deren Grabstein „Menschenkind“ [Beloved] steht.

„Ich bin Menschenkind, und sie gehört mir. Sethe ist die Frau, die dort Blumen gepflückt hat, gelbe Blumen, bevor das Ducken kam. Entfernte die grünen Blätter davon. Die Blumen sind jetz auf der Decke, wo wir schlafen. Sie war im Begriff, mich anzulächeln, als die Männer ohne Haut kamen und uns mit den Toten hochbrachten ins Sonnenlicht und sie ins Meer stießen. Sethe ging ins Meer. Sie ging hinein. Sie stießen sie nicht. Sie ging.“

In einem sich steigernden Crescendo widergespiegelten Schmerzes gleiten Sethe und Menschenkind in einen Teufelskreis der Schuldzuweisung und des Schuldbekenntnisses ab. Sie brauchen einander. Sie kommen nicht voneinander los. Die Vergangenheit hält sie fest in ihren Klauen, der Schmerz, das Leid, die unmögliche Situation, in die die Sklaventreiber sie beide gebracht haben, kettet sie aneinander. Nur Denver, die jüngste Tochter, die auf der Flucht geboren wurde, schafft den Sprung in ein Morgen. Sie sucht Hilfe und bekommt sie. Die Nachbarsfrauen singen für Sethe und sie:

Für Sethe war es, als sei die Lichtung samt der Hitze und den dampfenden Blättern zu ihr gekommen, wo die Stimmen der Frauen nach der richtigen Harmonie suchten, nach der Tonart, der Melodie, dem Klang, der den Worten das Kreuz brach. Stimme über Stimme erhebend, bis sie ihn gefunden hatten, und wenn sie ihn hatten, war es eine Klangwelle, die weit genug reichte, um tiefes Wasser zum Klingen zu bringen und die Kastanien von den Bäumen zu schütteln. Sie brach über Sethe herein, und die erzitterte in ihrem Sog wie die Geläuterten.

Romane wie Toni Morrisons „Menschenkind“ sind selten. Sie erschaffen ein eigenes, realitätsgesättigtes Universum voller narrativer Fäden, die sich zu einem breiten, tragfähigen Fluss vereinigen. Vergleichbar nur einem William Faulkner in Absalom, Absalom oder einer Virginia Woolf in Die Wellen, oder Claude Simon in Die Straße in Flandern. All dies jedoch mit einer eigenen naturmythischen Komponente, die bei allem modernen Erzählen, ein antikes Zeitloses bekommt und Aischylos Die Schutzflehenden nahesteht. So wird aus dem antiken Chor ein modernes Singen, voller Tränen, Lachen, voller Schreien, Zetern und Wimmern, um so viel Menschlichkeit wie möglich durch das Schwarz in Schwarz des Monströsen hinüberzuretten.


Lothar Baier: „Was wird Literatur?“

Ein Kritiker/Autor dankt ab.

Hauptsächlich Essayist, Herausgeber von Literaturzeitschriften, u.a. der renommierten Text+Kritik, aber auch als Erzähler und Autor tätig reflektiert der Heinrich-Mann-Preisträger von 1994 Lothar Baier kurz vor seinem Freitod 2004 die Rolle und Stellung der Literatur in der Gesellschaft:

„Wenn das Freiheitsversprechen, das die Bücher umgab und mit Macht zu ihnen hinzog, von ihnen abgefallen ist, was bleibt dann noch an triftigen Gründen übrig, der Literatur eine privilegierte gesellschaftliche Bedeutung einzuräumen?“

Dieser Frage gehen viele in der Literaturbranche-Tätigen irgendwann nach. Martin Walser in „Wie und wovon handelt die Literatur?“, oder Wolfgang Hildersheimer „Das Ende der Fiktionen“ oder der von Baier hauptsächlich beachtete Essay Jean-Paul Sartres von 1947 „Was ist Literatur?“ Es gibt Fragen, die erlauben deshalb keine Antwort, weil sie sich auf ein Verständnis einer Sache beziehen, die selbst fragwürdig geworden ist, wie „Bedeutung“ und „Gesellschaft“ in einem wie in der Gegenwart herrschenden funktionaldifferenzierten sozialen System. Baier weiß darum:

„Kultur im postmodernen Verstande ist nichts anderes als das selbsterzeugte sedative Mittel der pluralistischen Gesellschaft, deren Funktionieren die alsbaldige Pazifizierung aller störenden Konflikte erheischt.“

In diesem Sinne sei die Postmoderne von der Moderne nur darin zu unterscheiden, dass diese sich noch um Differenzierung und Kategorisierung bemühte, jene aber die friedliche Koexistenz von allem gegenüber allem feiert:

„Das postmoderne Reden erzählt deshalb überhaupt nichts Neues, es stört sich lediglich nicht mehr daran, dass die Kunstwerke, die die kulturindustrielle Akkumulation unterschiedslos zusammengeworfen hat, durch ihre Koexistenz aneinander »freveln«.“

Baier fasst kursorisch die Debatte um Engagement rundum Sartre zusammen, dann die Diskussion und das Ausrufen des »nouveau roman« in den 1960ern, die Roland Barthes motivierte, sein Todesverdikt zu widerrufen, das er über die Literatur in den 1950ern verhängt hat. Er analysiert die Professionalisierung durch Workshops. Er sieht in den Debatten Selbstdarstellungs- und Marketingversuche, und schließt mit reichlichem Zynismus gegenüber einer Gegenwartsliteratur, der er nichts mehr abgewinnen kann, der Popliteratur:

„Seit in Deutschland auch die Unterabteilung Literatur zum beachteten Posten im global entscheidenden »Standortfaktor« geworden ist, eröffnen sich jungen Frauen und Männern, denen die Natur die Voraussetzungen vorenthalten hat, eine Claudia Schiffer, eine Céline Dion oder Boris Becker zu werden, ein alternativer Weg zu Ruhm und Glamour.“

All dies nur durch Gedächtnisverlust und Ignoranz über den Stand des Materials und der Sprachverfügung, die eine Virginia Woolf einst sagen ließ, dass ihr der Stift in der Hand zittere, wenn sie an Stendhal, Henry James oder Tschechow denke. Wer nichts mehr als sich selbst und die Tastatur kenne, schreibe frank und frei, fröhlich und selbstbewusst. Es wird aber nicht klar, worauf Lothar Baier hinaus will. Kulturpessimismus gibt es und gab es schon immer. Bereits Platon beschwor den Untergang der eigenen Kultur herauf. Kategorien, Beschreibungsebenen nennt Baier nicht. Er geht nicht aufs Material, nicht auf Sprache, den Stil ein und wird somit selbst zum Symptom der kritisierten Wirklichkeit – nämlich selbstgenügsam Gesprächsabbrüche zu zelebrieren.

„Der Mann oder die Frau, der oder die sich wahrhaft fürs Schreiben interessiert, weiß, dass man zur Gemeinschaft anderer Schreibender gehört, dass es Zeitgenossen gibt, die einen beurteilen, einen kritisieren werden und die neben einem schreiben. Der Amateur, das ist jemand, der bei sich selbst verharrt, der zwar nette Dinge schreiben kann, dem aber die notwendige Kraft fehlt, mit anderen zu kommunizieren, mit dem Publikum, auch einem zahlenmäßig kleinen Publikum.“

Dieses Zitat von Raymond Queneau schließt Lothar Baier mit ein. Baier bezieht die Kategorien seiner Literaturrezeption noch aus einem theoretischen Hintergrund, zumeist dem der kritischen Theorie à la Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Jürgen Habermas, die noch nach Deutungshoheit streben, und sei sie noch so selbstkritisch. Eine kybernetische, die Differenzierung bejahende gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie in den Schriften Niklas Luhmanns vorkommt, ignorierend, verbleibt er beim Alten und Bewährten.

Zumindest aber deutet Lothar Baier an, dass die Unüberschaubarkeit kultureller Wertmaßstäbe und Debatten vielleicht nicht die Qualität der Literatur, aber die Notwendigkeit von Theorie und somit von Schriften wie seinem „Was wird Literatur?“ untergraben, denn Spartenliteratur lässt sich denken, Meinungsblasen auch, aber eine Theorie ohne Begriffe, und Begriffe ohne allgemeine Substanz, und Allgemeinheit ohne Verbindlichkeit nicht.


Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“

Sprachfreudige Ideologiekritik im Vorkriegswien

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Raphaela Edelbauers Roman „Die Inkommensurablen“ beginnt am 30. Juli 1914 am Wiener Südbahnhof. Schon alleine diese Zeit- und Ortsangabe verknüpft den Roman mit Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, der mit einem Augusttag des Jahres 1913 in selbiger Reichshaupt- und Residenzstadt der k. u. k. Monarchie ansetzt. Die Psychoanalyse, das Okkult-Mystische, Carl Jung, Sigmund Freud, Georg Cantor und die Suffragetten stehen in aller Munde und auch der bevorstehende Krieg mit dem russischen Zarenreich. Edelbauers Roman spielt zwischen allen Stühlen, auf den Straßen, in der Kanalisation, in den Hintergemächern des Militärs und der Oberschicht, aber auch in den Hütten und Lauben, Bruchbuden des Wiener Favoriten:

Über eine Wendeltreppe waren sie in eine Art Halle gelangt. Er musste sich die Hände vors Gesicht schlagen, um den Gestank ertragen zu können. Sie standen auf einem Grat, der hoch über einen Schacht führte, durch den das Schmutzwasser donnerte. Braun toste die Gülle in Tonnen und Abertonnen über eine Staustufe – das gesammelte Abwasser der nach allen Seiten ausgestreckten Metropole. Täglich kippten hunderttausende Frauen ihr Waschwasser in die Wien, die über der Stelle, wo die Karawane nun ihren Weg machte, mächtig in den Boden drang.

Sie, das sind Karla, Hans und Adam, die gemeinsam durch Wien streifen und über Gott und die Welt palavern. Adam steht kurz davor, als Offizier in den Krieg beordert zu werden; Karla muss für ihr Rigorosum büffeln, und Hans steht mittelos im großen Wien, von Zuhause ausgebüchst, mit leeren Händen da und ausgestattet nur mit seiner Begeisterung für die Psychoanalyse. Sie treffen sich bei einer stadtbekannten Psychoanalytikerin namens Helene Cheresch, die erste Anlaufstelle für Hans, um seine besondere Fähigkeit zu melden, nämlich ein drittes Auge dafür zu haben, was eine Person im nächsten Moment sagen wird. Hans Odyssee durch das Vorkriegswien beginnt.

Die Erschöpfung kauerte auf ihnen wie ein nackter Affe. Viele setzten sich vorerst aufs Trottoir und rauchten. Einige trugen noch eine Flasche Schnaps im Hosenbund oder einen Flachmann in der Hand, den sie reihum weitergaben, wie um einen Fall zu bremsen. So nahm auch Hans einen Schluck. Er saß auf dem Gehsteig und schaute in den Himmel, der sich in unendlicher Behäbigkeit rot verfärbte. Er konnte sich nicht daran erinnern, je so erschöpft gewesen zu sein. Alles war ihm gleich. Die Menschen hockten und legten sich auf die befahrene Straße. Auch Hans ließ sich deshalb nach hinten fallen. Und wie eine Mutter nahm Klara seinen Kopf auf ihren Schoß.“

Edelbauers Diktion mutet altmodisch an, dennoch kommen ihre Sätze frisch und einfallsreich daher. Nirgendwo gleitet ihre Prosa in Phrasen und ödes Aufzählen ab. Sie spielt mit ihrem Sujet und lässt ihrer Phantasie freien Lauf, haucht den Figuren, den Szenen Leben ein und erzeugt ein lebendiges, Bild einer hastigen, aufgeregten Stadt, eines Labyrinths des Möglichen, ein Prag des Golems, ein Rom der Illuminati, eben das Wien der Traumdeutung.

Kein wohlgeordneter Kosmos, wie ihn sich die Griechen ersonnen hatten. Es war vielmehr ein Teppich, verklebt vom Kot der Verstorbenen und gesteift mit der Stärke eines metaphysischen Kleides. Wenn man an einem Ende zog, dann glitt auch das andere abwärts, und wenn man waagrecht einen Faden entfernte, fielen die senkrechten Laschen in sich zusammen. So war die Welt.

Edelbauers Roman handelt von Kollektivbewusstsein, Massenpsychosen und Massenwahn, von Archetypen, Einbildungen, Versuchen, über das Rationale hinaus ins Transzendent-Überirdische zu gelangen und stellt diese Prozesse und Praktiken der Kriegsbegeisterung an die Seite, die ebenfalls nur mit kriegerischen Mitteln sich darum bemüht, den alltäglichen Jammertal, der Vereinzelung zu entkommen und Bedeutung in Mehrzahl zu schaffen. Mit satirisch-ironischer Gaukelarbeit führt sie das Tagträumen vor, ohne jedoch die Utopie eines anderen Zusammenlebens zu diskreditieren. Nur so einfach, das die zugrundeliegende Botschaft Edelbauers, geht es nicht.

Vieles erinnert an Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“, nur ohne die Detektivgeschichte, oder Alfred Kubins „Die andere Seite“, und auch Ähnlichkeiten zu Eckhart Nickels „Spitzweg“ gibt es, in welchem ebenfalls drei Freunde über Kunst und Kultur debattieren. Die Liste der Analogien lässt sich über Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Gilbert Adairs „Die Träumer“ fortsetzen. Nicht zu sprechen von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ und Hermann Brochs „Die unbekannte Größe“, „Die Schlafwandler“ und „Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik“.

Trotz vieler Anleihen steht Raphaela Edelbauers „Die Inkommensurablen“ jedoch ganz selbständig da. Selten wurde dem Wunsch nach Mehr, nach einem Höheren, so selbstironisch, sprachfreudig und doch hintergründig vernichtend auf den Zahn gefühlt.


Ágnes Heller: „Eine kurze Geschichte meiner Philosophie“

Hart, aber herzlich gegen sich selbst geschrieben.

Ágnes Heller lebte über 90 Jahre. 1929 in Budapest geboren, entschied sie sich wahrscheinlich 2019 in Balatonalmádi für den Freitod, höchstwahrscheinlich um einer einsetzenden Demenz zuvorzukommen. Anlässlich ihres 80. Geburtstag zog sie ein philosophisches Resümee:

„Ich bemühte ich sehr, die Autorität der Philosophin zu untergraben, ohne die Autorität der Philosophie zu untergraben.“

Von welcher Autorität spricht sie. Sie promovierte 1955 bei Georg Lukács, polemisierte gegen den orthodoxen Marxismus in den 1960ern, emigrierte nach jahrzehntelanger politischer Unterdrückung 1977 nach Australien, diskutierte mit Michel Foucault, Jacques Derrida und Jürgen Habermas über die Moderne und Postmoderne, arbeitete sich an der Friedensbewegung ab, wurde Nachfolgerin auf Hannah Arendts Lehrstuhl in New York, emeritierte, zog zurück nach Ungarn und blieb eine öffentliche Person. Sie schreibt:

„Es gibt keine einzige effektive Norm, die irgendjemanden ermächtigt, ein Urteil im Namen der Menschheit zu sprechen.“

Unter dieser Ägide bespricht sie Ästhetik, den Begriff des Schönen, die Moralphilosophie, den Begriff des Guten, und die Geschichte mittels des Begriff eines kurzzeitig Wahren. Unterm dem Strich bleibt viel und wenig übrig. Wieso liest sich Hellers Buch dennoch mitreißend? Nichts aus begrifflicher Klarheit, nicht aus intellektueller Präzision, nicht wegen irgendwelcher literarischer Geistesblitze. Hier spricht eine 80-jährige Philosophin, die sich von niemanden je den Mund verbieten lassen hat, eine Frau, die ihren eigenen Weg gegangen ist, stets zwischen den Stühlen saß, von allen Seiten angegriffen wurde, aber niemals kleinbeigab.

„Ich verstand die Geschichte meiner Philosophie […] Zurück aus Turin, hatte ich das Bedürfnis, die Ergebnisse meiner Entdeckung zumindest für mich selbst niederzuschreiben. Wie andere auch kann ich mich selbst nicht erkennen, aber – in Turin – erhielt ich doch zumindest einen kleinen Einblick in einen Winkel meiner selbst. Ich möchte ihn nicht mehr verlieren.“

Wie Bertrand Russell in „Die Entwicklung meines Denkens“ sieht Ágnes Heller ihre theoretischen Felle davonschwimmen. Alles fließt. Alles ändert sich. Tempus fugit. Ihr Schreiben demonstriert Widerständigkeit und Selbstbewusstsein. Es demonstriert aber auch eine Trauer, keinen Begriff für das neue Jahrtausend gefunden, den Schmerz, die neuen Unübersichtlichkeit nicht mit neuen und ordnenden Strukturen gebändigt zu haben.

Russell, der zeitlebens nicht vom logischen Positivismus loskommen konnte, hätte laut eigenen Aussagen in seiner Autobiographie lieber Physiker werden wollen – und Ágnes Heller, die zeitlebens nicht die sprachontologischen Voraussetzungen ihres Marxismus und kritischen Denkens berücksichtigte, verblieb deshalb in einem Diskurs, der Letztbegründung suchte und den sie in Sisyphus-Manier Jahrzehnte hindurch bekämpfte:

„Bis heute verachte ich den sogenannten ‚wissenschaftlichen‘ Zugang zur Philosophie, das Eintauchen in reinen und gedankenlosen Professionalismus.“

Dass die Entscheidung im akademischen Bereich keine glückliche gewesen ist, zeigt vor allem ihr Resümee und die hindurchschimmernde Melancholie, wenn sie vom „Kerker der Gegenwart“ spricht. Ágnes Heller wie Bertrand Russell wie Jean-Paul Sartre (bspw. in „Die Wörter“) demonstrieren bedingungslose Ehrlichkeit. Sie suchen in der Selbstdestruktion noch den letzten Rest persönlicher Essenz zu erhalten und finden keine. Vielleicht ist das ihre Lehre: Hart, aber herzlich gegen sich selbst zu leben.


Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“

Eine sentimentalogische Reise in die Vergangenheit

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Eigentlich nach Selbstaussagen Dramatiker schreibt Christoph Hein seit 2002 nunmehr nur noch Romane und Prosatexte. Bekannt geworden durch „Der fremde Freund“ (auch erschienen als „Drachenblut“) behandelt Hein seitdem das Verhältnis Staat und Privatleben, also das Politische im Private, das Private im Politischen. 2021 erschien von ihm „Guldenberg“, in welchem er reichlich konstruiert, verwandt dem Lehrstück eines Bertold Brechts, Flüchtlinge, Vertriebene, Alteingesessene und bankrotte Unternehmer aufeinander pralllen lässt. In „Unterm Staub der Zeit“ schlägt er ganz andere, sanftere Töne an, die ihm mehr liegen:

Ich ging zu der Straße Unter den Linden, um zum Brandenburger Tor zu gelangen. An diesem Sonntag stand dort zur Mittagszeit eine riesige Menschenmenge, die von Polizisten zweihundert Meter vor dem Tor aufgehalten wurde und die schweigend, eingeschüchtert und grimmig die Absperrarbeiten beobachtete. Große Rollen mit Stacheldraht standen rechts und links, zudem Blechplatten und Eisenstangen. Zwischen den Arbeitern, die den Stacheldraht befestigten, liefen Grenzpolizisten mit umgehängten Maschinenpistolen, die sie schussbereit in der rechten Hand hielten.“

Der Ich-Erzähler seines Romanes heißt Daniel. Er muss als Pfarrerssohn in West-Berlin auf ein Gymnasium gehen, da ihm in der sowjetischen Besatzungszone der Zugang zur höheren Bildung aufgrund seines familiären Hintergrundes verwehrt bleibt. Der Hauptteil des Buches umfasst seine Zeit in dem Internat. Es geht um Schulaufgaben, die erste Liebe. Es geht um Streber, Wege, Geld zu verdienen, Großmäuler und Lehrerfiguren wie der Griechisch-Lehrer Michalka:

„Die Jahre in Griechenland bestimmten fortan sein Leben. Entlassen aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er Griechisch und, da es für das Neugriechische kaum einen Bedarf an Lehrern gab, auch Altgriechisch und erwarb die Facultas Docendi, die Lehrbefähigung. Durch seine Erzählungen und seine Begeisterung für Griechenland erwarb er sich den wohl nicht nur an unserem Gymnasium längsten Spitznamen eines Lehrers, hieß er seiner Geschichten wegen bei uns doch »Mit Kranichen zweispännig pflügen«.“

Am Ende geht es auch um den Ost-West-Konflikt, aber eben aus privater Perspektive, aus jener Daniels, der in die Untertertia (8. Klasse) geht und ganz andere Probleme hat, als sich um die Weltgeschichte zu sorgen. Die Fremdheit, die Verträumtheit zieht sich durch den Text hindurch. Etwas weltfremd taumelt er durch die Großstadt, die etwas von einem Märchenland in Dunst und Diesel erhält, hier Berlin, aber es könnte auch jede andere Millionenstadt sein, nur groß, unübersichtlich, aufregend, Konzerte im Sportpalast, amerikanische Prachtschlitten, und das Theater, die schillernde Bühnenwelt:

Am Abend des Konzerts übernahm Frieder die Aufsicht im Internat, und wir fuhren mit Faro in die Potsdamer Straße. Wir trafen sehr zeitig am Sportpalast ein, fast eineinhalb Stunden vor Beginn, doch die Potsdamer Straße war in der Höhe des Sportpalastes bereits voller Menschen, fast nur Jugendliche, die meisten trugen Jeans und Jeansjacken. Wir hatten Mühe, als geschlossene Gruppe bis zum Eingang des Gebäudes zu kommen, und wurden immer wieder angesprochen, ob wir nicht eine Karte zu verkaufen hätten.

Ganz im Gegensatz zu seinem Roman „Guldenberg“ schlägt Christoph Hein in „Unterm Staub der Zeit“ verträumt biographische Töne an. Alles bleibt vermittelt. Alles kindlich ummantelt, mysteriös, uneindeutig, nebelig. Auf diese Weise gelingt es ihm die Atmosphäre einer Großstadt aus der Sicht eines Schülers einzufangen – die Ecken, Nischen, Schatten, die Möglichkeiten, aber auch die Angst, erwischt zu werden, herumzustreichen, Geld zu machen. „Unterm Staub der Zeit“ erinnert an einen Erich Kästner aus „Emil und die Detektive“ und „Pünktchen und Anton“. Heins Roman erinnert auch an Heinrich Spoerls „Die Feuerzangenbowle“ oder stellenweise auch an Robert Walsers „Jakob von Gunten“ und das Institut Benjamenta. Hein legt keinen schnellen, aufregenden, besonders elaborierten Text vor, aber das Muffige und doch Abenteuerliche, das Staubige und doch Schillernde, das Langsame und doch Utopische einer Großstadt im Übergang wird von ihm auf indirekte Weise narrativ erstaunlich überzeugend eingefangen. 


Umberto Eco: „Die Insel des vorigen Tages“

Die Liebe zur Sprache als Sinnsuche auf den Sieben Weltmeeren.

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„Die Insel des vorigen Tages“ will ein Rätsel bleiben, ein Buch mit sieben Siegeln, das sich gegen das Entschlüsseln, Verstehen, das begriffliche Evozieren von Sinn wehrt. Eco zieht hierzu eine barocke, manieristische, überladende Sprache heran. Sie greift in das Wortmaterial ein, bläst die Sätze auf, lässt Adjektive, Appositionen hochfliegen und sammelt unten, im Staub, die Perlen eines verlorenen gegangenen Sinnes auf:

Vor der Nordspitze der Insel, wo sich eine fast glatte und senkrechte Wand erhob, entdeckte er aufsprühende Gischtfontänen, die an den Felsen schlugen und in der Luft zerstoben wie ebenso viele weiße Nönnchen. Sicher waren sie das Ergebnis von Wellen, die auf eine Reihe kleiner Felszacken schlugen, die er nicht sehen konnte, aber vom Schiff aus schien es, als bliese eine Seeschlange jene kristallenen Flammen aus der Tiefe empor.“

Worum geht es? Dreh- und Angelpunkt bildet das Problem der Vermessung der Welt in Längen- und Breitengrade. Roberto, der Protagonist, nach einer kleinen Odyssee durch den Mantuanischen Erbfolgekrieg, nach einem Umzug nach Paris, verliebt sich unglücklich in Lilia, gerät in die Kreise von Freimaurern und wird vor die Wahl gestellt, entweder wegen Hochverrats verurteilt und getötet zu werden, oder als Wiedergutmachung im Dienste ihrer Majestät einem Engländer hinterher zu spionieren, der einen Weg gefunden haben sollen, die Längengrade zu bestimmen. Der Clou – ein sympathetisches Pulver:

Auf die Frage, warum das Pulver nicht auf die Wunde gestreut werden müsse, sondern auf die Klinge, von der sie verursacht worden sei, hatte er gesagt, das eben sei die Wirkungsweise der Natur, zu deren stärksten Kräften die universale Sympathie gehöre, die das Handeln aus der Entfernung lenke.

Schlüssel zur Bestimmung der Längengrade ist die Synchronisation der Uhrzeit, da kein Fixpunkt wie der Polarstern am Himmel zur Verfügung steht, dessen variierende Höhe mittels nautischer Messgeräte den Breitengrad anzeigt. In Ecos Roman erfolgt diese Synchronisation vermittels des sympathetischen Pulvers. Eine Klinge verletzt ein Lebewesen. Die Klinge bleibt in Paris. Das Lebewesen reist mit dem Schiff, und zu jeder Mittagsstunde streut jemand in Paris Pulver auf die Klinge, so dass das Lebewesen an Bord aufheult und die Zeitdifferenz durch den Sonnenstand anzeigt:

Gut geschützt vor neugierigen Augen, in einer nach seinen Maßen gezimmerten Kiste, auf einer Schicht Lumpen, lag ein Hund. […] Er lag auf der Seite, mit flach hingestrecktem Kopf und heraushängender Zunge. An seiner Flanke klaffte eine schreckliche Wunde. Frisch und brandig zugleich, wies sie zwei breite rosige Ränder auf und in der Mitte, über die ganze Länge des Schnittes, eine eiternde Seele, die Quark auszuscheiden schien.

Ecos Roman verhandelt sämtliche Topoi der abendländischen Philosophie: die Existenz Gottes, der Wahrheit, die Einsamkeit, die Liebe und Hoffnung. Vor allem aber reflektiert „Die Insel des vorigen Tages“ Zeit, die Erzählzeit, die Lebenszeit, die Traumzeit, wie sich Sinn durch die Zeit bewegt und wie Narration auf dieser Reise, Romane, das Schreiben, die Imagination helfen, Sinn zu bewahren. Roberto schreibt Briefe, einen Roman im Roman. Er denkt und imaginiert sich in hoffnungslos gewordener Situation (er steckt auf einem Schiff fest mit der rettenden Küste in Sichtweite kann aber nicht schwimmen) und erschafft auf diese Weise ein buntes, utopisches Bild von seiner Geliebten, die auf ihn wartet. Mittels der Phantasie getraut er sich in die Fluten zu springen. Er fasst Mut, der sich allein, als Widerstandskraft, durch die Sehnsucht und seine Poesie ergeben hat.

Ecos Roman liest sich schwer, verschwurbelt, verwaschen, hier und da konfus schwadronierend, nichtssagend selbst, zusammengestückelt, wie ein Flickenteppich, beliebig, bis sich plötzlich, durch die Dauer des Lesens, des Verweilens, des aufmerksamen Verfolgens von Robertos Schicksal ein narrativer Raum freisetzt und alles, im Rückblick, mit Schwung, Schärfe und Deutlichkeit versieht. Eco gelingt ein eigenartiges Kunststück. Wo die Alchimisten scheitern, Blei in Gold umzuwandeln, spekuliert er erfolgreich mit den Elementen und erzeugt Intensität aus Nichtigkeiten, Spannung aus Langeweile. Es lässt sich kaum anders beschreiben. Roberto lebt. Er lebt mit seinem Mut, mit seiner Liebe. Er schwimmt in den Fluten, aber seine Sprache bleibt. Eco hat ein Buch über seine und die Liebe zur Literatur geschrieben.


David Foster Wallace: „Die Entdeckung des Unendlichen“

Nach Unendlicher Spaß nun Viel Lärm um nichts.

David Foster Wallace hat drei Romane geschrieben „Der Besen im System“, „Unendlicher Spaß“ und „Der bleiche König“, der Fragment geblieben ist. Neben den Romanen und auch Kurzgeschichten schrieb er für Zeitungen, hielt Reden, rezensierte. Seine Essays sind mehrheitlich auch auf Deutsch erschienen in Sammlungen, die bunte Namen tragen wie „Am Beispiel des Hummers“ oder „Der Spaß an der Sache“. Hinzukommen auch Sachbücher. Zu ihnen gehört „Die Entdeckung des Unendlichen“:

„Sobald eine Zahl all diesen Bedingungen [der logischen Konsistenz] genügt, kann und muss sie als existent und real in der Mathematik betrachtet werden. Hier erblicke ich [Cantor] den … Grund, warum man die rationalen, irrationalen und die komplexen Zahlen für durchaus existent anzusehen hat wie die endlichen positiven ganzen Zahlen.“

Foster Wallace zeichnet in seinem Buch die Geschichte des Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik nach. Dieser gipfelt in Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantors Bemühen über die rationalen Zahlen hinaus eine Zählbarkeit einzuführen, die sich überabzählbar nennt und die Grundlage für eine völlig neue Form der Mengenlehre und der Zahlen bildet. Wie genau Foster Wallace die Sache nimmt, lässt sich sofort an dem Zitat ablesen. Dort, wo bei Foster Wallace „den … Grund“ steht, heißt es im Original: „Hierin blicke ich den in §. 4 angedeuteten Grund“. Cantor weiß also selbst, dass er keinen Beweis für das gibt, was er behauptet. Der Grund bleibt angedeutet. Foster Wallace kümmert sich um solche Nebensächlichkeiten nicht, schließlich gilt es einen Helden zu verehren:

Die verführerischen [im Original steht sexy] Mathe-Ausdrücke spielen im Moment keine Rolle. Der Cantor der letzten Zeile ist Professor Georg F.L.P Cantor, geboren 1845, ein naturalisierter Deutscher aus Händlerschicht und anerkannter Vater der abstrakten Mengenlehre und der transfiniten Mathematiker. […] G.F.L.P. Cantor ist der bedeutendste Mathematiker des 19. Jahrhunderts und war eine sehr komplexe und leidvolle Persönlichkeit.

Nur, Foster Wallace bespricht weder die Person Cantors, noch die Psyche, noch seine Geschichte wirklich, noch geht er ins Detail der mathematischen Ausführen und Errungenschaften. Er schreibt im Stil einer Huldigung über das Problem einer Wissenschaft, das bis in die Gegenwart hineinreicht und das Feld der Mathematik in finite (computer- und ergebnisorientierte) und infinite (spekulative, ontologische) Mathematik teilt. Foster Wallace will davon nichts wissen und schließt:

In der reellen Mengenlehre haben wir es mit abstrakten Gesamtheiten so vieler abstrakter Objekte zu tun, dass diese nicht gezählt oder vervollständigt oder auch nur vorgestellt werden können … und trotzdem beweisen [im Original hervorgehoben] wir deduktiv und damit definitiv Aussagen ber die Zusammensetzungen und die Beziehungen zwischen diesen Gebilden.

Ohne auf die Bedingung der Möglichkeit von Beweisen einzugehen, bspw. die Anschaulichkeit der vorgestellten Größen, die Widerspruchsfreiheit der Annahmen, bleibt David Foster Wallaces Sachbuch ein Pfeifen im dunklen Wald. Leider informiert es nicht noch belehrt es. Es feiert, aber was es feiert, wird nicht so richtig klar. Für viele hat Cantor die Mathematik in zwei Teile geteilt. Der eine glaubt, was er glaubt, solange das Gegenteil nicht bewiesen wird (aber Erfundenes, egal wie konsistent, kann nicht widerlegt werden), und der andere schaut schockiert weg und entwickelt Algorithmen zur Lösung von Problemen, die den ersteren trivial vorkommen. David Foster Wallace hat mit seinem „Die Entdeckung des Unendlichen“ keiner der beiden Seiten einen Gefallen getan.


Ágnes Heller: „Die parallele Geschichte von Tragödie und Philosophie“

Von einem Ende, das ein Anfang ist. Eine Philosophin zieht Bilanz.

Àgnes Heller, Nachfolgerin aus Hannah Arendts Lehrstuhl für Philosophie in New York, Schülerin von Georg Lukács, kosmopolitische Globetrotterin starb kurz vor Fertigstellung dieses ihres letzten philosophischen Werkes im Alter von fast 90 Jahren. Es ist eine eigenartige Mixtur. Das vorab. Halb Theaterlexikon, halb Opernführer, räsonierend freundlich und doch unnachgiebig präzise in der Kategorieführung:

Ontologisch gesehen, so Platon, nehmen Philosophie und Dichtung zwei extreme Positionen des Kontinuums ein. Die Philosophie führt den Menschen von der empirischen Welt zur realen und wahren, von der Dunkelheit zum Licht der Sonne. Die Poesie hingegen ahmt die Welt des Schattens nach, und als solche ist sie der Schatten des Schattens.“

Heller denkt in Nachfolge eines dissidenten Lukács, querbeet durch Michel Foucault, Jürgen Habermas, Jacques Derrida zu Theodor W. Adorno, nach vorn und zurück. Die Zeit der Tragödie ist vorbei. Die Zeit der Philosophie auch. Die Kategorien der Individualisierung haben sich entwickelt, die vollumfängliche Verantwortlichkeit für das Hier und Jetzt von allen etabliert und vor Augen geführt. Heller lässt an ihrem Ansatz, wie materialistisch-gesättigt, keinen Zweifel:

„Das Neugeborene ist ein absolut einzigartiges Wesen und auch ein absolut universelles Wesen (ein Homo sapiens mit einzigartiger genetischer Ausstattung). Das Besondere, die Vermittlung zwischen dem Singulären und dem Universalen, ist außen, man muss es verinnerlichen, indem man sich selbst aktiv externalisiert.“

Aus dieser Sicht betrachtet sie das kulturgeschichtliche Bemühen um Ausdruck. Es blüht dort, wo eine Zeitenwende sich ankündigt und letztlich vollzieht, vor allem, in begrifflicher Weite und theatraler Gestik in Philosophie und Theater. Die Philosophie ist die Probe aufs Exempel, die das Theater inszeniert. Auf Sophokles und Aristophanes folgt Platon. Auf Shakespeare, Racine folgen Kant und Hegel. Das war’s. Der Rest schmückt Details aus, zieht ein paar Querverbindung, improvisiert auf ein paar mehr Kontroversen und Begrifflichkeiten. Der Rahmen jedoch bleibt gesteckt:

„Das Ende der Geschichte ist – im Verständnis Hegels und meiner selbst – kein Niedergang, sondern das Ende der Selbstentwicklung Europas bis zum Höhepunkt dieser Entwicklung, als es seine Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Nachdem Europa alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, kam es in der Moderne an. […] Die große Erzählung ist beendet.“

Was nach Jean-François Lyotard endet, ist der Bogen und gemeinsame rote Faden durch alle möglichen Details. Das Individuelle und Freie lässt sich nicht mehr wegdenken. Es erlaubt allen nach Lust und Laune zu denken, zu philosophieren. Die Steine sind aus dem Weg geräumt worden – es gibt kein allgemeines Problem von Rang mehr. Nun gilt es, nach Heller, diese Passhöhe zu genießen, zu feiern, ja, auch zu schützen.

Sie schrieb das Buch mit fast 90 Jahren, geht durch die gesamte Theatergeschichte, fast die wesentlichsten Philosophien zusammen, und endet mit einem Aufatmen und Nach-vorne-Schauen. Dass sie sich nicht für Kybernetik, nicht für Systemtheorie erwärmen konnte, spielt keine Rolle. Ihr Buch bietet eine wunderbare Quelle und Provokation und Schwelle für jeden Gedanken, der sich im Feuerbad der Historie und in der eisigen Wüste der Abstraktion bewähren möchte. Mit Heller gibt es sowieso kein Zurück mehr.


Max Frisch: „Stiller“

Eine harte, alles mit sich reißende, schonungslose Selbstzerfleischung

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Erschienen ist Max Frischs „Stiller“ 1954 und verhalf ihm zum Durchbruch. Es ist sein umfänglichster und am stärksten ausgearbeiteter Roman mit vielen Ebenen, narrativen Brüchen, Zeit- und Ort- und Perspektivwechseln, vor allem aber ein Dokument eines vollumfänglichen Scheiterns, seinem Leben einen Sinn zu geben:

„Warum ich zurückgegangen bin? Aus Besoffenheit, mein Lieber, aus Trotz. Du mit deinen noblen Meinungen! Geh in ein Kasino, schau sie dir an, wie sie weiterspielen, wenn sie verlieren, immer weitersetzen. Genau so! Weil’s einen Punkt gibt, wo sich das Aufgeben nicht mehr lohnt. Aus Trotz, ja, aus Eifersucht!“

Der Spieler, der um die Gunst seiner eigenen Ehefrau buhlt, ist Stiller. Nach unglücklichen Affären verschwindet Stiller aus dem Leben seiner Frau, Julika, die zu diesem Zeitpunkt, an Tuberkulose erkrankt, in einem Sanatorium in Davos weilt, und kehrt nach sechs Jahren unter falschen Namen zurück. Er wird in Untersuchungshaft genommen, leugnet aber er selbst zu sein.

„Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere.“

Mit diesen Passagen beginnt eine furiose Flucht vor sich selbst und den Erwartungen, Ansprüchen, den Hoffnungen seiner Mitmenschen zu entsprechen. Stiller will einfach kein ordentliches, bürgerliches Leben in Zürich zu führen. Er hetzt über die Schweiz. Er hetzt über die Ehe. Er hetzt über sich selbst. Er lässt keinen Stein auf dem anderen und reißt alles mit sich, seine Frau Julika eingeschlossen. Max Frischs „Stiller“ lässt sich am besten als konsequent durchgeführte Selbstbeschimpfung beschreiben, die Wut über sich, der Zorn, nicht mehr zu sein, mehr zu können, die vollendete Desillusion, verurteilt zu bleiben, mit diesen und keinen anderen Gefühlen, mit diesen und keinen anderen Süchten und Schwächen leben zu müssen:

„Stiller gefiel sich (so sagt sie) in seiner Verwundung; er wollte nicht damit fertig werden. Er verschanzte sich. Er wollte nicht geliebt werden. Er hatte Angst davor. »Nun weißt du’s«, schloss er und räumte die Gläser weg, »warum ich [damals im Spanischen Bürgerkrieg] nicht geschossen habe. Wozu diese Anekdote! Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich noch davon geträumt: ich möchte schießen, aber es schießt nicht – ich brauche dir nicht zu sagen, was das heißt, es ist der typische Traum der Impotenz.«“

Max Frisch inszeniert erbarmungslos die Geschlechteridentitäten und -stereotypen der 1950er Jahre, das Gefängnis, den Kerker, die leblosen, gespenster- und spukhaften Gespräche zwischen Menschen, die frei sein wollen, aber nicht können, und statt dessen trinken und rauchen und rauchen und trinken, um im Leiden und im Leiden-Lassen einen Existenzgrund zu finden und zu etablieren. Am Ende, in der völligen Desillusion, bleibt nichts vom Leben mehr übrig. „Stiller“ endet in der ethisch-moralischen Diaspora einer sinn- und glückentleerten Existenz.

Dynamisch, abwechslungsreich dekliniert Frisch männliche Selbstallüren bis zum Stierkämpfer und Revolutionär, Weltenbummler, Ehegatten, Künstler und Trinker durch. Sprachlich nüchtern, aber voller narrativer Ideen stürzt sich der Roman in die philosophischen Untiefen, weshalb Existenzialismus, ob Kierkegaardscher oder Sartrerscher Provenienz, nicht ausreicht und Intellektualismus zum Scheitern verurteilt ist. Eine harte, alles mit sich reißende Selbstzerfleischung, die darin noch einen Nachweis von Ausgewähltheit sucht, bis auch diese Hoffnung im Nichts verpufft. Vergleichbar mit beispielsweise J.M. Coetzees „Schande“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“, nur philosophischer, etwas verklärter, weniger sexuell als romantisch aufgeladen.


Lukas Bärfuß: „Die Krume Brot“

Schwester Leichtfuß ins offene Messer laufen lassen.

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Lukas Bärfuß, der vielfach preisgekrönte, u.a. 2019 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftsteller, beschäftigt sich in seinem neuesten Roman „Die Krume Brot“ wortgewandt mit dem Prekariat. Im Vordergrund steht die Geschichte Adelinas, die sich in den 1960er und 1970er Jahren in Zürich mehr schlecht als recht durchschlägt und vom Regen in die Traufe kommt:

„Ist das gerecht, Adelina? Die Welt ist ein Brandofen, eine Mühle, ein Häcksler, sie hackt die Menschen klein, tötet sie auf tausendundeine Art und Weise, das Universum kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, das Leben zu vernichten, durch Gift, durch Feuer, durch Aufprall, durch krankhafte Zellteilung, durch Entzündung, auch deines wird der Tod holen.“

Adelina kommt aus einfachen Verhältnissen, der Vater verschuldet, die Mutter verblendet, belasten ihren Lebensweg von Anfang mit einer schweren Hypothek. Bevor ihr Leben anfängt, sie eine Lehre abschließen kann, wird sie schwanger. Bevor sie eine richtige Arbeit findet, ist sie schon verschuldet, und bevor ihr sie Lesen und Schreiben lernt, muss sie sich bereits um die Erziehung ihrer Tochter Emma kümmern. In aneinandergereihten Appositionen, in Kaskaden von Gedanken, Beschreibungen, in einer Flut von Problemen inszeniert Bärfuß in „Die Krume Brot“ die radikale Überforderung seiner Protagonistin, mit dem Verhängnis und Unbill ihrer Existenz zurechtzukommen:

„Ihr Geist sucht verzweifelt einen Ausweg aus dieser Panik und heftet seine Aufmerksamkeit an die seltsamsten, nebensächlichsten Dinge: eine verlauste Taube, eine Zeitung, die über die Straße weht, eine Kühlerfigur. Zu jedem Bild formuliert der Geist einige Worte: arme Taube, schmutzige Stadt, schönes Auto, als wolle er sich ablenken, als wolle er sich zwingen, nicht in diesen Mahlgang zu rutschen, nicht zwischen die Steine zu geraten, die jede Vernunft und jede Hoffnung zerreiben und zermalmen, und der nächste Gedanke verschwindet im gleichen Wirbel, kippt in die Not, stürzt in Adelinas Magen, dessen Wände sich konvulsivisch bewegen.“

Gekonnt, verdichtet, fast wie einen hymnischer Singsang beschreibt Bärfuß den von Anfang an als unaufhaltsam bezeichneten Niedergang Adelinas. Personal erzählt, aus ihrer Sicht, schaltet sich ab und zu ein Erzähler aus dem Hintergrund ein und prophezeit ihr Unglück, das Pech, die kommenden Verletzungen, die drohenden, bereits hinter den Kulissen entschiedenen Niederschläge und Niederlagen, ganz wie ein Chor in antiken Tragödien. Inhalt und Stil geraten in Schieflage. Adelina, immerhin Erfindung des Erzählers, wird sprachlich einfallsreich von Schritt zu Schritt vorgeführt. Sie macht alles falsch. Sie ist nicht gegen die Komplexität dieser Welt gewappnet. Im Gegenteil, sie fällt auf jeden Trick, jede Fall herein:

„Sie fürchtete sich vor ihm und bewunderte Renato gleichzeitig für seine Klugheit, wie er ihren Gedanken zuvorkam und jeden Widerspruch, den sie innerlich formulierte, in Worte fasste und wieder einfing. Wie ein Pferd an einer Longe führte er sie, er ließ sie Kapriolen machen, bevor er die Leine straffte. Adelina merkte es, sie revoltierte, aber sie wehrte sich nicht lange und ließ sich zügeln.“

Erbarmungslos, im Eiltempo, rattert die Lebensgeschichte Adelinas an einem vorüber. Die Fahrt ins Verderben lässt sich nicht aufhalten. Überlegen legt der Autor ihr die Karten und lässt sie dezidiert an sich selbst und ihren Entscheidungen zugrunde gehen (u.a. Annahme des väterlichen Erbes, ein Kind in äußerster finanzieller Not, Unterzeichnung von Knebelverträgen). „Die Krume Brot“ beschreibt, wie Adelina langsam ins offene Messer rennt, bis sie nichts mehr zu verlieren hat.

Rahmen und Erzählposition wirken unempathisch, die Einbettung in den historischen Kontext aufgesetzt, die schlecht verpackte sozioökonomische Erklärung konstruiert, bis gewollt und altbacken, und steht im äußersten Widerspruch zu der bis ins letzte Detail beschriebene Eigenverantwortlichkeit Adelinas, die, so der Tenor von Lukas Bärfuß‘ Roman, einfach zu unvorsichtig, leicht- und gutgläubig, und kurzsichtig durchs Leben gegangen ist. Sprachlich versiert, dicht und abwechslungsreich bleibt ein fader Geschmack übrig, wenn nämlich Sprachfreude in Weltverzweiflung umgemünzt wird.


J. M. Coetzee: „Warten auf die Barbaren“

Die Flucht vor sich selbst, die nicht gelingt. Schonungslose Selbstabrechnung.

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J. M. Coetzees Roman spielt in einem Grenzgebiet eines Großreiches, das von einem Magistraten/Richter, je nach Übersetzung, verwaltet wird. Der Protagonist, ein alter, dicker familienloser Mann, der archäologische Nachforschungen anstellt und ansonsten seine Zeit in Bordellen verbringt, bleibt namenlos und stellt sich nach und nach gegen die Methoden und Verhörtaktiken, insbesondere gegen die Folter und Verstümmelung von Gefangenen, die von dem Geheimdienst des Reiches angewendet werden, um von Kriegsplänen zu erfahren, die die Barbaren möglicherweise im Schilde führen:

„Was sie in diesen fünf Tagen durchgemacht haben, weiß ich nicht. Nun steht diese von den Wachsoldaten zusammengetriebene, elende Schar in der Ecke des Hofes, Nomaden und Fischer zusammen, krank, ausgehungert, verletzt, verängstigt. Es wäre am besten, wenn dieses finstere Kapitel der Weltgeschichte mit einmmal abgeschlossen, wenn diese widerlichen Menschen von der Oberfläche getilgt würden und wir versprechen müßten, neu zu beginnen mit einem Reich, in welchem es keine Ungerechtigkeiten und keinen Schmerz mehr gäbe.“

Der zentrale Konflikt von „Warten auf die Barbaren“ verläuft zwischen dem Magistraten/Richter und den Vollstreckern der Zivilgarde, insbesondere den Vertretern einer Abteilung namens das dritte Büro. Diese nämlich schlagen eine für den Richter zu harte Gangart gegen die indigene Bevölkerung an. Im Gegensatz zu der Zivilgarde will der Richter nämlich zum Frieden zwischen den Besatzern und Einheimischen beitragen. Die Zivilgarde jedoch eskaliert den Konflikt. Nach dieser etwa 100 Seiten langen Exposition des Themas, auf denen er viel Sex mit Frauen hat, die sich ihm nicht verweigern dürfen, beginnt der Richter seinen märtyrerhaften Widerstand. Er bringt eine gefangengenommene Barbarin zurück zu ihrem Stamm:

„Und hier stehe nun ich und versuche, Beziehungen zwischen den Menschen der Zukunft und den Menschen der Vergangenheit herzustellen, und bringe unter Entschuldigungen einen ganz und gar geschundenen Körper [den der Barbarin] zurück – ein Vermittler, ein Wolf des Reiches im Schafspelz!“

Nach seiner Rückkehr wird er dafür bestraft und seines Amtes enthoben. Er lebt als Bettler und Penner auf den Straßen seines einstigen Verwaltungsbezirkes und sieht sich als Märtyrer. Coetzee beschreibt gnadenlos die Selbstverleugnung des Richters, der in Frieden genießen will, was andere für ihn gewaltsam erobert haben. Er hofft auf die freiwillige Unterwerfung der Barbaren. Er hofft auf ein gutes Gewissen, eine reine Weste, die er sich durch selbstauferlegtes Leid reinzuwaschen sucht. Nach und nach jedoch wird er der Vergeblichkeit seines Unternehmens und der Lächerlichkeit seines Versuches immer mehr gewahr:

„Denn ich bin nicht, wie ich es gern gehabt hätte, das gutmütige, den Lebensfreuden zugewandte Gegenstück des kalten, strengen Obersten [des dritten Büros] gewesen. Ich bin die Lüge gewesen, die das Rich in ruhigen Zeiten sich selber erzählt, er die Wahrheit, die das Reich ausspricht, wenn rauhere Winde wehen. Zwei Seiten des imperialen Regierens, nicht mehr, nicht weniger.“

Worauf es dem Richter nämlich bis zum Schluss ankommt, was er nicht aufgibt, nicht aufgeben will oder kann, ist, die Frauen in der Stadt, in der Kaserne nach Belieben gewaltsam zu benutzen. J.M. Coetzee zeichnet nach ersten, sehr abstrakten, fast beschreibungslosen 100 Seiten eine Welt des Grauen, der Naturgewalten, der psychologischen Untiefen und Verlogenheiten nach, die bis zum Schluss an Intensität gewinnt und „Warten auf die Barbaren“ an die Seite von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ stellt. Wie in „Schande“ thematisiert er auf Lust, Gehorsam und Rachsucht basierende Männlichkeit, die sich in narzisstischer Selbstverleugnung hinter Bildung und guten Willen, ja Kultiviertheit und Zivilisiertheit tarnt, aber im Grunde nur danach lechzt, Gewalt über andere, insbesondere über Frauen auszuüben.

Verwandt mit Dino Buzattis „Die Tartarenwüste“ und Philip Roths „Der menschliche Makel“, stellt J.M. Coetzee den männlichen Widerpart zu Jelineks „Lust“ dar, die gleichermaßen unverhohlen die Zivilisation entkleidet und nackt vor die Augen eines kulturbeflissenen Publikums stellt.


Simon Strauß: „Zu zweit“

Spätromantische Züge, geheimnisvoll, intensiv und schattiert … was nach einer Katastrophe übrigbleibt.

In einer schnellen, gehetzten Welt, in der sich die Ereignisse, Urteile und Wertungen nur so überschlagen, erfreut sich der Kurzroman immer größerer Beliebtheit. Viele Romane umfassen heutzutage nicht mehr als 200 Seiten, oft sogar noch weniger. Simon Strauß legt mit „Zu zweit“ einen solchen minimalistischen Roman vor, aber im Gegensatz zu vielen verlangsamt er trotz aller Kürze die Zeit, gebietet ihr Einhalt und erzählt, scheinbar, von Wort zu Wort immer langsamer, bis alles in Erzähl- und Lesewelt zum friedlichen Stillstand kommt:

Der Regen hat aufgehört. Über ihm am Himmel ziehen dunkle Wolken. Kein Licht, keine Laterne – es kommt ihm vor, als wäre der ganzen Stadt ein schwarzes Tuch über den Kopf geworfen worden. Unter ihm, etwa auf halber Höhe des Mäuerchens, fließt die Flut vorbei. In der kleinen Nebenstraße, an der das Haus liegt, scheint die Strömung noch nicht so stark. Vorsichtig schaltet er seine Taschenlampe wieder ein und leuchtet langsam von links nach rechts.

In Strauß‘ Erzählwelt existieren keine Namen. Weder der Ort noch die Figuren noch die Dinge erhalten einen. Es gibt den Verkäufer, die Vertreterin, die Anwältin, die Katze, die Kirche, die Stadt, aber alles bleibt vage, denn die Welt liegt in Trümmern. Eine Flut hat die Stadt heimgesucht. Sie ist evakuiert worden, und der Verkäufer, vergessen und zurückgelassen, sucht nach weiteren Überleben und Lebenszeichen, findet aber keine. Er ist allein:

„Unruhig lässt er den Lichtkegel seiner Taschenlampe kreuz und quer über das vom Wasser geflutete Gelände schweifen, watet nach links, nach rechts. Schließlich ruft er in die Dunkelheit hinein, aber alles bleibt ruhig. Nur ein paar plantschende Gartenzwerge grinsen ihm hämisch entgegen.“

Unheimlich, in Sprache und Stil an Alfred Kubins „Die andere Seite“ erinnernd, spielt Strauß mit der Atmosphäre einer vereinsamten Stadt voller Schatten und Geräusche. „Zu zweit“ erinnert im ersten Teil auch an Guido Morsellis „Dissipatio humani generis“, aber dann trifft der Verkäufer auf die Vertreterin, und sie sind plötzlich zu zweit.

„Einen Augenblick lang kommt er ihr bekannt vor. Aber dann verlischt die Laterne, und das Gesicht des Fremden verschwindet im Dunklen. Sie spürt, wie er sich ruckartig aufsetzt. Schon will sie zurückspringen, um sich in der Kajüte zu verschanzen, als sie ihn mit gedämpfter Stimme flüstern hört: »Das kann doch nicht wahr sein.«“

Von dort an sitzen sie, um sich eine herum eine Welt in Aufruhr, in Angst und Schrecken, gemeinsam, voreinander, ohne zu sprechen. Sie schauen sich an. Sie halten, kurz, die Hand des anderen. Sie helfen sich. Es gibt nicht viel zu sagen, wenn alles in Schutt und Asche liegt. Erinnerungen steigen auf. Pointiert, knapp, einem Robert Walser aus „Der Gehülfe“ oder einem Franz Kafka aus „Betrachtung“ und dort mit der Kurzerzählung „Der plötzliche Spaziergang“ verwandt, vermag Strauß sybillinisch von einem Zusammenfinden und Zueinanderhalten berichten, das über Worte hinausgeht, aber durch Worte gestaltet wird.

„Unten tritt er mit dem Fuß gegen eine große Blechtonne ohne Aufschrift. Neben einem Haufen achtlos übereinandergeworfener Bretter fällt sein Blick auf zwei Mäusekadaver. Dicht beieinander liegen sie, wie ein altes Paar, das noch ein letztes Bad im Staub genommen und sich dann gegenseitig den Rücken sauber geleckt hat.“

„Zu zweit“ besitzt spätromantische Züge, geheimnisvoll, schattiert. Wer den Blick in die Dunkelheit mag, wer gewillt es, auch zwischen den Zeilen zu lesen, Komplexität, Vielschichtigkeit nicht scheut, der wird an diesem äußerst musikalischen, stilistisch feingearbeiteten, ins letzte Detail ausgearbeiteten und in sich harmonischen und ausgewogenen Kleinroman von Simon Strauß seine Freude haben und kann die Lektüre mit Leona Stahlmanns „Diese ganzen belanglosen Dinge“ von 2022 fortsetzen.


Wisława Szymborska: „»Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln«“

Feinzisilierte Rhetorik von literarischen Verrissen aus dem Ärmel geschüttelt, leider mit wenig Substanz.

Die Lyrikerin und Literaturnobelpreisträgerin von 1996 Wisława Szymborska verdiente ihr Geld auch mit feuilletonistischen Arbeiten und betrieb eine Kolumne namens Poczta Literacka („Literarische Post“) in der polnischen Wochenzeitschrift »Literarisches Leben«, aus der nun ausgewählte Antworten in Form von dem Band „»Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln«“ vorliegen. Die Antworten richten sich an verzweifelte angehende Autoren und Autorinnen, die auf Publikation hoffend, ihre Entwürfe an die Literarische Post schickten mit, zumindest angesichts der vorliegende Auswahl, meist abschlägigem Ergebnis:

„Lieber Anselm aus Breslau, dem schönen, schade, dass wir das Poem nicht aufnehmen können, der Sinn ist edel und erhaben der Ton, das Ganze jedoch recht monoton.“

Der Auswahlband mit dem Untertitel „Anregungen für angehende Literaten“ umfasst lediglich 140 Seiten und liest sich schnell und unbekümmert, denn Szymborska nimmt kein Blatt vor den Mund und schwatzt drauf los. Leider fehlen Datum und Quelle und sonst irgendwelche Angaben, die die ausgewählten Passagen in Zusammenhang setzen könnten oder so etwas wie eine Entwicklung der Antworten nachzeichnen würden. So stehen sie nur als loser Verbund artistischer Verrisse

Die Korrespondenzpartner unseres »Briefkastens« neigen dazu, die Liebe als »Phänomen an sich« zu betrachten. Sie glauben, wenn sie den beiden Protagonisten Namen geben und sie in einem Zimmer mit Bett unterbringen, haben wir schon alles, um dieses populäre Gefühl zu verstehen. Genau durch diese Art von Erzählungen verläuft die Grenze unserer Geduld.“

Um „Anregungen für angehende Literaten“ handelt es sich im Grunde nicht. Die Kritiken können nicht ernstgemeint didaktisch wirken. Für Szymborska besitzt jemand Talent oder nicht, Genie oder nicht, Instinkt oder nicht. Schreiben in ihrem Sinne hat nichts von einer Fleißarbeit wie folgendes Zitat belegt:

Die Literatur besitzt keinerlei technische Geheimnisse, jedenfalls keine, die ein begabter Laie (denn einem Dummen hilft auch kein Diplom) nicht ergründen könnte. Sie ist die am wenigsten professionelle von allen künstlerischen Disziplinen. Man kann Schriftsteller werden, wenn man zwanzig oder wenn man siebzig ist. Als Autodidakt oder als Professor. Ohne das Abitur zu haben (wie Thomas Mann) oder als Doktor honoris causa vieler Universitäten (wie derselbe). Der Weg in den Parnass ist für alle offen. Natürlich nur scheinbar, denn im Grunde entscheiden die Gene.“

Diese Meinung ändert Szymborska im Laufe der Antworten nicht. Vor dem Hintergrund dieser sehr klaren Differenz, jemand ist Literat oder eben nicht, verwirft sie die meisten Versuche, mehr oder weniger freundlich, humoristisch, doch stets definitiv und vernichtend. Der Ton verliert sich nie ins Unfreundliche. Er bleibt gesittet, fröhlich, wie es sich unter Gleichgesinnten und Gleichinteressierten versteht. Etwas von der Aura der Grande Dame eines intellektuellen Salons des 18. Jahrhunderts schimmert durch die Zeilen hindurch, wie ihr Landsmann Adam Zagajewski bereits an anderer Stelle formulierte. Dass der Verlag dennoch das Buch mit dem Untertitel „Anregungen für angehende Literaten“ herausbringt, lässt sich kaum verstehen, denn sie schreibt:

Nein, Handbücher zum Verfassen von Romanen gibt es bei uns nicht. Angeblich erscheinen solche Werke in den USA, aber deren Wert wagen wir zu bezweifeln, aus dem einfachen Grund: Ein Autor, der ein zuverlässiges Rezept für literarischen Erfolg kennt, würde selbst davon Gebrauch machen und sich seinen Lebensunterhalt nicht mit dem Schreiben von Handbüchern verdienen. Richtig? Richtig.“

Der Band hat etwas Vernichtendes, etwas leicht Sadistisches und Nachtretendes. Hier spricht eine Literaturnobelpreisträgerin avant la lettre und belustigt sich über den Kitsch, den sie zur Begutachtung vorgelegt bekommt. Ein paar Einsichten lassen sich aus dem Geplauder herausziehen. Ein paar, und die Lektüre dauert auch nicht lang, wieso auch nicht, denn über Geschmack lässt sich gemeinhin trefflich streiten oder auch nicht.


Birgit Birnbacher: „Wovon wir leben“

Unentschieden und doch eindringlich, eine Mutter-Tochter-Schmonzette.

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Milva, eigentlich Maria Ilva Biolcati, war eine italienische Schlagersängerin, die über viele Jahrzehnte sehr erfolgreich und europaweit mit ihren Songs gewirkt hat. 1990 erschien von ihr das Album „Ein Kommen und Gehen“ und auf diesem singt sie das Lied „Ich bin ganz ich“, das das zentrale Leitmotiv von Birgit Birnbachers neuestem Roman „Wovon wir leben“ angibt:

„Ich leb dir nach – du lebst mir vor
Wir leben auch getrennt d’accord
Wir passen in die gleichen Schuh
Was ich auch träume oder tu –
Ich bin ganz ich, ich bin ganz du“

Birnbacher und Milva sprechen von einer Mutter-Tochter-Beziehung, von der Liebe, den Verpflichtungen, den Träumen, die beide ineinandersetzen. Bei Birnbacher liest sich das aus der Sicht der Tochter wie folgt:

„Die Wellen schaukeln uns. Ich lehne den Kopf zurück, ich atme. Atme Mutter auf dem Boot ein, Mutter im Nachtzug, Mutter bei der Obsternte. Atme Erdbeeren, Pfirsische. Ihre neuen Beine, ihre perlenden Neuigkeiten, ihre nackten Füße in den zu großen Schlapfen. So, wie Vater gemeint hat, enden Frauenleben eben nicht. Weil Frauenleben so nicht enden, hat sie den roten Koffer genommen und sich in den Zug gesetzt.“

Birnbacher gewannt 2019 den Ingeborg-Bachmann Preis mit dem Text „Der Schrank“. Nach „Ich an meiner Seite“ von 2020 hat sie nun „Wovon wir leben“ weitere drei Jahre später herausgebracht. Es ist ein sentimentales Buch. Der Ton bleibt nüchtern, distanziert, zweifelnd. Die Ich-Erzählerin, Julia Noch, krempelt ihr Leben um, nachdem sie als Krankenschwester einer Patientin namens ‚Schwartz‘ ein Medikament verabreicht hat, dass sie ihr gar nicht spritzen hätte dürfen. Sie hat aber auf den falschen Patientenbogen geschaut, nämlich auf den einer Patientin namens ‚Schwarz‘, und durch diese Verwechslung kam es zu einem anaphylaktischen Schock, den die Patientin knapp und nur durch Glück überlebte:

„Ich erinnere mich nur an ihr geschwollenes Gesicht, das jetzt rötlich blau ist, und dass ich auf die Einstichstelle starre, die Aufschrift auf der Ampulle lese, gerade noch fähig, zu begreifen, dass z nicht tz ist und dass bei tz eine Medikamentenallergie vorliegt, nur eine einzige, nämlich die gegen den Wirkstoff, den ich gerade verabreicht habe. Dann drücke ich den einzigen Alarmknopf, den ich von meiner Position aus erreiche, den Herzalarm.“

Julia, zeitlebens Asthmatikerin, erleidet einen Schock und eine darauffolgende Atelektase. Sie bekommt kaum Luft. Sie akzeptiert die Kündigung und zieht zurück zu ihren Eltern aufs Land, wo sie feststellen muss, dass sich ihre Mutter mittlerweile aus dem Staub gemacht und ihren Ehemann und ihren, wegen einer nicht behandelten Meningitis, geistig schwer behinderten Bruder allein zurückgelassen hat. Der Bruder lebt im Sanatorium, der Vater aber allein im Haus und kann nicht für sich sorgen. Julia will aber nicht. Dieser Konflikt treibt das ganze Buch.

„Wie hat [Vater] sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

In 31 sehr kurzen Kapiteln rekapituliert Birnbacher die langsame und beschwerliche Emanzipation von Julia, die stets auf der Schwelle zu Selbstzweifeln und Selbstaufgabe bleibt. In nüchternen, schnellen Passagen werden Liebesszenen, Schuldgefühle, Zukunftshoffnungen abgespult, die in der gedrängten und aufs äußersten verdichteten Form mehr Stimmung als Sinngebung erzeugen. Julia bleibt als Figur unnahbar, wie die Mutter, wie der Vater. Alles scheint von außen zu kommen. Alles scheint von außen vorbestimmt zu sein. Die Sprache gleitet fremd und als Zierrat auf den Ereignissen wie Schaum auf dem Sekt herum. Das innere Thema, die Selbstbeschränkung und Selbstbeobachtung, hätte von einer stärkeren, noch assoziativeren Sprache, von mehr Lyrismus, mehr Zerrissenheit, mehr indirekt narratives Beschreiben profitiert. Erzählposition und Erzählstil wollen nicht so recht zusammenpassen. Sie sind, um mit Milva zu sprechen, ein ganz anderer Schuh.

Vom Stil her viel zu sehr plotgetrieben, in einfacher Sprache bleibt die Beschreibung der diffizilen Problemen und Schuldgefühlen etwas auf der Strecke. Mehr Humor wie in Daniela Kriens „Der Brand“ hätte dem Roman gestanden, oder betont-gewollte Larmoyanz wie Kristine Bilkau in „Nebenan“ – wenn nicht in diese Richtung, dann hätte ein krasser, heftiger Stil à la Elfriede Jelineks „Gier“ oder „Lust“ oder Sibylle Bergs „GRM“ und „RCE“ oder „Und ich dachte, es sei Liebe“ dem psychosozialen Dynamit der Szenerie und seine Dringlichkeit mehr Intensität verliehen; oder eben weiterhin ländlich sentimental, aber mit Wucht wie Agustina Bessa-Luís in “Die Sibylle”.

Amélie Nothomb: „Der belgische Konsul“

Minimalistisch verkürzt, Parodie und Roman-Poutpourri

Amélie Nothomb hat seit 1992, von „Die Reinheit des Mörders“ an, fast durchgängig jedes Jahr einen Roman veröffentlicht. Der letzte in dieser Reihe heißt „Der belgische Konsul“ und umfasst 140 Seiten Der Roman erzählt die Lebensgeschichte des Vaters der Autorin, Patrick Nothomb, bis zum Jahr 1964, als es im heutigen Kisangani, im Norden der Demokratischen Republik Kongo, zu einer großen Geiselnahme kam, in der er als belgischer Diplomat und selbsternannter Unterhändler fungierte:

Als ich vor rund zwanzig Minuten hörte, wie jemand meinen Namen schrie, war mir sofort klar, was das bedeutete. Und ich schwöre, ich habe vor Erleichterung geseufzt. Wenn ich getötet werde, muss ich nicht mehr reden. Seit vier Monaten verhandle ich um unser Überleben, vier Monate endloser palabres, um unsere Ermordung hinauszuschieben. Wer wird jetzt für die Geiseln eintreten? Ich weiß es nicht, und das macht mir Angst, aber ein Teil von mir ist erleichtert: Endlich werde ich schweigen können.

Nun, in Nothombs winzigen Roman stellt die Geiselnahme nur eine Fußnote in der Geschichte Patrick Nothombs dar. 90% seines Textumfanges handeln ausschließlich von seinem Werdegang, seiner Jugend und Kindheit. Der komplexe Hintergrund des Geschehens in Kisangani bleibt völlig im Unklaren. Im Unklaren bleibt auch der Charakter des Protagonisten, denn seine Erleichterung, endlich schweigen zu dürfen, scheint im ganzen Text nicht durch und steht im eklatanten Widerspruch zu seinen Vatergefühlen für seinen Sohn André und seine neugeborene Tochter:

Immer, wenn ich nicht fürchten musste, ihn zu stören, drückte ich André an mein Herz. Und bei jeder Umarmung trat das Wunder von Neuem ein: Ein Abgrund an Liebe, bodenlos leer und erfüllt gleichermaßen, zerriss mir die Brust. Es war die Frage aller Fragen: Ich spürte, dass die Vaterschaft meine Berufung war, obwohl ich nicht die geringste Vorstellung hatte, worin sie bestehen könnte.

Nicht nur erscheint der Charakter völlig widersprüchlich, die historische Einordnung beliebig, die Erzählweise holprig und das ganze Buch eher wie ein Skizze für einen längeren, noch anzufertigenden Roman, fast mehr noch stören die ungelenken Metaphern und abstrusen Vergleiche, die den Lesefluss hemmen oder gar völlig unterbrechen:

Der Eisberg muss Risse kriegen. Sonst gehst du unter wie die Titanic.
„Meine Nase hatte schon die Konsistenz eines Eiswürfels.“
Froh über diesen Glücksfall, hütete ich mich, ihr reinen Wein einzuschenken. Édiths langes Haar war von einem Blond zwischen weichen Karamellbonbons und Weizenbier. Sie lächelte unentwegt, und ihr Gesicht erinnerte an die Madonnenantlitze auf flämischen Gemälden.

Amélie Nothombs „Der belgische Konsul“ strukturiert sich offensichtlich entlang von drei literarischen Vorbildern. Eingerahmt wird die Handlung rundum die Vollstreckung eines Todesurteils, gemäß von Albert Camus‘ „Der Fremde“, die Liebesgeschichte zu seiner Ehefrau gleicht mit nur einer winzigen Veränderung aufs Haar genau Edmond Rostands „Cyrano de Bergerac“ und die Situation in Kisangani, wo sich der Unterhändler durch Reden und Witze selbst und die anderen Geiseln am Leben hält Scheherazade aus „Tausendundeiner Nacht“, dazwischen noch ein wenig Louis Pergauds „Der Krieg der Knöpfe“ und Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ beigemischt und fertig ist der Schnellkochtopf-Roman.

Als ich entlassen wurde, freute ich mich auf das Wiedersehen mit den Rebellen fast so sehr wie auf das mit den Geiseln. Was für ein Glück, Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen! Nie würde ich mir erlauben, Sartre und seinem »Die Hölle, das sind die anderen« zu widersprechen, ich glaube nur einfach, dass mir die Hölle gefiel.“

Amélie Nothombs „Der belgische Konsul“ wirkt wie eine ungeliebte Pflichtaufgabe, der die Autorin endlich nachgekommen ist – worin die Aufgabenstellung bestand, darüber ließe sich nur spekulieren. Ein Herzensbuch und eine Liebeserklärung an ihren Vater ist dabei aber sicherlich nicht herausgekommen, und die schicksalsträchtige Begebenheit, dass sie, als drittes Kind, nur aufgrund der Laune eines kongolesischen Rebellenanführers das Licht der Welt erblickte, bleibt unergründet.

„»Haben Sie Kinder, Herr Konsul?«
»Ja, Herr Präsident.«
»Wie viele? Und wie heißen sie?«
»Einen zweijährigen Jungen, André, und ein neugeborenes Mädchen, Juliette.«
»Wollen Sie noch ein drittes Kind?«
»Das wird von Ihnen abhängen, Herr Präsident.«“


Terézia Mora: „Das Ungeheuer“

… eine ästhetisch-literarische intensive Widerstandserklärung.

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Ingeborg Bachmann Preisträgerin von 1999 und Georg-Büchner Preisträgerin von 2018 erzählt in ihrem Roman „Das Ungeheuer“, mit dem sie den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen hat, von zwei Reisen: Floras Reise durch die Melancholie und Hoffnungslosigkeit, die im Selbstmord endet; und Darius‘ Reise, durch Südosteuropa, die in einer Straßenschlacht in Athen endet. Darius kommt mit seinem Leben davon. Flora jedoch hat knapp zwei Jahre vor dem Ende von Darius Reise, ihrer gemeinsamen Ehe und Leben, ein Ende gesetzt. Sie erhängte sich in einem abgelegenen Wald. Darius erzählt:

„Meine Frau war 37 Jahre alt, als sie beschloss, nicht mehr wertbar zu sein. Ich bin 46 und — gegenwärtig, so sagt man es doch wohl korrekterweise: gegenwärtig — ebenfalls nicht wertbar. Außer, dass ich noch lebe.“

Darius arbeitet als IT-Experte, trinkt, isst gerne und viel, treibt keinen Sport und weist bereits schütteres Haar auf. Er kann nicht alleine sein. Es dürstet ihn nach weiblicher Gesellschaft. Flora schlägt sich durch die Nachwendezeit mehr schlecht als recht durch. Ihr Studium bleibt unabgeschlossen, ihre Praktika unerfolgreich. Sie wird beleidigt, verachtet, verlacht, sexuell benutzt, aber will sich nicht geschlagen geben. Sie will überleben, einen modus vivendi finden, aber ihre Armut treibt sie zu Verzweiflungsakten. Sie überlegt sogar eine Affäre mit einem siebzigjährigen Geschäftsmann anzufangen:

„Warum habe ich ihn nicht mit hochgenommen? Er hätte der 4te sein können. Der Einzige, von dem vielleicht auch was zu erwarten gewesen wäre. Das eine oder andere Geschenk. Natürlich hätte auch er nach einer Weile angefangen, mich schlecht zu behandeln. Er wegen der Geschenke, die mich in seinen Augen zur Hure machen. Aber das ist egal, denn die anderen schenken mir nichts, denken trotzdem, mich verachten zu dürfen. Das macht mir nichts aus, ich weiß, woher es kommt. »Die Verachtung der weiblichen Körperlichkeit aus Gebärneid und Angst vor der mütterlichen Allmacht.«“

In dieser denkbar schlechten Ausgangssituation lernt Flora Darius kennen. Sie heiraten und beginnen ein gemeinsames Leben, das aber bald von Arbeitslosigkeit und Krisen und Eheprobleme überschattet wird. Flora zieht sich zurück, bald geht sie völlig auf Abstand. Darius verzweifelt. Vor allem ihre körperliche Distanziertheit setzt ihm zu. Es kommt zu an Vergewaltigung grenzenden Sex in ihrer Ehe. Sie zieht zu einer Kommune in den Wald in ein Blockhaus. Er sieht sie immer weniger. Irgendwann platzt ihm der Kragen und vergewaltigt sie beim Holzhacken. Danach sieht er sie nicht wieder. Sie erhängt sich in seiner Abwesenheit im Wald.

„[…] sie hat den ganzen stürmischen Herbst und den ganzen harten Winter in einer Hütte am Waldrand überstanden, so harte Winter wie in den letzten 2 Jahren habe ich noch nie erlebt, sie hat das alles durchgestanden, und im Frühling ist sie doch gestorben. Sie hat sich erhängt, an einem Baum, abseits des Wegs, anderthalb Tage, bis sie jemand fand, barfuß, ich habe sie nicht gesehen, aber ich weiß, ihre Füße waren ganz ohne Hornhaut, immer.“

Moras Roman „Das Ungeheuer“ inszeniert Darius‘ und Floras gemeinsames Leben aus je der Sicht der Figuren, zweigeteilt, auf jeder Seite. Flora schweigt über weite Strecke (die Seiten bleiben im unteren Teil unbedruckt). Darius erzählt und erzählt und lernt Menschen und Länder kennen. Er sucht eine zweite Flora. Er findet sie nicht. Seine Erzählweise verbleibt atemlos, schockiert, auf der Flucht. Ihre zeichnet sich nur Gedichte, Absätze, viel freien Raum aus, ein Schweigen, eine Ruhe, durchbrochen nur von treffsicheren Sätzen und kurzen Kommentaren.

Sowohl die formalästhetische Gestaltung, die die Gewalt inner- und außerhalb der Ehe thematisiert, das parallele Nebeneinander-her-Leben (die harte, unversöhnliche Zweiteilung der Buchseite), Darius als Rahmengeber (er behält das erste und letzte Wort), die Fugung und Staffelung und langsame Verstummung Floras, die verschiedene Rhythmik und Stilistik des Schreibens lassen Terézia Moras „Das Ungeheuer“ zu einem nachhallenden Lektüreerlebnis werden, das seinen Ort zwischen Olga Tokarczuks „Empusion”, Ingeborg Bachmanns „Malina“ und Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ einnimmt, dunkel, hart, eine ästhetisch-literarische Widerstandserklärung, die vor allem durch die Komposition und die durch sie erzeugte beharrliche und unversöhnliche Stille überzeugt.


J. M. Coetzee: „Der Pole“

Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus

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John Maxwell Coetzees neuester Roman “Der Pole” umfasst lediglich knapp 150 Seiten. Vielleicht war dem Verlag der Begriff ‚Novelle‘ zu altbacken, vielleicht war der Text für eine Erzählung zu lang, für eine Novelle aber zu wenig auf ein spezielles, besonderes Ereignis geeicht. Dennoch: Die Komposition und Dichte, die Knappheit und Strenge Coetzees in „Der Pole“ deutet vielmehr auf eine Allegorie, ein Lehrstück als auf eine breitausfächernde Romanhandlung hin. Es wird die Affäre zwischen Beatriz, Hausfrau, 49 Jahre alt, mehr oder weniger glücklich verheiratet, und Witold, Pianist, 72 Jahre alt, seit über vierzig Jahren verwitwert, nacherzählt, und zwar aus Sicht Beatriz‘, die im Grunde gar nichts für Witold zu empfinden meint:

Beim Durchstreifen der Welt auf der Suche nach seinem verlorenen Etwas, ist er zufällig auf sie, Beatriz, gestoßen und hat sie zu einem Fetisch gemacht. Sie bringen mir Frieden – was für ein Unsinn! Ich bin nicht die Antwort auf das Rätsel Ihres Lebens, Señor Witold – auf Ihr oder irgendjemandes Rätsel! Das hätte sie ihm antworten sollen. Ich bin, die ich bin!

Die resolute Beatriz will nicht Witolds Muse sein. Sie weigert sich, auf seine Avancen einzugehen, hält ihn für verrückt und realitätsfern. Witold lässt aber nicht locker. Er mag Beatriz. Sie ist sein Symbol des Friedens. Er sieht in ihr Dantes Beatrice, die dieser in seinem Jugendwerk „Vita Nuova – Das neue Leben“ besingt und ein Leben lang geliebt hat. Die katalanische Beatrice der Neuzeit will von solch Schwärmereien nichts wissen und kanzelt ihn ab.

In meinem Leben gibt es keinen Platz für – wie soll ich es nennen? – eine Herzensaffäre. Sie erzählen mir, dass Sie ein Bild von mir mit sich herumtragen. Gut. Doch ich trage kein Bild von Ihnen mit mir herum. Ich trage kein Bild von irgendjemandem mit mir herum. Das ist nicht meine Art.“

Dennoch, nach weiterem Drängen Witolds, treffen sie sich auf Mallorca und verbringen gemeinsam eine Woche in aller Abgeschiedenheit. Beatrice weiß, wieviel sie geben will. Witold will mehr. Als Witold stirbt, hinterlässt er ihr 84 Gedichte. Dantes Vita Nuova weist 42 auf, sodass Witolds hinterlassene Gedichte 2×42, ein doppelter, reziproker Gesang des neuen Lebens darstellen. Der kurze Roman endet damit, dass Beatrice hinter den Sinn der Gedichte Witolds zu kommen versucht:

Nun, da das ganze pathetische Vorhaben vor ihr auf dem Schreibtisch liegt, sein Vorhaben, eine Liebe wiederauferstehen zu lassen und zu vervollkommnen, die nie fest gegründet war, überkommt sie Verzweiflung, doch auch Mitleid. Immer deutlicher steht ihr das Bild vor Augen: der alte Mann an seiner Schreibmaschine in seiner hässlichen Wohnung, wie er seinen Traum von Liebe ins Leben zu zwingen versucht und dafür eine Kunst benutzt, die er nicht wirklich beherrscht.

Coetzees neuer Roman enthält keine Schockelemente wie „Schande“. Der 83-jährige Schriftsteller sinniert kurz und knapp, in poetischer Vagheit über Liebe und Tod, Eros und Thanatos, über Vergänglichkeit und Ewigkeit. Auf jeder Seite glüht der Wunsch nach Leben. In jedem Wort glimmt der Lebensfunke. Beide, Beatriz und Witold, lieben das Leben. Sie lieben es so sehr, dass sie sich für einander öffnen, für die Intensität, die Möglichkeit, die Utopie, dass es irgendwie weitergeht, dass der Tod nicht das Ende ist, er nicht das letzte Wort behält. In „Der Pole“ hat Coetzee dafür gesorgt, dass die Liebe das letzte Wort hat. Sie geht weiter und über alle Zweifel hinaus.

J.M. Coetzee hat eine moderne Ballade auf die Liebe geschrieben. Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus. Sein Buch reiht sich ein in die Versuche, einen langen Atem bis zum Ende zu literarisieren und zu öffnen: Angefangen von Helga Schuberts „Der heutige Tag“, Annie Ernaux‘ „Der junge Mann“, Irvin D. und Marilyn Yaloms “Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben” zu Martin Walsers „Das Traumbuch“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Coetzee trotzt diesem Thema jedoch eine ganz eigene Note ab.


David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“

Ein unheimlicher, monströser, durchweg gewollt prätentiöser, aber widerständiger Roman.

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David Foster Wallace arbeitete an seinem Roman zehn Jahre lang, bis er in seiner endgültigen und um 250 Manuskriptseiten gekürzte Fassung 1996 erschien. Er gilt, u.a. vom Time Magazine ausgezeichnet, als einer der wichtigsten englischsprachigen Gegenwartsromane. Zentrales, fast ausschließliches Thema des Buches sind Drogen in allen Formen, Varianten und Verabreichungsweisen:

„Joelle wird sich hier Zuviel Spaß genehmigen. Mehr als alles andere war es am Anfang so viel Spaß.[…] Crack befreit und verdichtet, es komprimiert die ganze Erfahrung zur Implosion einer schrecklichen verheerenden Spitze der Kurve, ein inspirierter Orgasmus des Herzens, durch den sie sich wahrhaft attraktiv fühlt, geschützt von Grenzen, entschleiert und geliebt, beobachtet, allein, fähig und weiblich, erfüllt, gleichsam einen Augenblick lang von Gott gesehen.“

Zentral im Roman steht die Beschreibung und das Leben innerhalb einer Tennisakademie, die von Avril Incandenza, Mutter von drei Söhnen Orin, Mario, Hal geleitet wird, von denen nur Hal noch Tennis spielt. Avrils Ehemann und Vater der drei Söhne bringt sich um, nachdem er einen Film namens „Unendlicher Spaß“ mit der Freundin seines Sohnes Orin, Joelle, abgedreht und produziert hat, der als akusto-optische Form der Droge in der Lage ist, sein Publikum bis in den Hirntod hinein zu narkotisieren. Geheimdienste aus Kanada und den USA befinden sich auf der Suche nach dem Original:

„Diese unanschaubare Unterhaltungspatrone aus dem Untergrund, die anfangs auf erratische Weise an den scheinbar zufälligsten Orten auftauchte: ein Film, der, wie ihm bei Briefings zu verstehen gegeben wurde, gewisse »Eigenschaften« hat, sodass jeder, der ihn je gesehen hatte, für den Rest seines Lebens nur noch den einen Wunsch verspürte, ihn noch einmal zu sehen, und noch einmal und so weiter.“

So viel zum Plot. Er dampft sich auf die Versuche zusammen, clean zu werden, sich mit Drogen zu töten, und diese sogenannte Unterhaltungspatrone, eine elektrotechnologische Phantasie Foster Wallaces, sicherzustellen. Diese dünngestrickte Story spielt jedoch in einer groß angelegten Erste-Welt-Dystopie. Foster Wallace beschreibt nicht eine wie auch immer bekannte Welt mit wie auch immer bekannten Geräten und Drogen und Problemen. Er transponiert Bekanntes in eine nahe, spekulative, imaginierte mögliche Zukunft, in der Gift vor Vergiftung, Müll vor Vermüllung schützt:

»Quasi aber beispielsweise weiß dein Land, dass die ganze Annulartheorie hinter einem Kernfusionstyp, der Müll produziert, der Brennstoff für einen Prozess ist, dessen Müll Brennstoff für die Kernfusion ist: dass die ganze Theorie, die dieser Physik zugrunde liegt, aus der Medizin stammt?«
»Das bedeutet was? Eine Flasche Medizin?«
»Das Studium der Medizin, Ars. Deine Weltregion betrachtet die annulare Medizin heutzutage als selbstverständlich, aber die ganze Vorstellung, Krebs zu behandeln, indem man die Krebszellen selbst mit Krebs ansteckte, war noch vor wenigen Jahrzehnten Anathema.«

Soviel zu den Figuren, dem Plot und dem Setting.Literarisch, deskriptiv, stilistisch, sprachlich gesehen geschieht vielmehr, schließlich umfasst der Roman in der deutschen, von Ulrich Blumenbach angefertigten Übersetzung über 1400 engbedruckte Seiten und weist sogar einen beinahe zweihundert Seiten langen Fußnotenapparat auf. Foster Wallace nimmt nämlich sein Thema, Gift, um Gift zu vergiften, literaturästhetisch auf. Seine leeren, teilweise gestelzten, gewollten, ins Ausufernde, ohne innere Kohärenz und Konsistenz ausschweifenden Sätze beginnen ab einem bestimmten Punkt eine nahezu unheimliche Überzeugungskraft zu entfalten.

Hier schreibt ein Schriftsteller, ohne Poesie, ohne innere Balance mit überbordender szientifischer Sprache gegen eine innere Leere mit leeren Begriffen an, bis plötzlich diese Begriffe kollabieren und eine Stille hinterlassen, die tatsächlich ein literarisches Bild von Verzweiflung und Ausweglosigkeit erzeugen und als geheimes, den Text organisierendes Geheimnis dient. Wer den langen Atem auf sich nimmt, sich auf die Sprache einlässt, dem wird ein eigenartiger Zauber überkommen, ein negativer, aber ein literarischer, der sogar zum Wiederlesen einlädt, nicht aus Genuss, aber aus Neugier und Forschungsdrang, der Welt von Foster Wallace noch mehr Nuancen und Details abzutrotzen.

Ein unheimlicher, pessimistischer, ja monströser Roman, der auf seine eigene Weise jedoch Widerstandskraft entfacht.  


Vita Sackville-West: „Das Erbe“

Idyllische Selbstfindung in ländlicher Ruhe und Abgeschiedenheit  

Bis auf die Frühwerke liegen von Vita Sackville-West, die vielen vor allem als Virginia Woolfs Inspiration für die Hauptfigur ihres Romans „Orlando“ bekannt ist, die meisten ihrer Romane in deutscher Übersetzung vor. Von den früheren Arbeiten fehlen noch einige. Mit „Das Erbe“, von Irmela Erckenbrecht aus dem Englischen ins Deutsche übertragen, wird eine weitere Lücke gefüllt. Zum ersten Mal erschien dieser Kurzroman, knapp 130 Seiten, 1922 und fand eine von der Autorin einleitend und kritisch kommentierte Wiederauflage 1949:

„Trotz [der Gefahr der Selbsttäuschung] kam ich [auf die Anfrage zur Neuveröffentlichung] zu dem Schluss, dass ‚Die Erbschaft des Peregrinus Chase‘ eine Stimmung widerspiegelt, die ich damals empfand und mit wachsender Melancholie seitdem immer wieder empfunden habe.“

Die klare Distanzierung bezieht sich auf den sehr rührseligen Ton von „Das Erbe“, das von der Schwierigkeit des jungen Angestellten Peregrinus Chase handelt, das Erbe seiner verstorbenen Tante Phillida, das Anwesen, das Haus und die Ländereien namens Blackboys, anzutreten, das sogar noch mit Schulden belastet ist. Was ihm aber zuerst nichts bedeutet, wächst ihm nach und nach ans Herz:

Jede kaum merkbare Veränderung des Lichts hatte er [am Anwesen] beobachtet: ob es am Morgen kühl und klar über die Dächer strich oder am Abend gesättigt und golden auf die rubinroten Backsteine, den bläulich-grünen Wassergraben und die Brüste der Pfauen sank. Das ätherische Morgenlicht war ein Geheimnis, das er in den unzugänglichen Tiefen seiner Seele fast vor sich selbst verbarg.

Thema von „Das Erbe“ entwickelt sich zwischen den beiden Polen: das Haus verkaufen oder nicht. Peregrinus besitzt nicht viel. Der Verkauf würde ihn besser stellen, zumal sich ein Mr. Nutley von ‚Nutely, Farebrother und Co., Grundstücksmakler und Anwälte‘ aus Eigeninteresse darum bemüht, einen möglichst hohen Verkaufspreis zu erzielen. Gegen den Verkauf spricht das gute Gefühl, das Peregrinus überkommt, sobald er sich durch die Zimmer, den Park, auf den Ländereien bewegt, und die Bediensteten, wie auch Farebrother eher darauf hoffen, dass er die Tradition der Chase-Familie fortsetzt und sei’s nur der lieben Pfauen willen, die auf dem Anwesen herumstolzieren:

»Es gibt wenige im Dorf, die sich vorstellen können, dass Blackboys nicht mehr der Familie Chase gehören soll«, sagte die Frau. »Und die armen Pfauen – lieber Gott!«
»Die Pfauen?«
»Die Leute sagen, die Pfauen werden sterben, wenn Blackboys nicht mehr den Chases gehört«, sagt er Mann. »Trotzdem, sie richten im Park viel Schaden an.«“

Tradition und Neuerung, Sentimentalität und Profit, Langsamkeit und Hektik, Ländlichkeit und das Städtische spielt Sackville-West in „Das Erbe“ gegeneinander aus und malt freundliche Bilder einer verträumt tiefenglischen Idylle, in der Vögel zwitschern, Blumen blühen, Pfauen stolz ihr Rad schlagen und zur festen Zeit der Tee serviert wird. 27 Jahre später wird ihr bei der Sentimentalität selbst etwas mulmig zumute, aber gibt das Buch dennoch zur Veröffentlichung frei. „Das Erbe“ vereint eine ironisch-distanzierte Form der Utopie mit einem sachlich-interessierten Blick auf zwischenmenschliche Interessen. Peregrinus muss seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht kleinbeizugeben.

„Arm? Ja, aber er konnte arbeiten, er würde es schaffen. Seine Armut würde nicht bitter sein, sondern süß. Er streckte die Hände aus und legte sie voller Leidenschaft auf die Steine – Steine, so warm wie die rosige Farbe, die sie seit dem Morgen mit dem Sonnenlicht aufgesogen hatten.“

Vita Sackville-Wests „Das Erbe“ liest sich leicht und flüssig und eindrücklich. Es steckt viel Hermann Hesse aus „Roßhalde“  in diesen Zeilen, und auch eine geläuterte Form von Joris Karl Huysmans „Gegen den Strich“. Wem freundlich, warme, gediegene Sprachfügungen liegen, wer gerne langsame, besinnliche Literaturen mag, wird ein paar vergnügliche Stunden mit „Das Erbe“ haben.


Helga Schubert: „Der heutige Tag“

Autofiktionale Selbstsuche unter Belastung, Liebe und Freiheitswunsch.

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Helga Schubert schreibt in „Der heutige Tag“ über das Zusammenleben mit ihrem intensiv pflegebedürftigen Ehemann Derden und spürt den Gefühlswallungen, den Höhen und Tiefen nach, die sich durch diese Situation der einseitigen Abhängigkeit und Aufopferung unweigerlich ergeben. Das Buch steht im kommunikativen Zusammenhang mit André Gorz‘ „Brief an D.“ und Marilyn und Irvin D. Yaloms „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben“, aber auch Simone de Beauvoirs „Zeremonien des Abschieds“ und Martin Walsers „Das Traumbuch“. Der Tod und der Abschied vom Leben, die Begrenztheit der Zeit stehen im Zentrum. Die Zeit erhält ein ganz anderes Gewicht:

„Etwas wollen und fürchten.
Mitleid und Gesättigtsein vom Samariterleben.
Schlechtes Gewissen, wenn ich an mich denke.
Und Selbstbehauptung.
Gar nicht der Wunsch, aber doch das befreite Gefühl, schon beim Gedanken, dass eine Zeit kommen könnte, in der ich über mein Leben verfügen kann.“

Zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Ehemann besteht ein Altersunterschied von dreizehn Jahren. Es ist für beide die zweite Ehe, die sie zum Zeitpunkt der Erzählung vor 47 Jahren begonnen haben, als die Ich-Erzählerin 34 Jahre alt gewesen ist und es satt gehabt hat, nur von der Ehefrau geduldete Geliebte Derdens zu sein. Beide haben Kinder aus der ersten Ehe. Derdens Kinder jedoch wollen sich nicht um ihren pflegebedürftigen Vater kümmern. Die Ich-Erzählerin steht ganz allein da:

„Für Derdens Kinder, verstand ich in diesem Moment, bin ich die Geliebte ihres Vaters seit Jahrzehnten und nicht ihre Mutter seit der Geburt. Und sie sind nicht meine Kinder, sondern sein Fleisch und Blut. Für sie ist alles freiwillig, die Besuche, die Telefonanrufe. Eben Quittengelee. Und darum ist mir, als ob ich von einem Fluch der falschen Harmonie erlöst wäre. Der Falschheit.“

Die Ich-Erzählerin reflektiert über alle Facetten ihrer häuslichen Situation, der Wunsch für ihren geliebten Ehemann da zu sein, aber auch das Sehnen nach Freiheit, über die eigene Zeit, zumindest teilweise, verfügen zu können. Sie möchte nicht viel, aber auch das Wenige, ein paar Stunden, höchstens ein, zwei Tage für eine Lesung, für einen Besuch, bekommt sie nicht. Schuldgefühle für all die Gedanken und Wünsche nach einem Mindestmaß an Autonomie ist ihr ständiger Begleiter. Eine Erleichterung findet sie darin, sich ihren eigenen Tod zu imaginieren:

„Es ist so ein erschreckend kleiner Unterschied. Wenn man die Kontrolle über sich ein wenig lockert, kann man schon tot sein. Nur die dünne Trennwand zwischen Vorstellung und wirklicher Handlung einmal umwehen lassen, und du bist tot.
Auf das Fensterbrett des Hochhauses steigen und in der Sonne mit ausgebreiteten Armen nach unten fliegen oder neben einem Autostrom laufen und sich plötzlich in ihn stürzen oder das elektrische Kabel berühren. Dieser Sekundenbruchteil Hingabe an das Unbekannte, den Rausch, den Schmerz, einmal nur der eigene Körper sein, ganz und gar. Dieses Loslassen von allem, auch von den Kindern, Barbara!“

Helga Schubert geht in „Der heutige Tag“ schonungslos auf Selbstsuche. Sie durchschreitet ihre Gefühle kraft einer schwebenden, über den Dingen sich zerstäubenden Sprache, eine eigentümliche Art Zwischenzustand des Erzählens, des Träumens, des Sehnens, der sich stilistisch darin äußert, dass sie um das Leiden, die Schmerzen ihres Mannes als dem Zentrum ihres Lebens und um die eigenen herumschreibt, sie nur streift, nur Andeutungen, kurze Reminiszenzen gibt, die die Kontinuität betonen und gegen die Vergesslichkeit, die aus der Demenz folgende Disparität der Gedankenwelt Derdens aufbegehren.

Schuberts Sprache verliert nicht die Sanftheit und Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Welt. Wie „Vom Aufstehen“ legt sie auch in „Der heutige Tag“ davon beredtes Zeugnis ab, leider ohne, bis auf wenige kurze Stellen, der Imagination und daher auch mal der Utopie, die es noch in „Vom Aufstehen“ gab, freie Bahn zu lassen und das Persönlich-Private gänzlich zu transzendieren.


Luna Al-Mousli: „Um mich herum Geschichten“

Vom Bürgerkrieg und seine Folgen aus der Sicht unschuldiger Dinge inmitten von Zerstörung und Gewalt.

Kinder, Tiere, aber auch Gegenstände tragen keine Schuld an Verhältnissen, Krieg und Zerstörungen in Ländern. Aus ihrer Perspektive die Ereignisse eines Bürgerkrieges zu erzählen, intensiviert den Blick und lässt den Schrecken ungemindert, ohne Rationalisierung, ohne Parteinahme innerhalb des Konflikts, erscheinen. Luna Al-Mousli wählt in ihrem Kurzroman „Um mich herum Geschichten“ die Erzählperspektive aus Sicht fünf verschiedener Gegenstände: Eines Laptops, eines Musikinstrumentes, einer Doktorurkunde, eines Anzugs und eines Türschlüssels. Die Besitzer tauchen nur am Rande auf. Leidtragende, Hoffende, Duldende bleiben die Dinge:

„Jedes Mal hoffte ich [der Anzug], dass die Krawatte meinen Stoff streifen und er sich für mich entscheiden würde. Doch irgendwie schien der richtige Anlass für mich nicht zu kommen. Bald heirateten all seine Bekannten, Nichten und Neffen und ich begann zu glauben, dass er mich wohl für die Hochzeit eines seiner Kinder aufhob. Also wartete ich geduldig und hoffte, dass er seine Figur behielt und weder zu noch abnahm.“

Die Sprache aus Sicht der Gegenstände ist naiv, unschuldig. Sie kennen keine Gründe. Sie wissen von keinen Konflikte. Sie spüren nur Beachtung, Berührung, Achtsamkeit und Freundlichkeit ihnen gegenüber, ob sie im Zentrum, am Rand der Aufmerksamkeit stehen oder gar keine erfahren. Sie nehmen alles hin. Explosionen, Schreierei, Schusswechsel, Reisen. Sie stehen zu ihren Besitzern und möchten nicht als nützlich sein:

Die vielen Augen mit den erweiterten Pupillen wussten nicht wohin sie schauen sollten. Auf den Boden, wo ich [das Musikinstrument] entzwei lag, oder zu ihm, den der Schreck mit einem Mal nüchtern zauberte. Er schaute mich mit seinen großen kastanienbraunen Augen an. Die erste Träne landete auf seinem Brillenglas, die zweite auf meinem Bauch, doch ich spürte nichts. Hier lag seine und meine Vergangenheit und unsere mögliche Zukunft in Bruchstücken. Und jetzt in der Gegenwart wollte ich aufhören, ihn zu lieben.

Der Schrecken des Bürgerkrieges, seine verheerenden Folgen vermitteln die Kurzgeschichten Al-Mousli mit Nachdruck. Die Perspektive der Dinge verstärkt das Gefühl der Ausgeliefertheit, des Kontrollverlusts. Eine Welt sackt ab ins Chaos. Nichts bleibt mehr. Nichts kommt davon. Alle und alles sind betroffen. Eine Szenen spielen in Damaskus, andere in Wien, manche auf Reisen. Luna Al-Mouslis Sprache geht unter die Haut. Die Intensität wächst mit jedem freundlichen Gedanken der Dinge, mit jedem Versuch der Gegenstände, teilzunehmen, helfen, mit jeder Hoffnung und jedem Traum, den sie hegen und pflegen.

„Die Decke mit dem Golddekor war ein fester Bestandteil der Familientreffen. Für das Essen wurde sie sorgfältig ausgebreitet. Die Speisen wurden zwischen den Mustern platziert. Der Goldfaden, der sich durch diese Decke zog, gab den unbedeutendsten Gegenständen einen Glanz und eine Wichtigkeit. Die wenigen Male, in denen ich [der Schlüssel] auf dieser Tischdecke lag, wälzte ich mich auf den floralen Mustern bis der goldene Faden sich an einer meiner spitzen Kanten verfing und ich an Ort und Stelle erstarrte.“

Luna Al-Mouslis „Um mich herum Geschichten“ rührt, ohne sich je in Sentimentalität zu verlieren. Ihr Bericht besitzt Optimismus und Hoffnung. Wer Kazuo Ishiguros „Klara und die Sonne“ mag, wird auch Al-Mouslis Sprache und Stil mögen. Dort spricht ein künstliche Spielgefährtin voller Freundlichkeit über ihre Besitzerin, voller Loyalität und Empathie, hier die Gegenstände einer Großfamilie, die sich mehr oder weniger kennen und alle unter denselben katastrophalen Umständen leiden, die der Bürgerkrieg über sie gebracht hat, von eben welchem die Schicksale der Dinge berichten.


Claire Keegan: „Das dritte Licht“

Zurückhaltend langanhaltende Wirkung entfaltend. Ein Kindersommer.

Das dritte Licht“ hat Claire Keegan als Erzählung konzipiert. Sie ist kurz, sehr knapp, sehr zurückhaltend formuliert, und zwar aus der Sicht eines kleinen Mädchen, das für einen Sommer zu Zieheltern gebracht wird, um die schwangere Mutter und den spielsüchtigen Vater des Mädchens zu entlasten. Eine wirkliche Nähe zwischen dem kleinen Mädchen und ihren leiblichen Eltern gibt es nicht.

„»Viel Glück«, sagt [der Vater]. »Ich hoffe mal, das Mädchen macht euch keine Scherereien.« Dann wendet er sich mir zu. »Und du pass auf, dass du mir nich’ ins Feuer fällst.« Ich beobachte, wie er zurücksetzt, den Wagen in die Auffahrt lenkt und davonfährt. Ich höre die Räder über den Weiderost rattern, dann die Gangschaltung und das Motorgeräusch von der Straße her, auf der wir gekommen waren. Warum hat er sich aus dem Staub gemacht, ohne sich zu verabschieden, ohne auch nur zu erwähnen, dass er mich wieder abholen wird? Die sonderbar reife Brise, die über den Hof streicht, fühlt sich jetzt kühler an, und über der Scheune sind große weiße Wolken aufmarschiert.“

Claire Keegan, die mit „Kleine Dinge wie diese“ auf der Shortlist des Booker Prizes stand, schlägt leise, zarte Töne an, um die Unsicherheit des Mädchens und die Zerbrechlichkeit ihrer Welt zu beschreiben. Nirgendwo geht die Sprache ins Harte und Volle. Sie streift über die Ereignisse. Sie nagelt die Eindrücke nicht fest. Sie gibt keine Namen, keine Etiketten, wo diese nicht nötig sind. Es ergibt sich ein sehr langsamer, gleitender, harmloser Fluss voller Hoffnung, in welchem das Mädchen langsam gesundet und wieder Vertrauen zur Welt schöpft:

Anfangs hatte ich mit einigen der komplizierteren Wörter zu kämpfen, aber Kinsella deutete geduldig mit dem Fingernagel auf jedes Wort, bis ich es erriet oder doch fast erriet, und dann machte ich es allein genauso, bis ich nicht mehr zu raten brauchte und weiterlesen konnte. Es war wie Rad fahren lernen; ich spürte, wie mir Flügel wuchsen, die Freiheit, an Orte zu gelangen, wo ich zuvor nicht hinkonnte, und es war leicht.“

Mit kleinen Spielen, Wettrennen zum Briefkasten, mit kleinen Riten, das Marmeladenkochen und Wasserholen, mit Geschenken und Gesten, wie das Bettnässen unerwähnt zu lassen, schaffen die Kinsellas ein Zuhause für das kleine Mädchen. Die Sprache Keegans gleitet hier nie ins Kitschige, ins Oberflächliche. Das Geheimnis des Lebens bleibt unangetastet. Niemand versteht irgendwen, aber ein freundliches Miteinander ergibt sich von selbst, sobald das Glück des Schweigens und Sprechens im Gleichgewicht bleiben:

Ich höre, wie sie die Grashalme von den Wurzeln rupfen. Während wir weitergehen, streicht hin und wieder eine Brise flüsternd über den Eimerrand. Keine von uns beiden spricht, so wie Leute manchmal schweigen, wenn sie glücklich sind – aber kaum kommt mir dieser Gedanke, wird mir klar, dass auch das Gegenteil zutrifft.“

Diese sehr kurze Erzählung lässt Kindersommer wiederauferstehen. Die Welt des kleinen Mädchens setzt sich rebusartig zusammen, bleibt zerbrechlich, bedürftig und wird von der Angst zusammengehalten, sich selbst überlassen zu bleiben und wieder verlassen zu werden. Einen zusätzlichen Plot oder Spannungsbogen flicht Claire Keegan nicht ein. Die Autorin setzt ganz auf die kindlichen Assoziationen und Impressionen. In ihrer Diktion wohlkalkuliert, erreicht sie so einen aufs Äußerste verdichteten Stil, der in seiner Verwobenheit nachhallt, in seiner Vielschichtigkeit trotz der Kürze überzeugt und tatsächlich Lebensglück und Hoffnung transportiert, ohne gewollt und konstruiert zu erscheinen. Hier erinnert Keegans „Das dritte Licht“ stark an Alan Lightmans Miniaturen wie „Und immer wieder die Zeit“ und „Der Gute Benito“, die im ähnlich zurückhaltenden Ton formuliert sind und nichtsdestotrotz langanhaltende Wirkung entfalten.


Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“

Kein Roman, aber als Dokument völliger Rat- und Orientierungslosigkeit, sehr überzeugend.  

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Anne Rabes literarisches Debüt „Die Möglichkeit von Glück“ bringt die Tätigkeitsfelder der Autorin unter einen Hut. Sie wirkt als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin und erfährt sich als Nachgeborene im Sinne Bertolt Brechts der verschiedenen Lager- und Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts. Ihr Text arbeitet sich vor allem an dem geheimen Idol und Gegner und Übervater des deutschen Theaters, besagten Brecht, ab:

„Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

Rabes Schreibstil bleibt dem Alltagsdeutsch verpflichtet. Sie lamentiert, repetiert, assoziiert an einer erfundenen, recherchierten, oder real-erlebten Familiengeschichte entlang. Es spielt aber keine Rolle, inwiefern autobiographische Elemente in den Text „Die Möglichkeit von Glück“ eingeflossen sind oder nicht, wo Narration und Information sich überschneiden oder gar überlagern. Das Etikett „Roman“ verbürgt für die Fiktion, für die Erfindung, die Imagination. Im Text muss nichts stimmen, also stimmt auch nichts. Das Schreiben, das Erinnern, dient lediglich der Erzählinstanz als Flucht:

„Und so viel ich auch sammle, es ist, als würde ich dem Kaleidoskop nur ein weiteres Steinchen hinzufügen. Das Bild zersplittert in immer kleinere Teile. Es ist ein Faszinosum, von dem ich nicht lassen kann, und ich möchte in jede Ecke schauen, alles erfassen, aber schon habe ich mich wieder ein Stück bewegt und da sieht es plötzlich ganz anders aus. Eine schöne Art vor sich selbst zu fliehen. Vor den Albträumen, den Erinnerungsströmen und rastlosen Gedanken, die immer bloß im Meer meiner Schuldgefühle münden.“

Wer recht hat, wer nicht; wer die Deutungshoheit besitzt oder nicht besitzen darf oder dürfte; wer zu schweigen hat, wer lieber nicht mehr schweigen sollte – all diese Fragen beschäftigt die Erzählinstanz kursorisch in Bezug auf die dargestellte Lebensgeschichte, anhand derer die typischen historischen Ereignisse des Nachkriegsdeutschland wie Perlen an einer Kette aufgeschnürt werden: Vergangenheitsbewältigung, Aufstand des 17. Juni, Mauerbau, Mauerfall, Stasi-Unterlagen, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexualverbrechen, Kindesmissbrauch und immer wieder die Frage: Wer hat recht, wer unrecht, die sich insbesondere an der Rekonstruktion des Lebenslaufes des Opas Pauls entzündet:

Diese Leben, von denen [Opa Paul] nicht sprechen konnte, weil er sie immer wieder verstecken und überschreiben musste. Er hat sich vor sich selbst versteckt, um weiterzumachen, voranzukommen. Um zu bekommen, was ihm niemand schenken würde, wonach er nur selbst greifen konnte. Er hat geglaubt, auf der Seite der Sieger zu stehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte. Er hat sich so oft gewandelt, so oft am eigenen Schopf aus dem Dreck gezogen, den andere ihm hinterlassen haben. Und er hat sich geirrt. Total geirrt.“

Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“ hat weder etwas mit Möglichkeiten noch mit Glück zu tun. Der Blick bleibt in die Schuldzusammenhänge der Vergangenheit geheftet. Er richtet sich nie nach vorn. Er hat auch nichts mit Glück zu tun. Rabe berichtet nur von Leid, Trauer und Unglück. Die Sprache gleitet über diese Ereignisse harmlos hinweg, so dass sich „Die Möglichkeit von Glück“ wie ein Entwurf- und Skizzenbuch liest. Viele Fragen bleiben offen. Viele Handlungsstränge finden kein Ende oder eines im innerliterarisch verordneten Tod der betreffenden Figuren. Komposition, Fehlanzeige. Als Dokument völliger Ratlosigkeit, aber sehr überzeugend.  


Caroline Wahl: „22 Bahnen“

Von Träumen, Wünschen und anderen Teenager-Phobien und -Utopien.

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Ums Schwimmen oder den Schwimmsport geht es in „22 Bahnen“ von Caroline Wahl nicht wirklich, genauso wenig wie in Annika Büsings „Nordstadt“. Sie spielen lediglich teilweise im Schwimmbad. Es geht vielmehr wie in Büsings Debütroman ums Arm-Sein, um die Schwierigkeiten einer Eltern-Kind-Beziehung und die Liebe, die Beziehung, die ein Ausweg aus der aufoktroyierten Isoliertheit und den desaströsen Lebensumständen bietet:

Abends liege ich auf meiner Matratze, der Herbstwind fällt auf mich, ich denke an das Hochhaus, an den Ausblick vom Hochhausdach, an den hellblau-rosa und dann knallpinken Himmel, an die sich vereinenden, in den Süden ziehenden Vogelschwärme, an Mufasa und Simba, an Viktor, an seinen Kuss, und ich überlege, wie der Wind am Meer riecht. Salzig. Und nach Algen. Sand fliegt mir in die Augen.“

Caroline Wahl aus: „22 Bahnen“

Tilda Schmitt hat eine alkoholsüchtige Mutter und eine jüngere Schwester namens Ida. Im Gegensatz zu den meisten in ihrem Freundeskreis lebt sie immer noch in der Kleinstadt, ist nicht in die große weite Welt hinausgezogen. Sie kümmert sich um ihre kleine Schwester und die desolate Mutter, die den ganzen Tag besoffen auf dem Sofa hängt, sofern sie nicht Besserung gelobt, um im nächsten Moment doch wieder auszurasten und mit Dingen nach ihren beiden Töchtern zu schmeißen. Tilda sorgt sich um ihre Schwester und zögert, das Angebot ihres Mathematik-Professors anzunehmen, der sie für eine Promotionsstelle in Berlin vorzuschlagen gedenkt. „22 Bahnen“ schildert diese emotionale Berg-und-Tal-Fahrt, die über die Niederungen und Höhen des Verantwortungsbewusstseins, der Liebe zur Schwester, zu den eigenen Wünschen nach Freiheit und einer mysteriösen Liebesbekanntschaft führt:

Ida: Warum weinst du, Tilda? Ida steht vor mir und nimmt meine Hand. Ich bin immer noch in ihrem Zimmer. Ich: Ich weine nicht. Ich schaue zu Ida hinunter, wie sie in meinem pastelllilafarbenen Nike-Kapuzenpullover zu mir heraufschaut und nicht weiß, was sie sagen soll. Sie öffnet und schließt ihren Mund und hat eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen, die sie immer hat, wenn sie nachdenkt. Ida: Ich weine auch nicht. Und es sind Momente wie diese, in denen ich begreife, dass ich gar nichts bereue und auch mit niemandem tauschen will. Ich lache laut, und Ida lächelt, weil sie sich freut, dass ich nicht mehr weine, dabei weine ich immer noch, aber ich lache auch laut, weil ich Ida habe und Ida mich hat.

In denkbar einfachster Sprache und Stil berichtet Caroline Wahl von den inneren Kämpfen ihrer Protagonistin. Hin und her geworfen, ein Energiebündel und doch auch ein Trauerklos, kämpft sie sich durch, und zwar erfolgreich. Ida gewinnt an Selbstbewusstsein. Tilda überwindet ihre Fluchtimpulse in Bezug auf Liebe und Liebesbeziehung, und am Ende …

Literarisches Raffinement lässt sich in „22 Bahnen“ also nicht finden. Es gibt keine Poesie. Es gibt härteste, nüchternste Sachlichkeit einer Sprache, die nicht die eigene ist. Tilda bleibt sich und der Welt entfremdet. Sie steht noch ganz am Anfang, wenn sie tanzt, wenn sie flucht, wenn sie schreit und herumrennt, aber sie bewegt sich, sie versucht es, sie strebt danach, einen eigenen Weg zu gehen, und hier und da gelingt dies selbst sprachlich:

Die Wut zerreißt mich, wenn ich sie nicht rauslasse. Also renne ich. Ich renne, so schnell ich kann. Obwohl ich überhaupt keine Energie intus habe, sprinte ich die Fröhlichstraße hinauf zum Waldeingang. Ich bemerke die Energielosigkeit nicht mehr. Da ist nur Wut. Tränen und Schweiß brennen in den Augen. In dem Moment, in dem mich das Grün des Waldwegs voll umfängt, spüre ich, wie ein wenig von der schweren Wut von mir ablässt. Ich sprinte den Waldweg hoch. Ein entgegenkommender Mann zeigt mir grinsend Daumen hoch, ich zeige ihm meinen Mittelfinger. Meine Lungen brennen.“

22 Bahnen“ lässt sich am ehesten als ein Teenager-Liebesroman-Krisenbuch beschreiben, vergleichbar mit einem Benedict Wells aus „Hard Land„. In Caroline Wahls Roman dreht sich alles um die Handlung, um den Plot, um die kleinen und großen Katastrophen, die kleinen und großen Ängste. Es liest sich schnell und flüssig und besitzt einige intensive, dichte Stellen, die die Figuren lebendig werden lassen. Dass es sich größtenteils um Klischees handelt, stört dann schon nicht mehr. Wie ein Robert Seethaler in „Das Café ohne Namen“, wie eine Susanne Abel in ihrer Gretchen-Saga, wie all die Wunschtraumbücher, so auch Caroline Wahl in „22 Bahnen“, sie erschreiben sich eine schöne, bessere Welt in einfacher, herzzerreißender Sprache, die dennoch irgendwie, hier und da, unter die Haut geht, und sei’s als Klischee, das, obwohl erkannt, trotzdem wirkt.  


T.C. Boyle: „Blue Skies“

Kein Thriller, keine Ironie, kein Humor, aber dafür langatmig.

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T.C. Boyles neuer Roman „Blue Skies” besitzt zwar eine klare Botschaft, dass die Welt, der Planet vor den Menschen gerettet werden muss, aber er schlägt hierbei sehr gemischte Töne und unentschiedene Gangarten an. Sein Erzählstil schwankt zwischen zynisch, ironisch, satirisch und reißerisch und findet nirgendwo ein Gleichgewicht, aus dem heraus sich ungehindert ein Lesefluss in die Welt der Cullens ergibt:

Es war seltsam, sie im Haus zu haben, ihre Körper, ihre Ausstrahlung, ihre flüsternden Geräusche, ihre Psychen, die wie ferne Rechenmaschinchen vor sich hin arbeiteten und ihre eigenen Wirklichkeiten konstruierten, die schliefen und wachten in einem Raum, der Ottilie gehörte, einem eingeschränkten Raum, in dem es nicht mal mehr Dunphy gab.

Ottilie Cullen hat mit ihrem Mann Frank zwei Kinder, Cooper und Catherine, genannt Cat und einen Hund namens Dunphy. Cooper forscht über „Auswirkungen der Aussaat von Wolfsmilchgewächsen an kalifornischen Straßenrändern und Feldrainen auf die Eiablage des Monarchfalters“ in Kalifornien, in der Nähe seiner Eltern, und Cat hat es nach Florida verschlagen, wo sie mit Todd, einem Bacardi-Rum-Botschafter, eine Familie gründet und sich eine Karriere als Influencerin aufzubauen versucht. Als besonderen Twist, um ihren Account zu boostern, entscheidet sich Cat dafür, auf eine Python als Markenzeichen zu setzen und sich als „Schlangenlady“ einen Namen zu machen.

Sie war auf etwas gestoßen, auf eine Identität, die ihren Wert als Influencerin steigern würde. Das würde ihr Markenzeichen sein, ihr Entree: die Schlangenlady, die eine neue Linie von Tops oder Designer-T-Shirts oder was auch immer unters Volk brachte. Großartig. Toll. Ausgezeichnet. Doch nach einer Weile empfand sie ein leises Bedauern, weil niemand da war, mit dem sie diese Freude teilen konnte. Sie saß zu Hause herum, allein, ohne Todd oder sonst jemanden, und aus Bedauern wurde Unmut.“

In monotoner, souveräner Manier spult T.C. Boyle die Schicksalsschläge der Cullens herunter. Die Sprache bleibt aufs äußerste einfach, rhythmisch, protokollarisch. Er entwirft Szenen, Dialoge, Ereignisabfolgen in einer Dichte, die kaum Zeit für Beschreibungen, Empfindungen, tiefere Einsichten in die Welt der einzelnen Figuren lassen. Holzschnittartig bleibt es bei diesen Skizzen und von Ferne betrachteten Einzelpersönlichkeiten. Sie wirken isoliert, aus allen Kontexten und Zusammenhängen herausgerissen. Verzweifelt, trist, verquast wehren sich Ottilie, Cat und Cooper gegen des Lebens Unbill und die aufziehende Rache des Ökosystems und nehmen allerlei Schaden. Aufhalten lassen sie sich trotzdem nicht:

„Der Augenblick dehnte sich, bis er das ganze Universum umschloss. Sie tastete sich blindlings voran, alle fauligen Gerüche des Hauses waren freigesetzt, und wieder riss das Herz ihr ein Loch in die Brust. Sie schrie den Namen ihrer Tochter, bis ihr die Stimme versagte. Etwas fiel zu Boden und dann noch etwas und noch etwas … doch plötzlich erhob sich in der absoluten Finsternis ein dünnes Klagen, und da war er, wie ein Wunder: der Kater. Und ihre Tochter. Sie war hier, in Fleisch und Blut, ihre Haut fühlte sich kalt und nass an — Tahoe, Tahoe.“

Trotz einiger dichter Stellen, der Baumstamm, der sich als Alligator entpuppt, trotz vieler Einfälle, eine Schlange als Haustier zu beschreiben, und einigen eingestreuten Pikanterien, Amputationsfetisch, ergibt sich nur ein äußerst fragmentiertes Gesamtbild, dass die Mutterliebe die Welt der Menschen zusammenhält. In seiner epischen Breite zu verkürzt, in seinen Psychogrammen zu detaillos, in seinen Handlungsabfolgen zu wenig überraschend, liest sich der neue Roman wie ein Mischung aus Stephen King und Jonathan Franzen: von King aber nur die einfache Sprache, ohne die Spannung; von Franzen nur die Langatmigkeit, aber ohne die Sprach- und Beschreibungsfreude.  


Maria Borrély: „Mistral“

Geheimnisvolle und tragische Naturprosa voller Intensität

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Maria Borrélys Roman „Mistral“ erschien zum ersten Mal 1930 bei Gallimard. André Gide, der spätere Literaturnobelpreisträger von 1947, empfahl es in höchsten Tönen. Es ward dennoch vergessen. Erst 2006 wurde es wieder aufgelegt, und 2022 von Amelie Thoma zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, aus zunächst keinem anderen Grund als den, dass die Übersetzerin häufig dort ihren Urlaub verbringt, wo der Roman spielt, Puimoisson, auf halbem Wege zwischen Marseille und Nizza Richtung Grenoble gelegen.

Die Sonne umschließt einen ganzen Mandelbaum. Als die große Kugel hinabgeglitten ist, steht der Himmel noch immer in Flammen. Hügel und Wolken verschmelzen, sehen aus wie das Meer. Denn sie kennt das Meer, wo weiße Schaumperlen über die Wellen rennen und springen. Sie hat es in Marseille gesehen, bei der Hochzeit von Cousine Thérèse. Sie erinnert sich an weiße Boote mit blitzenden Kupferbeschlägen, Vorhängen aus heller Seide, glänzenden Lederdivanen …

Borrély schafft es mit wenigen Worten sofort ganze Szenerien zu gestalten, Charaktere einzuführen, ein Dorf zum Leben zu erwecken. Ihre Prosa verdichtet synästhetische Momente. Sie springt in der Beschreibungsintensität vom Kleinsten zum Größten, von Grillen und Käfern zu Sonnen, Wolken und Winden. Alles findet zugleich statt, erhält selbige Aufmerksamkeit, das Holzscheit im Ofen, das Gluckern der Brunnen, das Zirpen, Zwitschern, aber auch die Ängste und Hoffnungen der Eltern und Freunde von Marie, der Protagonistin des Romans:

Wie gut, dass [Norine] die Marie hat, die ihre rechte Hand ist und keine Arbeit scheut. Und die sich, egal worum es geht, nicht zu schade ist. Ebenso geschickt und flink beim Nähen wie beim Einweichen der großen Wäschestücke, beim Hühnerstallausmisten oder Versorgen der lammenden Mutterschafe.

In ihrer Naturprosa stark an Adalbert Stifter aus „Bergkristall“ erinnernd, in ihrer Sanftheit zu einer Hermann Hesse Erzählstimmung wie in „Narziss und Goldmund“ neigend, aber im Gegensatz zu diesen sich eines knappen, geheimnisvollen Symbolismus wie Robert Musil in „Drei Frauen“ bedienend, findet Borrély eine sehr eigenartige Mischung aus Strenge und Zartheit. Ihre Sprache wächst, wuchert, stoppt, hält inne, schreitet voran und verwischt, erlöscht wie die Jahreszeiten, die sie beschreibt:

Diese Ferne zieht [Marie] an, löst sie von der grausamen Welt. Sie spürt die Erschöpfung des Viehs, das über endlose Straßen trottet, ermattet von Staub und Sonne, bereit, umzusinken. Die legenden Wolken sprechen ihre eigene Sprache, unhörbar, aber überzeugend: Alles, was aufrecht und prachtvoll ist, die Wand die der Maurer singend errichtet, der Baum, der sich dem Wind entgegenstellt, der stolze Mensch, der kahle Granitschädel des Hügels, alles fällt zu guter Letzt, die Wand, der Fels, der Baum, der Mensch.

Wer nur ein wenig Literatur mag, Sprachtrunkenheit, Sprachfreude, Lyrismus und Naturbeschreibungen folgen will, sich in der Schönheit einer verdichteten Sagen- und Märchenwelt verlieren möchte, kurzum Literarizität in Reinstform zu schätzen weiß, ohne Thesen, Erklärungen, Positionen, Meinungen, der wird in Maria Borrélys Kurzroman „Mistral“ fündig werden. Ihre Sprache klingt nach. Die verwobenen Handlungsstränge des Romans verdichten sich zunehmend. In ihm ballt sich die ganze Essenz eines gelungenen, geglückten Schreibens und darauffolgenden Lesens und Verstehens.


Erich Kästner: „Emil und die Detektive“

Viel Action. Wenig Tiefgang. Ein munteres Kabinettstück.

Erich Kästner gelang 1928 eine Neuerung im Genre des Kinderromans. Er stellte die Kinder ins Zentrum und ließ die Welt der Erwachsenen nur am Rande zu. Emil und seine Freunde wissen sich selbst zu helfen. Sie sind nicht ratlos. Sie sind nicht ideenlos. Sie sind motiviert, hilfsbereit, spontan und voller Mut und Kameradschaftlichkeit. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Kinderbuch:

„Da hielt es Emil nicht länger aus und sprang aus dem Zug. Er schlug zwanzig Purzelbäume den Abhang hinunter, aber es schadete ihm nichts. Er stand auf und hielt nach dem Zug Umschau. Der stand still, und die neun Pferde drehten die Köpfe nach Emil um. Wachtmeister Jeschke war aufgesprungen, schlug die Tiere mit der Peitsche und brüllte: »Hü! Los! Hinter ihm her!« Und da sprangen die neun Pferde aus den Schienen, sprengten auf Emil zu, und die Wagen hüpften wie Gummibälle.“

Kästner bereitet es offensichtlich große Freude, Fünfe mal gerade sein zu lassen. Er fabuliert herum, lässt sich hier und da zu Anekdoten hinreißen, nimmt Abkürzungen, schwelgt in Traumphantasien und hält einen sehr losen Plot gerade so bei der Stange. Emil wird bestohlen und traut sich nicht unter die Augen seiner ihn liebenden Großmutter, bevor er das Geld wieder zurückerhalten hat. Schuld trägt ein Mann im Zug mit einem steifen Hut.

Und dann waren er und der Herr mit dem steifen Hut allein. Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und verrückte Geschichten erzählt, ist nichts Genaues. Emil wollte, zur Abwechslung, wieder einmal nach dem Kuvert fassen. Er wagte es aber nicht, sondern ging, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, holte dort das Kuvert aus der Tasche, zählte das Geld – es stimmte immer noch – und war ratlos, was er machen sollte.

Aufmerksam gelesen fällt das Kartenhaus der Erzählung schnell in sich zusammen. Die Liebe zwischen der Mutter und Emil scheint nicht sehr groß zu sein, wenn er sie in der Not seiner Verzweiflung nicht um Rat zu fragen vermag. Um Emils Vertrauen und Liebe zur vergötterten Großmutter scheint es auch nicht so weit bestellt sein, wenn er lieber in einer Abstellkammer übernachtet als bei seiner Familie und der fröhlichen Kusine Ponyhütchen. All dies spielt im Großen und Ganzen keine Rolle. Es geht um die Kinder, und die Kinder können die Welt verbessern, indem sie zusammenhalten, sich helfen, sich nicht streiten, sondern dem Unbill der Erwachsenwelt die Stirn bieten:

Der Mann im steifen Hut trat gerade in die Hoteltür, stieg langsam die Treppe herunter und wandte sich nach rechts, der Kleiststraße zu. Der Professor, Emil und Gustav jagten ihre Eilboten zwischen den verschiedenen Kindertrupps hin und her. Und drei Minuten später war Herr Grundeis umzingelt. Er sah sich, höchlichst verwundert, nach allen Seiten um. Die Jungen unterhielten sich, lachten, knufften sich und hielten gleichen Schritt mit ihm. Manche starrten den Mann an, bis er verlegen wurde und wieder geradeaus guckte.“

Von Berlin oder Dresden kommt nicht viel im Text vor. Er ist geradeheraus narrativ, plotfokussiert geschrieben und eilt von einem Ereignis zum nächsten, bis der Übeltäter endlich überführt ist. Nur in kurzen Momenten lässt Erich Kästner etwas aus den 1920er Jahren aufblitzen, aber die Atmosphäre dieses Berlins schimmert nur sehr schwach zwischen den Zeilen durch. Bei „Pünktchen und Anton“ ergibt sich ein viel weitgefächertes Bild. Das Buch liest sich als Jux. Es liest sich nebenbei, aber wer es wie ich als Erlebnis in Erinnerung hat, liest es vielleicht besser nicht. Es wartet eher, ganz im Gegensatz zu „Pünktchen und Anton“ höchstwahrscheinlich mit einer Enttäuschung auf.


Albert Camus: „Der Mythos des Sisyphos“

Gefühlsgestimmte, assoziative Paradoxien über die Einsamkeit und die Flucht vor ihr.

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Im Jahr 1942 erschien von Albert Camus sowohl sein Debütroman „Der Fremde“ wie auch sein bekanntestes theoretisches Werk „Der Mythos des Sisyphos“. Beide Texte handeln vom Absurden, dessen Begriff in dem als „Ein Versuch über das Absurde“ untertitelten Text über den antiken Held Sisyphos umreißt und durch welchen er, trotz seiner wiederholten Beteuerungen, er für die Öffentlichkeit zum Dunstkreis der Pariser Existenzialisten gezählt wurde. Im Gegensatz aber zu Philosophen wie Maurice Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre verfolgt Camus kein philosophisches Projekt. Es handelt sich eher um das Bekenntnis eines 29-jährigen Grüblers:

Es kommt ein Tag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist. Damit beteuert er seine Jugend. Zugleich aber bestimmt er seine Situation, indem er sich in Beziehung zur Zeit setzt. Er nimmt in ihr seinen Platz ein. Er erkennt, daß er sich an einem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er – dazu bekennt er sich durchlaufen muß. Er gehört der Zeit, und mit jenem Grauen, das ihn dabei packt, erkennt er in ihr seinen schlimmsten Feind. Ein Morgen wünscht er sich, ein Morgen, während doch sein ganzes Selbst sich dem widersetzen sollte. Dieses Aufbegehren des Fleisches ist das Absurde.

Camus steht kurz vor seinem dreißigsten Lebensjahr. Er leidet an einer schweren Lungenkrankheit. Sein Philosophiestudium bleibt unabgeschlossen. Seine Ehe geht in die Brüche. Sein politisches Engagement in Algerien findet ein jähes, irreversibles Ende. Camus steht vor den Trümmern seiner Existenz und starrt unvermittelt in das für ihn so bezeichnete Absurde. Es benennt die Ziel- und Sinnlosigkeit allen Unterfangens. Das Absurde erscheint, wenn die Welt jeder Konstruktion, jeder Sinnverleihung, jeder Ornamentalität beraubt wird. Es gibt kein höheres Ziel mehr. Es gibt keine Liebe. Es gibt keine Freundschaft. Es gibt keine Ideen:

Mit diesem Augenblick tritt das Absurde, das so evident und gleichzeitig so schwer fassbar ist, ein in das Leben eines Menschen und wird dort heimisch. […] Er hat es verlernt zu hoffen. Endlich ist die Hölle des Gegenwärtigen sein Reich.

Camus betrachtet die Welt in der unvermittelten, alles bloßlegenden Gegenwärtigkeit. Es ist ihm die Hölle. Es ist eine sinnlose, transzendenzlose Anhäufung von beliebigen Wechselwirkungen. Nichts bedeutet mehr irgendetwas. Alles ist leer. Selbst die Liebe hält nicht, was sie verspricht:

Was Don Juan verwirklicht, ist eine Ethik der Quantität – im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. Nicht an den tiefen Sinn der Dinge glauben – das kennzeichnet den absurden Menschen. Diese warmen oder verzauberten Gesichter, er überfliegt sie, speichert sie und lässt sie in nichts aufgehen. Die Zeit geht mit ihm.

Der das Absurde akzeptierende Mensch bleibt in der Gegenwart, genießt, sucht, genießt, sucht, setzt sich ein für nichts, aber er genießt und sucht weiter und rollt seinen Stein. In „Der Mythos des Sisyphos“ bekennt Camus, dass er an nichts mehr glaubt, dass ihm der Sinn unter den gierigen Händen seiner Jugend zerronnen ist. Was bleibt? Nichts. Camus kennt keine Logik, keine Kohärenz, keine Konsistenz. Sein Welt zersplittert in impressionistischen Gegenwartsmomenten. Der Text wandelt sich dem formalästhetisch an. Sätze folgen aufeinander, aber keine Sinnelemente. Verknüpfende Oberbegriffe lassen sich nicht finden.

Der Mythos des Sisyphos“ liest sich rein assoziativ, rein gefühlsgestimmt. Genaues Lesen wird nicht erwartet und zerstört die Imago des anvisierten sinnentleerten Allumfassenden. Der Text gibt Zeugnis von einem Sich-Aufbegehren im Niemandsland der Hoffnungslosigkeit. Er überzeugt gerade da, wo er nicht argumentiert – und dies bezeichnet nur eines der vielen, sich häufenden, konfusierenden Begriffsparadoxien, die Albert Camus aufeinandersetzt, nur um alles sofort wieder niederzureißen.


Erich Kästner: „Fabian“

Hart und nüchtern ins Herz der Großstadt.

Erich Kästner beschreibt in „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“ ein Berlin der 1920er Jahre, das chaotisch, bunt, frivol, unübersichtlich geworden ist. Der Roman nimmt viele Züge des Surrealismus auf, indem er beispielsweise Traumsequenzen enthält. Auch Dada, die etwas aggressivere Form, findet ihren inhaltlichen Niederschlag, dort, wo Kästner Gewaltexzesse beschreibt, wie bei Arbeiterdemonstrationen. Formal jedoch repräsentiert er als literarischer Gegenentwurf zu Alfred Döblins zwei Jahre früher erschienenen „Berlin-Alexanderplatz“ einfachste Großstadtprosa, ungeschmückt und unverblümt:

„Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder Fenster noch Türen. Und der Himmel war weit entfernt und fremdartig wie über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende gehen.“

Lyrisch geht es in dem Roman „Fabian“ von 1931 nicht zu, der in einer anderen, um ein paar Stellen erweiterte Version seit 2013 auch „Der Gang vor die Hunde“ heißt. Der Protagonist heißt Jakob Fabian, arbeitet als Werbetexter, wird gefeuert, stromert durch die Stadt, verwickelt sich in Liebschaften, kehrt Berlin den Rücken und fährt zurück nach Hause, zu seinen Eltern und reflektiert über sein Leben als Pessimist und Moralist. Er sucht Sinn, findet aber keinen. Er will Verantwortung, aber keiner überträgt ihn welche. Er sucht Anschluss, aber verpasst alle Möglichkeiten.

Der Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.

Thematisch werden in dem Buch Kästners Untreue, Orgien, Geldnot und Eifersucht. Männer wie Frauen betrügen einander. Männer wie Frauen benutzen einander. Kästner protokolliert und subsumiert nüchtern, fast leidenschaftslos. Von sehr weit entfernt werden lose Handlungsfäden zusammen- und wieder voneinander weggeführt. Es ergibt sich eine Art Panoptikum, aber ohne Fluchtpunkt, ein wechselndes Stell-Dich-Ein zwischen den verschiedensten, nur sehr unscharf in Minimalsätzen konturierte Situationen.

Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.

Was in „Pünktchen und Anton“ durch die Hauptfiguren gelingt, der empathische Blick, die beschriebene, unwahrscheinliche Freundschaft, die Hoffnung und die Fröhlichkeit, der springende, schnüffelnde Hund Piefke, bleibt im „Fabian“ grau, konstruiert und Teil einer deutlich herausgearbeiteten Fabel. Glänzt und schillert Kästners Berlin in seinen Kinderbüchern, so entleert sich in seinem Roman für Moralisten zunehmend der Plot, bis er durch sein Ende gänzlich zur Lektion gerinnt. Das Ende kommt so unvorbereitet, wie das Schicksal seines besten Freundes, oder die berufliche und beziehungstechnische Entscheidung Cornelias. Auf seine Weise wirkt „Fabian“ über weite Strecken deshalb wie ein Drehbuch, wie eine spröde Skizze, die es noch auszugestalten gelte, aber vielleicht erklärt diese Freiheit, diese Offenheit, diese Zugänglichkeit auch gerade den lang anhaltenden Erfolg des Romanes.


Erich Kästner: „Pünktchen und Anton“

Ein Buch über eine Freundschaft, das ein Leben lang hält, was es und sie verspricht.

Die Moral der Geschichte von Erich Kästners Roman „Pünktchen und Anton“, der 1931, zwei Jahre nach seinem großen Publikumserfolg und Bestseller Emil und die Detektive, herauskam, gibt er selbst am Ende zum Besten, wenn er sagt:

Seid nicht allzu verwundert, wenn euch das Leben einmal bestraft, obwohl andere die Schuld tragen. Seht zu, wenn ihr groß seid, dass es dann besser wird! Uns ist es nicht ganz gelungen. Werdet anständiger; ehrlicher, gerechter und vernünftiger, als die meisten von uns waren!
Die Erde soll früher einmal ein Paradies gewesen sein. Möglich ist alles.
Die Erde könnte wieder ein Paradies werden. Alles ist möglich.

Dass sich der Autor nach jedem der sechzehn Kapitel selbst zu Wort meldet, jedem Kapitel einen moralischen Hintergrund beimischt, trägt nicht dazu bei, aus „Pünktchen und Anton“ mehr als eine Fabel werden zu lassen. Es reißt aus dem Lesegeschehen heraus, und der mitunter süffisante, etwas überhebliche und frank und frei wertende Ton Kästners, verhindert so das immersive Versinken in die Großstadtwelt von Pünktchen und Anton, das der Erzählstil an anderen, sehr literarischen Stellen doch klar anstrebt:

Autobusse rollen in Kolonnen über den Brückenbogen. Im Hintergründe erhebt sich der Bahnhof Friedrichstraße. Hochbahnen fahren über die Stadt hin, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und die Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Manchmal ist der Himmel rosa vom Widerschein des vielen Lichts, das unter ihm strahlt.

Dass die Welt von Pünktchen und Anton dennoch hält, was sie verspricht, gelingt über die sehr einprägsamen Figuren, von Pünktchen und Anton angefangen, bis zur Dicken Berta, der Mutter Antons und Pünktchen Vater. Sie agieren kohärent, klar, und vernetzen das Handlungsgeschehen als kommunikative Struktur ohne Widersprüche und Inkonsistenzen. Eine, ihre Welt, kommt zur Sprache, und diese, ihre Welt, verdichtet sich in kleinen Szenen:

»Meine Tochter sieht blass aus«, sagte Herr Pogge besorgt. »Finden Sie nicht auch?«
»Nein«, erwiderte Fräulein Andacht. Dann brachte Berta die Suppe und lachte. Fräulein Andacht schielte zu dem Dienstmädchen hinüber. »Was lachen Sie denn so dämlich?«, fragte der Hausherr und löffelte, als kriege er es bezahlt. Aber plötzlich ließ er den Löffel mitten in die Suppe fallen, presste die Serviette vor den Mund, verschluckte sich, hustete entsetzlich und zeigte zur Tür.
Dort stand Pünktchen. Aber, du grüne Neune, wie sah sie aus!

Pünktchen, ein widerborstiges Mädchen, Anton, ein hilfsbereiter Junge, Herr Pogge als fürsorglicher, aber überforderter Vater und die Dicke Berta als freundlicher Anker und Garant für Stabilität für Freund und Familie. Und dazwischen, immer wieder, in kurzen, feinen Strichen Pünktchens Dackel Piefke, der treu und lebensfroh, stets dabei, den Ernst der Situation wohlfeil unterbricht:

Piefke war auf einen leeren Stuhl geklettert, stützte die Vorderpfoten auf den Tisch und gab stirnrunzelnd Obacht, dass alle ihre Suppe aßen. Es sah aus, als wolle er eine Rede halten. Berta brachte Huhn mit Reis und gab Piefke einen Klaps. Der Dackel verstand das falsch und kroch völlig auf den Tisch.

Das Geheimnis, der Plot, die Freundschaft zwischen Pünktchen und Anton überzeugen, reißen mit und erschaffen diese staubige, dunkle, etwas undurchsichtige Welt Berlins der 1920er Jahre. Eine Atmosphäre der Verunsicherung, der Hoffnung, der Angst, aber auch Zuversicht leuchtet zwischen den Zeilen hindurch, der Zuversicht, alles könnte sich doch zum Besseren wenden. Kästners herablassende Kommentare stören da eher, als dass sie helfen. Es erscheint beinahe, als hätte er sie als Lückenfüller hinzugefügt, um den Text, der äußerst verdichtet erzählt, etwas zu strecken. Wer sie nicht liest, verpasst nichts. Ein Buch über eine Freundschaft, das ein Leben lang hält, was es und sie verspricht.


Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“

Eine Schmonzette, aber eine gute. Kurzweilig und rührselig.

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Es gibt eine Form der Belletristik, die nichts als Trauerverarbeitung sein will. Sie ist sentimental. Sie ist kitschig. Sie ist voller Phrasen und Plattitüden, voller Banalitäten und rührseligen Anekdoten. Sie lebt von der Beständigkeit ihrer Figuren, den unerschütterlichen Glauben an das eigene und das Glück der nächststehenden Menschen, von Bekannten, Freunden und an das aller anderen. Bücher wie „Das Café ohne Namen“ von Robert Seethaler sind schlicht und ergreifend Rührstücke:

Manchmal dachte er an den Anfang zurück, an den Fliegenschwarm, der sich wie ein schwarzer Schleier hinter dem Tresen erhoben hatte, an den Geruch der frisch geschliffenen Dielen und der Dämpfe, die ihm beim Streichen der Möbel die Sinne vernebelt hatten. Er dachte an den Tag, an dem Mila aufgetaucht war, an den ersten Winter mit Punsch und an seine weißen Finger, die von einem Feuerwehrmann zwischen zerfetzten Metallteilen gefunden, in ein Taschentuch gewickelt und mit Blaulicht ins Spital gefahren worden waren.

Das Café ohne Namen“ wird von Robert Simon geführt, der es im Nachkriegswien der 1960er Jahre wieder auf Vordermann bringt, in welchem Dramen, Liebeleien, in welchem es Gezänk, Streitereien zuhauf gibt. Zu seinem Glück findet sich Mila Szabica ein, die nach Wien zog, um dort in einer Feintextilfabrik als Hilfsnäherin zu arbeiten, die aber bald schon schließen und Mila entlassen muss. Mit Mila als Bedienung gehen zehn Jahre ins Land. Alles ändert sich rundum den Karmelitermarkt. Die Zeit geht auch an Robert nicht spurlos vorüber.

Wenn er den Blicken mancher Frauen glauben durfte, hatte er sich ganz gut gehalten, doch er war müde. Er hatte bemerkt, wie sehr er die Dienstage brauchte, um sich auszuruhen, und seit einigen Monaten war der Verdacht in ihm gereift, dass ein freier Tag pro Woche bald nicht mehr ausreichen würde. Seine Knöchel schmerzten. Morgens kam er kaum aus dem Bett vor lauter Steifheit in den Gelenken, und jedes Mal, wenn er sich unter den Tresen bückte, gab es ihm einen Stich, als hätte ihm jemand einen Dolch ins Kreuz gestoßen. Es ist gut, wie es ist, dachte er, man soll die Dinge zu Ende bringen, solange man noch Kraft hat, etwas Neues zu beginnen.

Seethalers Prosa bleibt schlicht. Sie handelt von schlichten Dingen. Sie handelt von einfach Ängsten, kleinen Vergnügungen, von Menschen, die sich gegenseitig nicht kennen, auf den Straßen unbekannt aneinander vorübergehen, doch sehr viele Nöte und Hoffnungen teilen. In „Das Café ohne Namen“ kommen sie zusammen, atmen kurz durch, bevor es weitergeht und sich wieder in alle vier Winde zerstreuen. Romane wie „Das Café ohne Namen“ erzählen schnell, geradeheraus ohne formalästhetischen Anspruch, auch wenn hier und da Ähnlichkeiten zu Alfred Döblins „Berlin – Alexanderplatz“ aufblitzen. Ihre Figuren leben durch die Sentimentalität, die ihnen der Autor zweifellos und nachdrücklich entgegenbringt. Er will ihnen nichts Böses. Er will ihnen nur Gutes.

Das Café ohne Namen“ ist Trivialliteratur auf dem höchsten Niveau, die nichts anders sein will, die wie Jack London zu rühren und zu unterhalten versteht und der sogar, so einem der Sinn danach steht, es spielend gelingt, einem die Vergeblichkeit und Endlichkeit aller Dinge vor Augen zu führen. Eine Schmonzette, aber eine gute. Wer jedoch Bücher wie „Stay away from Gretchen“ einer Susanne Abel, oder „Der Markisenmann“ eines Jan Weiler, „Kummer aller Art“ einer Marianne Leky oder „Zur See“ einer Dörte Hansen nichts abgewinnen kann, wird auch mit Seethalers „Das Café ohne Namen“ nicht glücklich werden können. Den anderen bietet es kurzweiliges Lesevergnügen.  


Philip Roth: „Der menschliche Makel“

Durchschaubares Pamphlet mit literarisch-sprachlich intensiven Passagen.

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Die akademischen, universitären, die feuilletonistischen und journalistischen Welten folgen eigenen, selbstreferenziellen Gesetzen. Philip Roth setzt sich mit diesen in seinem Roman „Der menschliche Makel“ auseinander und lässt von einem alternden Schriftsteller namens Nathan Zuckerman die Lebensgeschichte eines in Unehre gefallenen Professors für klassische Literatur rekonstruieren:

Woher ich weiß, dass [Faunia] es wusste? Ich weiß es nicht. Ich konnte es nicht wissen. Ich kann es auch heute nicht wissen. Jetzt, da [Faunia und Coleman] tot sind, kann niemand es wissen. Und wie auch immer: Ich kann nur tun, was jeder tut, der zu wissen glaubt. Ich stelle mir etwas vor. Ich bin gezwungen, mir etwas vorzustellen. Das ist zufällig das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist mein Beruf. Ich tue jetzt nichts anderes mehr.“

Die Prosa, die Roth in seinem Roman bemüht, gleicht einer dicken altertümlichen Perlenkette. Er reiht Szenen einer Erzählgegenwart aneinander, die nur äußerst lose durch den roten Faden einer an den Haaren herbeigezogenen Idee verbunden sind, die aber zu nennen den Hergang und Plot des Buches spoilern würde und daher im Folgenden nicht weiter Erwähnung findet. Die Erzählweise von „Der menschliche Makel“ orientiert sich unverblümt am Stil einer Klatsch- und Sensationspresse, die ihr Publikum mit Tabubrüchen und Unschicklichkeiten bei der Stange zu halten versucht:

Aber sieh mich jetzt nicht so an, als würde ich noch für etwas anderes als das hier taugen. Für mehr als das hier. Bleib hier bei mir. Geh nicht weg. Bleib bei dieser Sache. Denk an nichts anderes. Bleib hier bei mir. Ich werde tun, was du willst. Wie oft hat dir eine Frau das gesagt und es wirklich ernst gemeint? Ich werde alles tun, was du willst. Mach’s nicht kaputt.“

Szenen geheimer Lüste und endlich entblößter, lang unterdrückter Phantasien, Befreiungsschläge eines auf ausuferndem Freiheitsgefühl basierenden Begehrens und einer über alle Schranken entlassenen Gier nach Anerkennung prägt den Ton von Roths Schreiben, jedoch im Schafspelz einer aufs Äußerste in sich gebrochenen Prosa, der in einem fort Unverhältnismäßigkeiten in Beschreibungen und szenischen Gestaltungen unterlaufen. Aufzählungen, bandwurmartige Ausführungen verlieren sich im Nirgendwo eines oft nicht einmal ansatzweise überzeugenden Vergleichs oder einer irreführenden, nichtssagenden Metapher: 

Die konstituierte Gesellschaft – die in ständiger Bewegung begriffenen Kräfte, das verzweigte, bis an die Grenzen der Belastbarkeit gedehnte Geflecht der Interessen, der unablässige Kampf um Vorteile, die unablässige Unterdrückung, die eigennützigen Konflikte und Absprachen, der abgefeimte Jargon der Sittlichkeit, der wohlmeinende Despotismus der Konventionen, die labile Illusion der Stabilität -, die Gesellschaft, wie sie geformt wird, wie sie immer schon geformt wurde und geformt werden muss, war [Iris Eltern] so fremd wie König Arthurs Hof einem Yankee aus Connecticut.“

Wer Mark Twains Roman „Ein Yankee am Hofe des König Artus“ nicht kennt, dem wird der Vergleich nichts sagen. Wer den Roman kennt, wird aber auch nicht wissen, auf welche Gefühlswallungen von Hank Morgan sich der Ich-Erzähler von Roth genau bezieht, zumal der Yankee von Twain als ein äußerst selbstbewusster und hemdsärmeliger Haudegen beschrieben wird, der mit den verschreckten Eltern von Iris so gar nichts gemein hat. Das Beispiel zeigt eine Crux von Roths Prosa, die alles zu sehr in die Länge zieht und sich von einer „klugen“ Idee zur nächsten mittels mehr schlecht als recht herangezogenen Vergleichen zu hangeln versucht. Die aberwitzige Szene von Vietnamveteranen in einem asiatischen Restaurant im Kapitel „Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht?“ kann diesbezüglich als Tiefpunkt betrachtet werden.

Nur in den stark an William Faulkner erinnernden monologistischen Passagen der Figuren beginnt Intensität zu leuchten. Hier verdichtet sich Roths Sprache und entfaltet eine Dynamik, die den beschriebenen Figuren unmissverständliche Lebendigkeit und Einzigartigkeit einhaucht. Szenen dieser Art bleiben aber für sich und finden keinen wirklich überzeugenden Zusammenhang im Romanganzen. Was bleibt, ist eine teils sehr gewollte, hochmanieriert konstruiert geschriebene Fabel über diverser Ungerechtigkeiten, die sich ungerechte Menschen gegenseitig zufügen. Einem Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Schuld und Sühne oder William Faulkner in Als ich in Sterben lag gelingt dies ohne ins Leere laufende Zeitkritik. Wer jedoch bereits alles von diesen Schriftstellern gelesen hat, mag in Philip Roths Roman Trost über die Endlichkeit ihres Gesamtwerkes finden. 


James Baldwin: „Giovannis Zimmer“

Äußerst verdichtete Beschreibung einer misslungenen Selbstflucht.

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Aufs äußerste verdichtet berichtet David, der Ich-Erzähler und Protagonist in James Baldwins zweiten, 1956 erschienen Roman „Giovannis Zimmer“, von seinen Erlebnissen in Frankreich der 1950er Jahre. Es geht vordergründig um Davids uneingestandene Homosexualität, sein Coming-Out, das Scheitern seiner Verlobung mit Hella. Beide, David und Hella, fliehen vor sich. Hella will ihrem Kleinbürgertum und dem Hausfrau-Dasein ihrer Mutter entkommen, findet aber auf sich allein in Paris gestellt nur Talentlosigkeit vor. David will seine Homosexualität nicht wahrhaben und stürzt sich Liebschaften, endet aber in den Armen eines italienischen Barmannes namens Giovanni:

Und plötzlich wurde mir klar, wie fantastisch ein so kindisches Benehmen in meinem Alter war und wie viel fantastischer noch das Glück, dem es entsprang, denn in diesem Augenblick liebte ich Giovanni wirklich. Nie war er mir so schön erschienen wie an jenem Nachmittag. Als ich sein Gesicht betrachtete, erkannte ich, dass es mir viel bedeutete, dieses Gesicht so heiter machen zu können, und dass ich viel darum geben würde, diese Kraft nicht zu verlieren. Ich fühlte mich zu ihm hinströmen wie ein vom Eis befreiter Fluss.

Der äußerst streng komponierte, knapp gehaltene, kaum über 200 Seiten reichende Roman spielt aber nur vordergründig auf der Klaviatur diverser vermeintlich gefährlicher Liebschaften. Vielmehr reflektiert Baldwins Sprache und Stil auf Zeit und zeichnet den Erlebnisstrom Davids als von kurzen, prägenden, sich zeitlich fortpflanzenden, ausbreitenden, das ganze Leben färbenden und in Beschlag nehmenden Augenblicke nach. Auf diese Augenblicke kehrt der Ich-Erzähler in Flash-Back-Manier immer wieder zurück. Er versucht ihnen das Geheimnis abzutrotzen, dem inneren Mythos in die Augen zu sehen:

Ein Zittern durchlief mich, wie der Beginn eines Erdbebens, und eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, in seinen Augen zu ertrinken. Sein Körper, der mir so vertraut geworden war, schimmerte in dem Licht, elektrisierte und verdichtete die Luft zwischen uns. Dann sprang etwas in meinem Gehirn auf, eine geheime Tür öffnete sich lautlos, und ich erschrak: Unvermutet war mir der Gedanke gekommen, dass ich, indem ich vor seinem Körper floh, die Macht seines Körpers über mich bestätigte und verewigte.“

James Baldwin gelingt auf schlafwandlerische Art und Weise eine Erzählung zu komponieren, die nirgendwo an Intensität verliert, die in jedem Satz neue Verbindungen knüpft und ein Geheimnis auf das andere setzt, ohne je an Deutlichkeit und Klarheit zu verlieren. David hat Angst, vor sich, vor der Welt, vor der eigenen Lust. Er hat Angst vor Entscheidungen, vor Verantwortung. Er lügt. Er betrügt, und doch schaut er sich ununterbrochen über die Schulter, verzweifelt, geschwächt, unfähig den Gang der Dinge aufzuhalten.

Wenn der Morgen graut, bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts ändern. Nach Paris werde ich auf jeden Fall fahren. Der Zug wird der Gleiche sein, die Menschen, die auf den harten Holzbänken der dritten Klasse Bequemlichkeit und Würde miteinander zu vereinen suchen, werden die Gleichen sein, und ich werde der Gleiche sein. Wir werden durch dieselben ländlichen Gegenden nach Norden fahren, fort von den Olivenbäumen, dem Meer und der Pracht des sturmzerzausten südlichen Himmels, mitten hinein in den Dunst und Regen von Paris.“

James Baldwin dichtet mit Giovannis Zimmer eine moderne Form der griechisch-mythologischen Ananke, des unpersönlichen, gleichsam sich automatisch über den Köpfen der Beteiligten vollstreckenden Schicksals. Dies gelingt durch einen Protagonisten, der sich in einer Art Starre seinem eigenen Selbst gegenüber befindet, einer Passivität, die nur von außen gelenkt, getrieben, in Bewegung versetzt werden kann, der sich also weigert, sein Leben in die Hand zu nehmen und auf einen Akt der Gnade hofft, dabei aber das Leben und die Gefühle seiner Mitmenschen in Mitleidenschaft zieht.

In seiner knappen Diktion vergleichbar mit Truman Capotes Kaltblütig oder auch Franz Kafkas Der Process.


Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Eine gerettete Zunge, wild und widerständig, auf der Suche nach sich.

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Dass das Fremde ein Allgegenwärtiges sein kann, dass vielleicht das Nächste das Unbekannteste ist, dass im Alltäglichen Schätze ruhen und Mysterien weiterbestehen, davon berichtet Dinçer Güçyeter in seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet worden ist. Er steht im Zusammenhang mit Fatma Aydemirs „Dschinns“ und lässt sich als Gegenentwurf zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ lesen. Wie in Aydemirs Roman geht es um eine türkische Familie, die in Deutschland lebt; wie in „Blutbuch“ geht es um den Versuch, eine ganz eigene Sprache und Selbstbestimmung zu finden. Im Gegensatz zu beiden steht aber ganz klar die Liebe zur Mutter im Vordergrund:

Ich wollte dich verstehen, ich wollte dir näherkommen und fiel dabei immer tiefer in den Brunnen, so tief, dass manchmal kein Lichtstreifen mehr zu sehen war. Dich wollte ich entlasten, nun spüre ich eine Fracht in mir, die unmöglich zu tragen ist. Darüber zu schreiben, versetzt mich in Scham, aber ich muss darüber schreiben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr.“

Es handelt sich bei „Unser Deutschlandmärchen“ um keinen gewöhnlichen Roman. Güçyeter fährt viele Stilmittel auf. Sein Weg führte von der Dichtung zur Prosa, und dies lässt sich an der freien Gestaltung, Setzung und Rhythmik wie Melodik des Romanes erkennen. Gedichte unterbrechen den Handlungs- oder Reflexionsverlauf. Drehbuchartige Dialogsequenzen lockern die festgefahrenen kommunikativen Verhältnisse. Dazwischen illustrieren Photographien die handelnden, berichtenden Figuren und erhalten so blitzlichthaft intensive Lebendigkeit. Es gibt sie wirklich. Güçyeter inszeniert Authentizität eindrücklich:

Fatma ist mein Name. Ich bin die Tochter von Hanife und von Osman Bey. Ich war erst zehn Jahre alt, da haben wildfremde Männer seine Leiche in den Hof getragen. Ich war das liebste Kind meines Vaters, und er, er war meine Schutzmauer. Er brachte jeden Freitag Forellen mit, jeder bekam eine, ich durfte zwei essen … Dann war er tot.

Die Reise von Fatma von der ländlichen Türkei in die Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit beschäftigt ihren Sohn, Dinçer, der ihre Berichte kompiliert. Die Lebensgeschichte wird zu einem Sesam-Öffne-Dich und Sesam-Verschließ-Dich. Er schafft es nicht, ihre Härte und Strenge im Zusammenklang mit ihrer Toleranz und Ergebenheit zu verstehen. Alles spricht gegen sie, aber sie kämpft sich durch, arbeitet ein Leben lang, während ihr Ehemann alles verspielt, vertrinkt, verschenkt. Sie zieht zwei Söhne auf. Dinçer ist einer von ihnen. Er muss sich von ihrer Entsagung und Aufopferung freischreiben, ohne jedoch die Entsagung und Aufopferung, die sie ihr ganzes Leben lang geleistet hat, zu verraten:

Hier ist es so, hier glüht die jahrhundertealte Bescheidenheit des Frauseins, hier wird sie zur Asche, zum Staub. Es kommt der Tag, da erwacht der Drache aus seinem Schlaf, breitet die Flügel aus, sucht nach einem unbewohnten Himmel. Er schöpft neue Geschichten aus seinen wunden Stellen, Geschichten, wie du, wie ich. Nur die Geschichte kann die Wahrheit sein, nur sie kann diesen Eisberg zersprengen. Fatma, ich gehe auf eine neue Reise, in eine andere Gegenwart, pass auf dich auf.“

Dinçer Güçyeters Roman „Unser Deutschlandmärchen“ gehorcht einer ganz eigenwilligen Ästhetik des Widerstandes. Er verurteilt nicht. Er erklärt nicht. Er distanziert nichts und niemanden. Sein Stil kämpft um Individualität, um Singularität. Sein Schreiben gleicht mehr einem Gesang, einem Rezitativ tief hinein in eine hallende, widerspenstige Nacht, gegen Unbill und Ignoranz gewappnet und gewandt. In diesem Sinne vermittelt sich Wut und Angst in literarische Wucht, die über Aydemirs „Dschinns“ hinaus nachhallt. Güçyeters Entwürfe besitzen etwas Wildes, Rohes, Ungekünsteltes, das inmitten von Schmutz, Staub, Blut und Dreck nach Edlem, Wahrem, Beständigem sucht.

Er stellt sich in die Tradition eines Charles Baudelaire aus „Die Blumen des Bösen“ und Octavio Paz „In mir der Baum“, aber auch in die eines James Baldwin aus „Giovannis Zimmer“ und Ralph Ellison aus „Der unsichtbare Mann“, aber mit eigener, ganz unverstellter Pose.


Eugen Ruge: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“

Eine im jovialen Ton verfasste Ohrensessellektüre für zwischendurch.

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Eugen Ruges neuester Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ sticht aus der Reihe der Neuerscheinungen deutlich heraus. Weder nimmt er Stellung zu den breitdiskutierten Themen der Gegenwart noch bemüht er ein autofiktionales Setting zur Traumabewältigung. Die digitale Welt spielt keine Rolle. Von E-Mails, SMS, von sozialen Medien keine Spur. Wie auch? Der Roman behandelt die letzten Monate vor dem Untergang Pompejis:

„Ungefähr neun, vielleicht auch zwölf Stunden nach Josses letzter Rede sackte die überschwer gewordene Wolke aus Asche und Feuer in sich zusammen und stürzte mit einer Geschwindigkeit eines Armbrustpfeils in das Tal, ergoss sich über die Stadt, überstieg Mauern, drückte Türen ein, strömte durch Ritzen und Fenster. Vielleicht hat Josse noch gespürt, wie seine Lungen verglühten.“

Josse oder Jowna oder Josephus lebt vor sich hin. Er leidet an der Armut seiner Familie. Er leidet an der Bedeutungslosigkeit seines familiären Hintergrundes. Er leidet an seinem ausbleibenden Erfolg bei den Frauen, und, während er so vor sich hin leidet, seine Mutter mit seiner maßlosen Faulheit enttäuscht, also das Leben eines richtiggehenden Nichtsnutz führt, wird seine Heimatstadt, Pompeji, von einem die halbe Stadt zerstörenden Erdbeben heimgesucht. Von Schule, Bildung, Struktur und Normalität befreit, beginnt für Josse eine Epoche paradiesischer Verwahrlosung, bis er zufällig einem Vortrag über Vulkanismus beiwohnt, der die kurz bevorstehende Apokalypse verkündet. Josse selbst beschließt die Versammlung mit der ersten seiner fünf im Roman aufgeführten Reden:

„Wenn man das hier ansieht, zusammenfassend, kann man wohl nur, als Außenstehender, eine Schlussfolgerung ziehen, und das wäre, dass uns, den … äh … somit Betroffenen, da der Berg sich kaum von der Stelle bewegen wird, wohl kaum etwas anderes übrig bleibt, als uns selbst von der Stelle zu bewegen.“

Wie nun dieser wenig rhetorisch begabte und völlig mittelose Faulenzer es dazu bringt, für das Amt des Stadtoberhauptes zu kandidieren, davon handelt Ruges klassisch erzählter Roman. Die Erzählinstanz bleibt im Anonymen. Sie geben die Schriften als Warnung heraus, auf dass spätere Generationen von den Fehlern der früheren lernen. Sie berichtet distanziert, lakonisch, souverän über die Ereignisse, ohne Mitleid, ohne Intensität oder irgendwie gearteter Verzweiflung. Sehr in der Art von Michel de Montaigne aus seinen „Essais“, voller Stoizismus, bleibt der Erzählstil Ruges anekdotisch, fast aphoristisch, antik-attisch heiter, als hätte ihm Diogenes von Sinope, der Philosoph in der Tonne, die Feder geführt:

Seit seinem Weggang vom Fenster des Meeres hatte er die Vulkantheorie attackiert und sich über Josses Gerede vom Feuergott lustig gemacht. Er war Materialist. Lieber glaubte er an das Ende der Welt, wie es Lukrez vor hundertfünfzig Jahren prophezeit hatte. Die mächtigen Mauern des Weltenrunds – hieß es so bei Lukrez? – erliegen dem Sturm und zerfallen in Schutt und Asche. Die kurze Zeit, die ihm noch verblieb, verbrachte er damit, jenen Lukrez’schen Satz vor sich hin zu sprechen, der immer sein Lieblingssatz gewesen war: Der Tod geht uns nichts an. Er starb, von Bimsstein bedeckt, sitzend.

Ungewöhnlich für die Gegenwartsliteratur schreibt Ruge lange Sätze mit vielen Adjektiven, vielen Wendungen und handverlesenen Verben. Flüssig und stets auf Unterhaltsamkeit bedacht erinnert „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ an ähnlich geartete Romane Ingomar von Kieseritzkys wie „Die ungeheuerliche Ohrfeige“ oder Luciano De Crescenzo „Die Vorsokratiker“ oder „Bellavista und die Liebe“. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Ohrensessellektüre, die weder schmerzt noch belehrt, die einfach nur amüsieren und müßige Zeit vertreiben soll. Alles andere in diesen Roman hineinzuinterpretieren, wird dem bis aufs äußerste gesteigerten jovialen Ton und Schreibstil nicht gerecht.


Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“

Hoffnungsloses Zeitporträt, nüchtern und trist konsequent wegerzählt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

1963 erschien Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ und löste eine heftige Reaktion im deutschen Feuilleton aus. Sein Roman steht in der Tradition der engagierten Literatur, die direkt in zeitgenössischen Diskussionen einzugreifen versucht. Romane neueren Datums sind beispielsweise Benjamin von Stuckrad-Barre „Noch wach?“ in Bezug auf die #MeToo-Bewegung oder Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“, in welchem es hauptsächlich um body positivity geht. Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ stammt aus einer Zeit, in der die Wertefrage mehr in Richtung Familienwerte und Religionszugehörigkeit gestellt worden ist:

»Lassen Sie doch diesen Unsinn, Schnier. Was haben Sie nur?«
»Katholiken machen mich nervös«, sagte ich, »weil sie unfair sind.«
»Und Protestanten?« fragte er lachend.
»Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.«
»Und Atheisten?« Er lachte noch immer.
»Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.«
»Und was sind Sie eigentlich?«
»Ich bin ein Clown«, sagte ich, »im Augenblick besser als mein Ruf.«

Der Ich-Erzähler, Hans Schnier, der Clown als seine Konfession bezeichnet, arbeitet als Alleinunterhalter auf den Bühnen verschiedenster Institutionen und wird von seiner Lebenspartnerin Marie Derkum für einen Katholiken namens Heribert Züpfner, ein hohes Tier im Dachverband katholischer Laien, verlassen. Er leidet stark darunter, beginnt zu trinken und gerät in Geldnot. Der Roman beginnt damit, dass Hans absichtlich während einer Vorstellung ausrutscht, aufs Knie fällt und so das Ende einer Tournee erzwingt, die ihm von Bonn, seinem Zuhause, also auch von Marie  fernhält, die dort mit Züpfner ein neues Leben zu beginnen versucht.  

Ich warf noch einen Blick über die Dächer der Universität hinweg auf die Bäume im Hofgarten: da hinten zwischen Bonn und Godesberg auf den Hängen würde Marie wohnen. Gut. Es war besser, in ihrer Nähe zu sein. Es wäre zu leicht für sie, wenn sie denken konnte, ich wäre dauernd unterwegs. Sie sollte immer damit rechnen, mir zu begegnen, und jedesmal schamrot werden, wenn ihr einfiel, wie unzüchtig und ehebrecherisch ihr Leben verlief […]

Ein freundlicher Zeitgenosse ist Hans Schnier nicht. Seinen Eltern wirft er vor, ihn wegen übermäßiger Gesundheitsvorstellungen hungern gelassen zu haben; Marie und seinem Bruder Leon wirft er vor, zum Katholizismus übergelaufen zu sein; seinem Jugendfreund hält er die Parteikarriere innerhalb der SPD vor; der Geliebten seines Vaters wirft er vor, geizig zu sein; seinen Agenten beschuldigt er, ihn beschwindelt zu haben. Er bleibt dennoch in Bonn, obwohl er es offenkundig nicht mag:

Sie lächeln alle so verquält ironisch über Bonn. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn eine Frau, deren Reiz ihre Schläfrigkeit ist, anfinge, plötzlich wie eine Wilde Can-Can zu tanzen, so könnte man nur annehmen, daß sie gedopt wäre – aber eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt ihnen nicht. Eine gute alte Tante kann einem beibringen, wie man Pullover strickt, Deckchen häkelt und Sherry serviert – ich würde doch nicht von ihr erwarten, daß sie mir einen zweistündigen geistreichen und verständnisvollen Vortrag über Homosexualität hält oder plötzlich in den Nutten-Jargon verfällt, den alle in Bonn so schmerzlich vermissen.

Heinrich Böll fängt in seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ eine unheimliche Stimmung ein, die zwischen Ausweglosigkeit, Rachsucht und Selbstzerstörung einer noch jungen Bundesrepublik schwankt. Sein Roman hat viel Ähnlichkeit zu Christoph Heins „Der Tangospieler“, Wolfgang Hildesheimer „Nachtstück“, Eugène Ionesco „Der Einzelgänger“ und Jack Londons „Martin Eden“. In all diesen Büchern spielt Armut, Isolation, Einsamkeit eine große Rolle, also Figuren, die sich aggressiv aus verschiedenen Motiven heraus von ihren Mitmenschen entfremden. Diese Tristesse schwingt in Bölls nüchterner Schreibweise mit. Er beschreibt und schreibt in einer Welt, in der Schönheit und Hoffnung ein Fremdwort geworden ist.  


Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Außer Spesen nichts gewesen. Ein didaktischer Hip-Hop-Roman.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Stuckrad-Barres Titel von seinem neuen Roman „Noch wach?“ versteht sich nach dem Lesen als mehrdimensionales, in sich verspiegeltes Versteckspiel. „Noch wach?“ bezieht sich auf den englischen Begriff „woke“, aber auch auf die Kurznachrichten eines Chefredakteurs, die er seinen Mitarbeiterinnen tief in der Nacht schickt in der Hoffnung, dass sich noch ein Treffen zwischen ihnen ergibt. In äußerster Verdichtung mischen sich kommunikative Formen der Läuterungs- und Nötigungsversuche der Moderne. Stuckrad-Barres Text stellt die Frage, ob sich das Publikum diesseits oder jenseits von „woke“, diesseits oder jenseits von #MeToo, diesseits oder jenseits von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch befindet:

Arbeitsrechtlich ist das ein scheiß Minenfeld. Aber ich meine, ganz unter uns gesagt: Was willst du von dem Drecksblatt auch anderes erwarten? Mein Freund schaute angewidert und bat mich, ihm abermals den Post des früheren BILD-Chefredakteurs zu zeigen, das frühmorgendliche Foto vom See, samt der irgendwie spät(sehr spät)pubertär-stolzen Meldung, dass er NOCH wach sei.

Der Plot wird aus der Sicht eines zwischen Hollywood und Berlin hin und her pendelnden Schriftstellers erzählt. Mal liegt er wie ein Honigkuchenpferd in Los Angeles Smartphone wischend am Pool. Mal stapft er wie ein begossener Pudel mit kreisenden Gedanken durch das regennassverschneite winterliche Berlin. Schlau wird er aus dem ganzen nicht. Als enger Freund des Chefs des Chefredakteurs gerät er als Vertrauensmann der Mitarbeiterinnen zwischen die Räder. Ob die Freundschaft zwischen dem Chef und ihm hält, darin besteht die Handlung.

Aber einen Rat geben, das schon, natürlich. Das tat er umgekehrt ja auch oft. Seit wir Freunde waren, taten wir das, einander beraten, in egalwelchen Angelegenheiten, und Freunde waren wir schon viele Jahre lang. Plötzlich hatte ich eine komische Überblendung im Kopf, das war jetzt entweder ein Schlaganfall oder – ah, nein, es war die Vergangenheit. […] Szenen einer Freundschaft, nein, Freundschaft fasste es nicht, es waren – Szenen einer Liebe.

Durch das wiederholende „mein Freund“ verdichtet sich die Erzählung und bekommt dadurch eine gewisse Emphase und Dringlichkeit. Eine Freundschaft steht hier auf dem Spiel wie nicht selten durch eine heraufziehende Entscheidung zwischen Privatleben und Beruf, denn der vom Freund des Ich-Erzählers geschützte Chefredakteur vermischt diese, indem er seine weiblichen Angestellten verführt, sexuell belästigt, ausnutzt, nötigt und dann für die nächste fallen lässt.

Was sich auf dem ersten Blick wie ein Michael Crichton oder John Grisham Roman ausnimmt, ist es auf dem zweiten ganz und gar nicht. Stuckrad-Barre schwadroniert. Er komponiert einen Neologismus an den anderen, spielt mit Andeutungen, Unwissenheiten, mit Name-Dropping und Kalauern. Auf diese Weise gelingt ihm, was zu einem Plot, einer Narration zu verkommen droht, zu unterlaufen und in eine Art Hip-Hop-Sprech zu verwandeln, also einen Roman zu schreiben, der keiner sein will, ein Text, der eher wie das Rezitativ einer etwas zu lang geratenen Zeugenaussage erscheint:

Kampagne, yo, Alder, stabile PROJEKTION. Geil auch, wie unterwürfig der plötzlich wird, wenn er Schiss hat. Ich glaube, der macht das jetzt echt. Und wir können den anderen diesen Zaubersatz sagen, der eigentlich immer funktioniert in dem fucking Turm: DAS KOMMT VON GANZ OBEN. Hehe. Wirklich nicht so schlecht, dein geiler Trick da vorhin. Dann lass mal jetzt die BELASTUNGSZEUGINNEN aufteilen. Das Wort hast du übrigens schon wieder nicht benutzt, ich sag’s nur.

Das hilflose Rudern zwischen Denglisch und Engleutsch greift oft ins Leere. Der Ich-Erzähler verliert die Übersicht. Ein paar geschickte Konstruktionen überraschen hier und da, aber was nützen die besten Gewürze, wenn das Hauptgericht auf sich warten lässt. „Noch wach?“ von Stuckrad-Barre gleicht ein wenig dem Warten auf den Weihnachtsmann, nur dass am nächsten Morgen, wenn die Augen schließlich doch zugefallen sind, nicht mal Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen. Außer schmissigen Wortkaskaden nichts gewesen. Wer jedoch Poetry-Slam über Klatsch und Tratsch der Berliner Republik mag, wer zitierfähigen Hip-Hop-Text à la Die Fantastischen Vier über Hunderte Seiten lesen will und keine, teilweise schmerzhaft langen Determinativkomposita scheut, der wird seine Freude haben. Aus „Girl, you are not in Kansas anymore” wird dann halt „Now, it’s just dust in the wind.“


Olga Tokarczuk: „Empusion“

Empusion

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:

Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«

Direkt auf den ersten Seiten werden von Tokarczuk die Karten auf den Tisch gelegt. Mieczysław Wojnicz, Hans Castorp, beide Ingenieure, beide 24 Jahre alt reisen einmal nach Berghof, nahe Davos, und nach Görbersdorf, nahe Breslau, um ihre Lungenkrankheit zu kurieren. Sie lernen altgediente Herren kennen, die philosophieren und humanisieren, über Gott und die Welt parlieren. Im Gegensatz aber zu Thomas Mann, der seine Zeit, einen gewissen Zeitgeist in Worte zu fassen versuchte, zielt Tokarczuk auf Allgemeineres. Sie thematisiert mithilfe ihre Protagonisten tiefliegende Differenzen in Raum und Zeit, vor allem die Geschlechterauffassung in der abendländischen Kultur, das Verhältnis Mensch-Natur, die Ignoranz gegenüber dem Körperlichen, wenn Wojnicz beispielsweise zu Dr. Semperweiß, seinem Arzt sagt:

»Vielleicht bin ich nicht selbstsicher genug. Sie sind der Arzt, ich bin der Kranke. Ich spreche mit Ihnen in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist. Ich fühle mich hier fremd und einsam.« Wojniczens Stimme bebte. »Meine Lunge ist real, aber meine Nationalität ist es nicht mehr. Sie ist Teil einer Sphäre, zu der wahrscheinlich Herr August etwas zu sagen hätte. Meine Nationalität gehört vermutlich schon lange ins Reich der Mythologie.«

Statt aber einen Thesenroman zu verfassen wie Robert Menasses „Die Erweiterung für die europäische Einheit oder Sibylle Bergs „RCE“ und „GRM“ für die soziale Gerechtigkeit, überlässt Tokarczuk der Sprache selbst die Stellungnahme. Sie beschreibt, erzeugt, dichtet die Bergwelt. Sie beurteilt und evaluiert sie nicht. Sie lässt die Natur selbst zur Sprache kommen:

Im Tal, das sich über dem Spiegel des unterirdischen Sees erstreckte, trat Ruhe ein, und man spürte nicht nur keinen Wind, der hier ohnehin selten war, man spürte nicht einmal den leisesten Hauch. Als hielte die Welt den Atem an. Späte Insekten sitzen reglos an Pflanzenstängeln, ein Star erstarrt, den Blick auf eine bereits verflogene Bewegung gerichtet, die durch die Petersilienbüschel eines Gartens huschte. Ein Spinnennetz, zwischen Brombeerranken gewoben, hört auf zu beben, spannt sich, im Bemühen, Wellen aus dem Kosmos zu erlauschen.

In diesem Sinne hat Olga Tokarczuks Roman „Empusion“, dessen Titel ein Neologismus aus ‚Symposium‘ und ‚Empusa‘ bildet, vielmehr mit Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ gemein, auf den in der gegenwärtigen Presselandschaft gemeinhin gar nicht hingewiesen wird. ‚Empusa‘ bezeichnet Gespenster, die Hekate auf die Welt schickt, ihres Zeichens die Göttin der Totenbeschwörung und Wächterin der Tore zwischen den Welten. Die Analogie liegt auf der Hand. Wie in „Die Kinder der Toten“ rächt sich die Bergwelt an den überheblichen Begierden, Irrationalitäten, Hirngespinsten der Sanatoriumsinsassen.

Es ist ein Schauerroman, der gestalterisch Zugang zu einer Welt schafft, die über Differenzen hinweg einen Hauch des Mysteriums einfängt, das über allem Kosmischen und Wirklichen liegt. Tokarczuk erinnert so an die Möglichkeiten des Romans, weniger Meinung, mehr Beschreibung, weniger Urteil, mehr Dichtung, weniger Vorstellung, mehr Erfahrung, Erzählung und Erlebnis zu sein.  Auf diese Weise, trotz Anspielungen, Anleihen, kommunikativen Anschlüssen aller Art hat Olga Tokarczuk mit „Empusion“ etwas ganz und gar Einzigartiges geschaffen.


Byung-Chul Han: „Die Krise der Narration“

Kulturkritik, sehr kurz und wirklich knapp, auf 100 Seiten leicht gemacht

Ausführlicher besprochen und auf seine Argumentationslogik überprüft auf kommunikativeslesen.com

Von einem knapp 100 Seiten langen Büchlein mehr als ein paar Assoziationen zu erwarten, scheint vermessen. Byung-Chul Hans „Die Krise der Narration“ will nicht viel. Es hebt lediglich den warnenden Zeigefinger. Zu viel Lärm um Nichts, sagt es, zu viel Information, zu viele Likes und Posts, zu viel Storyselling statt Storytelling:

„Das Storytelling als Storyselling bringt keine Erzählgemeinschaft, sondern eine Konsumgesellschaft hervor. Narrative werden produziert und konsumiert wie Waren. Konsumenten bilden keine Gemeinschaft, kein Wir.“

Han beschwört die heilende Kraft einer allgemeinen, holistischen Großerzählung, in der Feiertage, Wochentage, Namen, ja, Rituale wieder Bedeutung erlangen, eine Gemeinschaft zusammenschweißen, eine Kultur hervorbringen. Dieser radikale Universalismus findet seinen ausgemachten Feind und Gegner im Neoliberalismus, wo der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wird, in seiner Vereinzelung darbt, ja einsam wird:

„Wo jeder dem Gottesdienst des Selbst huldigt und der Priester seiner selbst ist, wo jeder sich produziert, sich performt, bildet sich keine stabile Gemeinschaft.“

Um diese Kernthesen herauszuarbeiten, greift er auf eine bunten Strauß angesagter und auch totgesagter Theoretiker zurück, bspw. Walter Benjamins Begriff der Aura, Martin Heideggers Seinsvergessenheit und In-der-Welt-Sein, Niklas Luhmanns Informationsbegriff, Sigmund Freuds Traumdeutung und selbstredend Friedrich Nietzsches und Jean-Paul Sartres Nihilismus. So richtig rund gelingt der Rundumschlag nicht. „Die Krise der Narration“ gerät am Ende mehr zum Beispiel und Symptom seines Inhalts als zu dessen Kritik. Han hangelt sich von Zitat zu Zitat und peppt es etwas mit Kulturkritik auf:

„Sein und Information schließen sich aus. So wohnt der Informationsgesellschaft ein Seinsmangel, eine Seinsvergessenheit inne. Die Information ist additiv und kumulativ. Sie ist kein Sinnträger, während die Erzählung Sinn transportiert.“

Mit Byung-Chul Hans eigenen Worten ist „Die Krise der Narration“ reine Information, rein additiv, rein kumulativ. Teilweise reihen sich die Zitate aus bekannten Texten aneinander mit nur kurzen einleitenden Worten. Begriffe jagen Begriffe, nur was das eine mit dem anderen zu tun hat, bleibt stets unklar und auch, warum diese nicht jene Wahl getroffen wurde.

Hans Quintessenz lautet: Buch gut, Smartphone schlecht. Erzählung ist also das Gute. Information und Technik das Schlechte. Wie sich aber Erzählung, Sein, Sinn von Informationen und Daten unterscheiden, darüber verschwendet Han kein Wort. Die 100 Seiten lassen scheinbar nicht genug Platz. Es bleibt beim disparaten, zusammenhangslosen Name-Dropping und Copy&Pasting, ohne Stil, ohne Kohärenz und Systematik. Mit anderen Worten, Byung-Chul Han zeigt mit „Die Krise der Narration“ wie es geht: Kulturkritik, sehr kurz und wirklich knapp, auf 100 Seiten leicht gemacht.  


Sebastian Hotz: „Mindset“

Die Vorbereitung auf ein Lehrstück, das noch nach seinem Gegenstand sucht.

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Konzeptromane entstehen am Reißbrett. Eine zündende, eine wie auch immer geartete kommunikative Idee treibt sie. Auf diese eine einzige Idee kommt es an, und alles andere wird ihr untergeordnet. Sebastian Hotz hat einen solchen Roman geschrieben. Er ist mit dem Titel „Mindset“ auf den Markt gekommen und hat sehr viel gemein mit Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ oder Maxim Billers „Der falsche Gruß“. Ein gewisses Sendungsbewusstsein nimmt in ihnen die Sprache an die Kandare:

„Als sich schließlich Mirkos nackte Füße auf den grauen Teppich senken und sich die dort befindende Mischung aus abgestorbenen Hautzellen, Flusen, Haaren und undefinierbarem Staub auf ihre Sohlen heftet, wird aus der düsteren Vorahnung eine Gewissheit: Der Beginn eines neuen Tages ist auch heute unvermeidbar.“

Wie Schreibers „Die Kandidatin“, Billers „Der falsche Gruß“ so hat auch „Mindset“ ein klares Feindbild und dieses vorzuführen, ja, lächerlich und armselig erscheinen zu lassen, darin erschöpft sich die Idee dieser Sorte von Romane. Der Antipath in „Mindset“ heißt Maximilian Krac, der eine Selbsthilfegruppe von Möchtegern-Wölfen leitet, zu der auch Mirko Mihalic, ein IT-ler gehören will. Der Roman beginnt mit einem Meeting der Genesis Ego-Gruppe, bei dem sich Maximilian bei der Hotelrezeptionistin Yasmin Kara unbeliebt macht:

„Krach! Der Wichser von gestern. Der, der ihr [Yasmin] den Kopfhörer aus dem Ohr geschnipst hat, nach dem sie, als er endlich weg war, in würdelos gebückter Haltung den Boden absuchen musste. Das kleine dreckige Arschloch mit seinen widerlichen Anzugfreunden, die alle aussahen wie er, sich verhielten wie er und sie genauso abschätzig musterten, wie er es tat.“

Während Yasmin Maximilian Krach ans Leder will, möchte Angela Bauer Mirko vor der Genesis Ego-Gruppe bewahren, die Muttergefühle für ihn entwickelt hat und die gute Seele in dem Betrieb ist, in dem Mirko und sie arbeiten. Der Plot erschöpft sich nun darin, dass Krach sein sogenanntes Business auf einer Social-Media-Lüge aufbaut, die nach und nach auffliegt. Hotz beschreibt dies mit denkbar einfachen Mittel und Sätzen, die jedwede Melodie, Poesie, jedwede Adjektivistik und Beschreibungsdynamik missen lassen. Lediglich deutlich wird eine gewisse Abneigung gegen Mülheim an der Ruhr, die nur von der gegen Gütersloh getoppt wird:

„Die Provinzialität des Gütersloher Bahnhofs erschlägt Yasmin förmlich. Mülheim, dessen Tristesse ihr vollauf bewusst ist, gibt sich wenigstens etwas Mühe, den Anschein eines urbanen Raums zu geben, in Gütersloh scheint man selbst dem hoffnungsvollsten Neuankömmling noch vor dem ersten Schritt in die Stadt jede Hoffnung nehmen zu wollen.“

Was bleibt? Nicht viel. Sebastian Hotz‘ Roman liest sich wie platt und konstruiert, ohne jedwede Überraschung. Maximilian Krach als „American Psycho“, nur ohne Sex und Gewalt. Genesis Ego als „Die Welle“, nur ohne Psychologie und Dynamik. Der Ruhrpott und Ostwestfalen wie in „Der Markisenmann nur ohne Romantik, Humor und Fröhlichkeit. Sozialkitsch wie in „Ein Sommer in Niendorf, nur ohne Rausch, Verzweiflung und Weltflucht. Es gibt keine Freundschaft, keine Verbindlichkeit, keine Sentimentalität wie in „Was ich nie gesagt habe. Nur eine abstrakte Wut auf irgendwie geartete Verhältnisse und irgendwie geartete Individuen, die dieses stützen, eine Wut aber, die in den Sätzen verpuffen wie ein feuchter Knaller. Mit gutem Willen der Vorläufer also eines Lehrstücks, das noch nach seinem Gegenstand sucht.


Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Liebe in Zeiten der Widersprüche … eine literarische Durchdringung

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Die Liste der deutschsprachigen Nachkriegsromane, die sich eine epische Breite erlauben, sich nicht in Miniaturen erschöpfen, ist nicht lang. Bestimmt gehören Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ dazu, auch Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstandes“, Werner Bräunigs „Rummelplatz“ und Herta Müllers „Atemschaukel“. Im Falle des Versuches, eine solche Liste aufzustellen, müsste auch Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ aufgenommen werden. Reimann versucht in diesem außergewöhnlichen Roman das, was sich wenige getrauen, die Wirklichkeit poetisch zu durchbilden und die Zeit in Bilder einer Narration zu fassen:

Ich sah ihnen nach, ihren Schatten im verbrannten Gras, und mir war zumute wie manchmal am Bahndamm, nachts, wenn die Gleise und die federnde Erde einen Schnellzug melden … Gestöber von Funken, die vorüberfliegenden Fenster, Scherenschnitte von pendelnden Köpfen, ein Netz voll Apfelsinen, blaues Licht in einem Abteil, in dem Fremde schlafend reisen, mitgerissen werden, auf ein Ziel hin, das ich nicht kenne, also beliebige benennen kann, Punkt Ypsilon, und beliebig verlegen, immer weiter nach vorn, in die Ferne …“

Wie das Zitat zeigt, geht die Erzählerin nicht davon aus, dass sie die Wirklichkeit durchdringt. Sie kennt keinen Plan. Sie ist wie alle anderen ein Rohr im Wind, getragen, fortgerissen von den Gezeiten, den Bewegungen und geschichtlichen Dynamiken. Diese poetische Seinsweise erlaubt es ihr, ein dichtes Netz aus Assoziationen, Metaphern, Allegorien und lyrischer Durchdringung zu weben, in welches alles seinen Platz findet, mühelos. Die Erzählposition wechselt von der Ich-Erzählerin, zur auktorialen und wieder zurück zum personalen und Erzählselbst. Der Wechsel findet im Flug statt, mitten im Satz, unangekündigt, um die verschiedenen Facetten des vergesellschafteten Individuums zu beleuchten:

So war das damals. Ich ließ mich einfach fallen … Abends, wenn die Lichter aufflammten und das Warten anfing und Mr. Hyde durch die Straßen schlich … dann trennte sie sich von Franziska, die für ihren Professor schwärmte, sich mit Bauphysik plagte, Pläne für ein Theater entwarf, sie kannten sich nicht, sie wollten nichts miteinander zu tun haben, aber die Grenzen begannen zu verschwimmen, und manchmal, plötzlich hinausgeschleudert aus der glücklichen Beziehung zum Tag, fragte sie sich bang: Wer bin ich?

Reimann thematisiert in ihrem Roman nichts weniger als das Gleiten, Ineinander-Übergehen vom Öffentlichen und Privaten, namentlich wer Franziska für sich, in ihrer Liebe ist, und wer sie in Bezug auf gesellschaftliche Prozesse und Verantwortung zu sein beansprucht und auch wird. Die wechselhafte Erzählposition gibt dem Roman die Freiheit, alle Seiten der Protagonistin zu beleuchten, die als Architektin versucht, eine lebensfröhliche Stadt zu entwerfen und letztlich an Realpolitik und Mangelwirtschaft scheitert. Auf diesem Weg sucht sie das private wie das berufliche Glück und nimmt alles auf, verwandelt es in Geschichtlichkeit, im Durchdringen in akzeptierte gesellschaftliche Widersprüchlichkeit.

Ich war glücklich, als wäre ich aus meinem Lieblingstraum erwacht … die weiße Treppe, wir laufen hügelan, schwerelos, mit beflügelten Fersen. Eine Treppe, die Erwartung heißt … Ich war jetzt ganz wach, aber immer noch von dieser heftigen Freude erfüllt. Ich konnte die Sonne auf meinen Knien balancieren, und ich betrachtete meine Knie und Schenkel und Füße, den Fuß, den du zwischen deinen Händen gehalten hast …“

Am Ende ist „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann ein Liebesroman, der die sprachlichen Möglichkeiten ausschöpft, die Höhen und Tiefen des Daseins auszuloten. Reimann erzählt angst- und zwanglos. Sie lässt der Sprache freien Lauf und schöpft in jedem Absatz aus dem Vollen. Franziska Linkerhand erfindet sich bei jedem neuen Lesen erneut und erschafft eine literarische Figur wie Leopold Bloom, Mrs. Ramsey oder Ulrich, die als Spiegel ihrer Zeit und gesellschaftlichen Wirklichkeit und Möglichkeit fungiert.  


Werner Bräunig: „Rummelplatz“

Epik gegen Stillstand.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Romane wie Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe“ oder Franz Kafkas „Das Schloss“ oder das lyrische Werk Emily Dickinsons, von deren 1775 Gedichte nur 7 in Journalen veröffentlicht wurden, geben einen kleinen Vorgeschmack auf die vielen sonderbaren, bemerkenswerten Texte, die vielleicht nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, nie ihr Publikum gefunden haben. Werner Bräunigs „Rummelplatz“ hätte beinahe dazu gehört. Er wurde erst 31 Jahre nach Bräunigs Tod verlegt und hat doch nichts von seiner Intensität verloren:

„Und sahen nun das Tal unten, mit den Schächten am Hang, den roten Lichtern am Schornstein der Papierfabrik und den weißen an den Halden, Frühjahr war, wieder ein Frühjahr, da wurde das Gebirge freundlich. Oben der Wind war behutsam und führte etwas Bitteres mit von den Rinden der Bäume, und das Dumpfe war Vorjahrslaub und Erde, war Fäulnis und Trächtigkeit, und war noch anderes, das von weit her kam, das man spüren mußte oder schmecken vielleicht, und wußte keiner, was es war.“

Bräunigs Roman „Rummelplatz“ handelt von der Wismut-AG, vom Wiederaufbau, den Problemen der jungen DDR. Er ist als Entwicklungsroman konzipiert, einem Stil, einer Literatur, die durch alle Probleme hindurch, alle Widrigkeit hinweg, die Ängste durchschreitend, etwas Neues schaffen will. Differenziert, multiperspektivisch schlägt er alle Töne an und lässt alle Seiten zur Sprache kommen: Ost- wie Westdeutschland. Er klammert keine Träume aus, egal wie klein oder wie groß. Träume, Bewegung, Dynamik, Rhythmik zeichnen den Plot, die innere Motivation der Figuren aus:

Ja, dachte er, das muß man. Denn wir sind immer in Bewegung, also muß man da ein Antrieb sein, es muß eine Kraft wirken. Und wer nicht Antrieb ist, und wer nicht wirken will, und wer nicht wissen will, der bleibt immer Getriebener. Der bleibt immer ein Rädchen, und dreht sich, und dreht sich, und wird getrieben, und treibt irgend etwas, und kann nichts ändern.“

Dort denkt und spricht Christian Kleinschmidt zu sich, der eigentlich studieren wollte, aber in Bermsthal, in der Wismut-AG Freunde und Liebe findet, eine Form des Lebens, die ihn erfüllt, optimistisch, tatendränglerisch, ja selbstbewusst werden lässt. Die Wucht des Romans sprengt alle politischen Grenzlinien. Die Sprache unterminiert jedwede Kleinkariertheit. Sie zielt auf die Zukunft, aufs Höchste, auf den Mensch, der zu sich selbst kommen möchte.

So wunderten sie sich denn über die Maßen, wenn jemand behauptete, da fingen die Probleme erst an, nämlich: was ist das, Notwendigkeit? Oder ist etwa alles, was so tut, als ob, ist das etwa alles wirklich notwendig? Ist es notwendig, daß der Meier regiert und nicht der Schulze? Ist es notwendig, daß man Krebs nicht heilen kann, und jede Woche verrecken Tausende? Ja dann, Freunde, ist von Freiheit freilich keine Rede. Dann ist man bloß ein ewiger Gefangener der Notwendigkeit.“

Werner Bräunig schreibt seine Geschichte mit Vehemenz und Intensität auf. Er ähnelt auf seine Weise sehr Ayn Rand. Ihr Hauptwerk „Atlas Shrugged“ lässt sich als dunkler Bruder von „Rummelplatz“ verstehen. Beide kämpfen gegen einen Niedergang. Beide gegen Mutlosigkeit, gegen Schicksalsgläubigkeit, und zwar mit allen Mitteln einer lyrisch-pathetisch untermauerten Sprachverve.

Werner Bräunig verbindet Joseph Conrads Dunkelheit mit Jack Londons Abenteuerlust und verknüpft dies zu einem Wilden Westen, der in Bremsthal verortet wird, mit einer epischen Breite, wie sie sonst nur bei Alfred Döblin, bspw. in „Berlin Alexanderplatz“, zu finden ist.  Bräunigs Roman reiht sich ein in die wenigen, aufs Ganze gehenden Nachkriegsromane eines Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstandes“ und Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und erfreut sich einer unverminderten Sprach- und Literaturfrische.


Martin Suter: „Melody“

So notwendig wie der Fernet Branca vor dem Schlafengehen.

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Wem Michel Houellebecq in “Vernichten” und Heinz Strunk „Ein Sommer in Niendorf“ zu verzweifelt, wem Martin Walser in „Das Traumbuch“ zu nachgiebig, versöhnlich, Emmanuel Carrère in „Yoga“ zu wehleidig und Robert Menasse in „Die Erweiterung“ zu verkopft ist, der greift schnell zu Ferdinand von Schirach „Nachmittage“ oder zu Martin Suters „Melody“. Mit diesen und anderen Romanen dieser Art bleiben sie unter sich: Junggesellen, abgeklärt und über jeden Zweifel erhaben, die sich von der Welt nicht mehr kirre machen lassen wollen::

„Lächelnd dachte Dr. Stotz darüber nach. »Du hast recht, wir sind auf dem Grundsätzlichen aufgelaufen: Was war wichtig und was nicht? – Ehrlich gesagt: Eigentlich war nichts wichtig.«
Er schwieg und fügte ernst hinzu: »Außer Melody. Außer ihr.«
Behutsam sagte Tom: »Also eigentlich alles in den Schredder.«
Dr. Stotz nickte langsam. »Alles. – Nur sie nicht.«“

Melody heißt Peter Stotz’ Verlobte, die drei Tage vor ihrer Hochzeit spurlos verschwand. Tom heißt mit vollem Namen Tom Elmer und wird von Stotz engagiert, seinen Nachlass zu verwalten. Stotz ist in der Schweiz berühmt, wohlhabend und einflussreich und für Tom das Sprungbrett, doch noch ein Leben in Saus und Braus zu führen, nachdem sein Vater, hoffnungslos verschuldet, Selbstmord begangen hat. Stotz hält im Hintergrund viele Fäden in der Hand und bedient nonchalant als Projektionsfläche die Allmachtphantasien von Suters anvisiertem Publikum.  

„Peter Stotz war der diskrete Königsmacher seiner Partei. Nicht nur seiner, behaupten manche. In der Politik war er immer der Mann, an dem man nicht vorbeikam. In der Wirtschaft genauso. Da war er Vorstand und Präsident vieler Blue Chips des Landes. Eine faszinierende Persönlichkeit. Ein charmanter Smalltalker, heißt es. Und ein Redner, um den man sich gerissen hatte.“

Zeitlebens Junggeselle, vergnügungssüchtig, ein Hans Dampf in allen Gassen, der eigentlich Künstler hätte werden wollen, aber es nicht wurde, lebt Stotz nun in Zürich, allein, mit seinen Bediensteten und trinkt sich seine letzten Tage schön. Der Roman hat einen sehr übersichtlichen Plot: Stotz‘ Liebe zu Melody und Toms Romanze mit Stotz‘ Großnichte Laura. Junggesellen auf den Weg ins Liebesglück mit vielen Ab- und Umwegen, viel Alkohol und vor allem vielem teuren Essen, das in allen Details auf fast jeder Seite wieder und wieder beschrieben wird:

„Ein Streichquartett aus Opernhausmusikerinnen empfing sie. Das Menü hatte Dr. Stotz bestimmt. Alle Gänge waren Rezepte von Mariella: Sellerieravioli als erste Vorspeise, eine kleine Portion Jakobsmuscheln auf Linsen als zweite, Hackbraten als Hauptgang und zur Nachspeise ihr Dolce Basyma. Dazu gab es Dr. Stotz’ Lieblingsweine aus dem sonnigen Süden von Italien. Zum Schluss, als die Trauergemeinde laut und ausgelassen geworden war, wurde der Digestif kredenzt. Armagnac 1983. Das Jahr von Melodys Verschwinden.“

Suters Erzählton plätschert saturiert dahin. Es geht vor allem um die Souveränität, die Altherrenruhe, die Vorstellung, ein Leben zu führen, ohne dass jemand einem das Wasser reichen kann. Er spielt hierfür souverän auf der Klaviatur derjenigen, die nicht zu den oberen Zehntausend gehören, aber gerne dazugehören würden, und sei’s nur kurz und innerhalb eines Romans, wo die Frauen rehzart und die Männer wohlbeleibt sein müssen. Wer also mit wem? Wann wird dann was gegessen und welcher maßgeschneiderte Anzug getragen? Wie wird standesgemäß gesprochen und was der Etikette nach wie getrunken? Wer zählt etwas und wer eigentlich nichts? Suter gibt Antworten auf alle Lebenslagen. Teilweise liest sich der Roman unter anderem auch deshalb wie ein Junggesellenreiseführer für Millionärssöhne in Zürich.

Was bleibt? Eigentlich nicht viel. Martin Suter handelt seinen Plot selbstgefällig ab, staffiert ihn mit überflüssigen Details aus, gibt eine Prise Altmännerromanze dazu, schmeckt es mit einem Verbrechen ab, und schwuppdiwupp „Melody“ ist angerichtet. Eine Kost so leicht und seicht, dass der Magenbitter danach reinste Attitüde bleibt.  


Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“

… aber gesagt und erzählt wurde letztlich vielleicht nicht einmal Nichts.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

In ihrem neuesten Buch fasst Judith Hermann ihre Frankfurter Poetikvorlesung zusammen, die sie im Jahr 2022 gehalten hat. Der Titel lautet „Wir hätten uns alles gesagt“ und nimmt Bezug auf eine Stelle in ihrem Buch, wo die Ich-Erzählerin und ein gewisser Jon beinahe in einem Schlossmuseum eingeschlossen worden wären. Im Nachgang schreibt sie ihm:

„Ich schrieb, ich wäre ausgesprochen gerne ein ganzes Wochenende über mit ihm in einem Provinzschloss eingesperrt gewesen, ich schrieb, wie bedauerlich, wir hätten uns alles gesagt. Jon kommt oft darauf zurück. Er wiederholt das – wir hätten uns alles gesagt, er will von mir wissen, was das gewesen wäre: Alles. Das ist eine lustige Frage. Es ist unmöglich, ihm zu sagen, was Alles gewesen wäre, uns ist beiden klar, dass es zu dieser Offenbarung nicht mehr kommen wird.“

Die Stelle fasst das ganze Buch zusammen. Es umschleicht die Möglichkeit des Erzählens. Es greift nach Gegebenem, Geträumtem, Erlebtem, aber traut sich nicht über den Weg. Hermann bleibt verhalten. Sie erfindet, sucht einen Weg zwischen Sagen und Verschleiern, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Erfundenem und Wahrem. Ein-Wort-Sätze, Andeutungen, ein unspezifisches „Alles“, als leeres Versprechen, das unpathetisch „lustig“ ist und einer „Unmöglichkeit“ preisgegeben wird. Das Versprechen verfing nicht. Es bleibt leer. Sprache bleibt leer. Sie will nicht mehr:

„Ich blieb in der Wohnung zurück, ich ging noch einmal durch die leeren Räume, aber es gab keine Geste und keinen Satz, der dem entsprochen hätte, was ich fühlte – wenn ich überhaupt etwas fühlte; ich möchte meinen, ich fühlte nichts. Dann zog ich die Wohnungstür hinter mir zu.“

Die Ich-Erzählerin durchwebt das Buch als leere Geste. Sie will über das Nicht-Erzählen erzählen, die Nicht-Wirklichkeit beschreiben, der Bedeutungslosigkeit Bedeutung beimessen. Dass dies nicht gelingt, weiß sie selbstredend selbst. Das Spiel verfängt nicht.

„Die Erzählerin meines sechsten Buches öffnet am Ende die Falle unter dem Schleppdach hinter ihrem Haus. Unklar, was sich darin befindet, nicht einmal mir ist das klar, aber ich ahne es, oder anders – ich weiß es, aber ich habe keine Worte dafür. Was immer es ist, es wird rauskommen, sich zeigen, sichtbar werden. Die Erzählerin wird es, außerhalb des Buches, nach seinem Ende, sehen und verstehen. Ich werde es sehen. Ich habe es gesehen. Und der Leser, wenn er ein geneigter Leser ist, auch.“

Judith Hermann spricht hier von ihrem Roman „Daheim“. Sie sagt offen aus, was ihren Stil, ihre Sprache, ihren Gestus auszeichnet. Sie verweist. Sie zeigt auf etwas außerhalb des Textes. Sie lässt die Fragen wie die Antworten offen. Sie überlasst die Arbeit der Imagination dem Publikum. Sie steht als Stellvertreterin in der Sprache, ohne sie zu beanspruchen. Ihr fehlen die Worte. Offener und klarer lässt sich ein schriftstellerisches Unterfangen nicht beerdigen. „Wir hätten uns alles gesagt“ … aber gesagt und erzählt wurde letztlich nicht einmal Nichts, denn das Nichts hätte ein Etwas negiert, wozu Hermann jede Entschlossenheit fehlt und scheinbar abhandengekommen ist.

Edmond Jabès mit „Buch der Fragen“ und „Das kleine unverdächtige Buch der Subversion“ erhob die Sprachverweigerung poetisch zur Kunst. Nach „Wir hätten uns alles gesagt“ wirkt es wie eine Erfüllung.


André Gorz: „Brief an D.“

Eine Zeremonie des Abschieds.

In dem sehr langen Brief, aber im Vergleich zu den meisten Romanen sehr kurzem Text, der weniger als 90 Seiten umfasst, erklärt André Gorz seine Liebe zu seiner Ehefrau Dorine. Beide schieden im September 2007 freiwillig aus dem Leben. Dorine aufgrund einer schweren, fortschreitenden Krankheit und André, weil er sich ein Leben ohne seine Lebensgefährtin nicht mehr als lebenswert vorzustellen vermochte.

„Ich höre die Stimme von Kathleen Ferrier, die singt: »Die Welt ist leer, ich will nicht leben mehr«, und ich wache auf. Ich lausche Deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“

André Gorz, Journalist und Theoretiker über die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie, publizierte seit den 1990er Jahren nur noch spärlich. Nach langer Pause und anlässlich der schweren Krankheit seiner Frau unterbrach er sein Schweigen, um ein mehrere Jahrzehnte zurückliegendes Vergehen an sie wiedergutzumachen. In seinem Erstling, die Autobiographie „Der Verräter“, 1958 erschienen, veröffentlichte er unsachgemäße und zu seiner großen Scham an Beleidigungen grenzende Beschreibungen über seine Frau, die dort den Namen Kay erhielt.

„Warum habe ich Dich als ein beklagenswertes Geschöpf dargestellt, »das niemanden kannte, kein Wort französisch sprach, sich ohne mich zugrunde gerichtet«, während Du doch Deinen Freundeskreis hattest, einer Theatergruppe in Lausanne angehörtest und in England von einem Mann erwartet wurdest, der dich heiraten wollte.“

Gorz reflektiert über seine unpässlichen Worte, die aber nicht zum Bruch mit Dorine geführt haben. Sie sind verheiratet geblieben und sind durch dick und dünn gegangen. Die Ausflüchte, die Gorz sucht, überzeugen auch ihn selbst nicht. Es blieb eine Art Schwäche, eine Art Versuch, sich unabhängiger, freier, ungebundener zu geben, als er in Wahrheit gewesen ist und blieb:

„Als ‚Der Verräter‘ endlich erschienen ist, war mir wieder bewusst geworden, was ich Dir alles zu verdanken hatte: Als wäre es Deine Lebensaufgabe, hast Du alles getan, um mir zu helfen, ich selbst zu werden. Die Widmung, die ich Dir in Dein Exemplar schrieb, lautet: »Für Dich, Kay genannt, die Du mir das Ich gegeben hast, indem Du mich das Du entdecken ließest.« Hätte ich das in dem, was »mein Buch« geworden ist, doch nur dargelegt.“

Er geht hart mit sich ins Gericht. Die Zeit zurückdrehen kann er aber nicht. Der Trubel um seine Person, sein Wunsch, ein politischer Intellektueller zu werden, verführte ihn dazu, Dorines Leistung und Können und Beitrag unter den Teppich zu kehren. Sie verzieh es ihm, zumal er treu an ihrer Seite sie pflegte und zu ihr hielt, auch im Alter, als sie schwer an Arachnoiditis erkrankte.

Brief an D.“ stellt das alles richtig, und Dorine las es noch zu Lebzeiten. Die sehr zurückhaltende, leise Ausdrucksweise des Briefes, die Andeutungen, die bescheidenden Versuche, sich zu erklären, sie spielen um das Zentrum einer tiefen Liebe herum. Mit jeder Zeile wird klar, wie sehr sich Dorine und André geliebt haben. Die Trauer um ihre Erkrankung, die Vitalität, die sie so lange ausgezeichnet hat, die nun schwand, ängstigte ihn, ängstigte sie.

Es geht Gorz also auch um die Unmöglichkeit, sich von der Liebe des Lebens zu verabschieden, von der Fatalität dessen, was der Tod in das Leben der Menschen bringt. Die Intensität bleibt mit jedem Wort spürbar. Ein Leben wurde gelebt, das weitergelebt werden wollte. Eine Ruhe vor dem Sturm klingt durch. Die unerträgliche Angst vor der Trauer auch.

Es ist ein sehr ähnliches Buch wie Irvin D. und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich, nur das in diesen beide schreiben, oder Simone de Beauvoir „Zeremonien des Abschieds“, in welcher sie von ihrem Lebensgefährtin Jean-Paul Sartre Abschied nimmt. „Brief an D.“ rührt weniger, als dass es schockt. Es ist im freien Flug geschrieben und der Aufprall naht.

„Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und Du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen.“

Er bekam sie auch nicht. Sie gingen gemeinsam in den Tod.


Julia Schoch: „Das Liebespaar des Jahrhundert“

Einübung in Bescheidenheit, sowohl literarisch wie psychologisch.

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Romane in direkter Anrede erfreuen sich in letzter Zeit zunehmender Beliebtheit. Das Geschriebene steht direkt für das Gesprochene ein und verwandelt den Roman, vormals Reflexionsmedium, in  einen Gesprächsersatz. Als neueste Beispiele dienen Virginie Despentes‘ „Liebes Arschloch oder Juli Zehs und Simon Urbachs „Zwischen Welten. Die Du-Form, die Julia Schoch in ihrem neuesten Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ gewählt hat, adressiert nun das je einzeln lesende Publikum direkt. Es wohnt nicht nur einem Gespräch zweier Streitender und Sich-Liebender bei, es darf sich einbezogen und angesprochen fühlen. Die Du-Form erhöht auf diese Weise den Authentizitätsgrad des autofiktionalen Theaters, die Autorin spricht vertraulich von Du zu Du:

„Ich bedaure, dass es nicht mehr Bilder von uns aus jener Zeit gibt. Fotos von uns als Liebespaar. Als ich es das erste Mal bedauerte, als es mir zum ersten Mal bewusst wurde, war es ein klarer, kalter Wintermorgen, viele Jahre später. Du hattest mir mit verschlossener Miene mitgeteilt, du würdest für ein paar Tage verreisen. Dann hast du die schwarze Ledertasche genommen und die Wohnung verlassen. (Wie man sieht, hattest auch du Lust gehabt zu gehen. Ich vermute es, ganz sicher war es so. Aber dies hier ist meine Erinnerung.)“

Schochs Text führt ein Spiel mit doppeltem Boden durch. Das „Du“ spricht den Partner der Ich-Erzählerin an, der in Eigenschaften und Herkunft konkretisiert wird (Akademiker, aus der ehemaligen DDR, männlich, widerborstig, geboren um die 1970), aber ebenso als Adressat das Publikum, das sich angesprochen fühlen darf, an seiner Statt, das heimlich in dessen Rolle schlüpft. Der Roman kann als sehr langer Brief an den Partner verstanden werden, der dem Publikum nur zufällig in die Hände gefallen ist. Die Einschübe in den Klammern jedoch, die Selbstreflexion, weist ihn als Text an sich selbst auf, indem sie sich gegenüber ihrem imaginierten Gesprächspartner ermahnt, sich selbst treu zu bleiben. Der Ich-Erzählerin gelingt es nämlich nicht wirklich zwischen dem Wir und dem Ich zu trennen:

„Wir sind eigenständige Wesen, Individuen. Folgt man der Logik der Diskurse, in denen ich mich seit meiner Jugend bewege, ist das der erstrebenswerte Seinszustand eines Menschen. Für mich hat das Wort etwas Klägliches. In der Welt meiner Kindheit war ein Individuum nichts Gutes. Und selbst heute noch haftet ihm in meinen Augen etwas von einem Schimpfwort an. Mein Vater, der Offizier, hat manchmal seine Verachtung gegenüber bestimmten Personen mit diesem Wort ausgedrückt.“

Konsequenterweise beschreibt „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ein völlig der Details entkleidetes Beziehungsdramas. Es gibt Eifersucht, Seitensprünge, aber keine Gesichter. Es gibt Probleme, Streitereien, aber keine Themen. Es gibt Kinder, ohne Geschlecht und Namen und Geburtstage. Es gibt Städte, Freunde, Bekannte, Familie, ohne Aussehen, Geschichte und Hintergrund. Im Grunde gibt es nichts als die Bespiegelung und Verspiegelung der eigenen Wahrnehmung der Ich-Erzählerin, die gehen und nicht gehen, die sich trennen und nicht trennen, die den Partner kennen und nicht kennenlernen will. Sie bleibt gefangen in diesem Dilemma.

„Mir kam der Gedanke, dass ich dich unbedingt, um jeden Preis, sterben sehen wollte. Später, wenn es so weit wäre. Es war kein höhnischer Gedanke. Ich wollte nicht den Sieg davontragen. Ich wollte einfach dabei sein, erst dann wäre wirklich Schluss. Sich vorher zu trennen kam mir unsinnig vor. Wozu das Ganze, all die Gedanken und Gefühle, die man investiert hatte, wenn man nicht das Finale erlebt? Nein, in keinem Fall durfte man eine Geschichte zu früh abbrechen.“

Julia Schochs Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ zeichnet sich durch erhöhte Verallgemeinerungen und Abstraktheit aus. Der Partner existiert als reines Gegenüber. Die Realität als ablaufender Prozess, den es irgendwie zu besiegen, zu überstehen gilt. Eine unheimliche Abgeklärtheit durchzieht den Text, eine monumentale Distanz zum eigenen Gefühl, zum eigenen Wunsch und Dasein. Entsagung als Lebensprinzip. Schochs Roman zeichnet sich deshalb vor anderen Romanen dieser Art aus, bspw. Daniela Kriens „Der Brand, Jenny Erpenbecks „Kairos, Irvin D. und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben oder Simone de Beauvoir mit ihren Romanen wie „Die gebrochene Frau“ und „Sie kam und blieb“. Widerstand ist zwecklos – eine Einübung in Bescheidenheit, sowohl literarisch wie psychologisch.


Esther Kinsky: „Rombo“

Dem Schrecken eine Stimme geben.

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Esther Kinskys neuester Roman „Rombo„, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, beschäftigt sich mit den Erinnerungen an ein Erdbeben in Norditalien, genauer in Friaul, und dessen Folgen in den Gemütern der Menschen und den Formen der Landschaft:

Was ist ein Erdbeben? Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss.

Das Erdbeben kündigt sich mit einem Grollen an, ein unterirdisches Ächzen und Krachen, auf dass hin nach kurzer Zeit die Landmassen in Bewegung versetzen und alles unter- und überirdische in Mitleidenschaft zieht. Tiere, Menschen, Gebäude, Straßen, Flüsse, Berge, Schluchten und Täler werden verschoben, zerstört, verändert, versetzt. Der absolute Kontrollverlust hinterlässt tiefe Spuren, die Kinsky polyphon zur Sprache kommen lässt. Eine Reihe von Dorfbewohner spricht über die Ereignisse vor, während und nach den beiden Erdbeben im Mai und September.

Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und dem grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschüttungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit.

Sowohl in der Narration, im Rückblick von Figuren, als auch über ein apersonales, quasi-wissenschaftliches Beschreiben, wie auch durch Einschübe, Bemerkungen, Reflexionen der Erzählinstanz entsteht ein vielschichtiges, geschichtsgeladenes Bild dieser Zeit. Durch den Episodencharakter, die aufeinander Bezug nehmen, ohne sich zu kennen, kristallisiert sich ein geheimes Zentrum des Buches, das Lesen selbst. Mehr und mehr erhalten die Ereignisse und die Dorfbewohner Leben, bis der Eindruck entsteht, sie stünden leibhaftig vor einem. Kinsky authentifiziert durch Verfremdung:

Direkt meinem Stand gegenüber, auf der anderen Seite vom Fluss, erhebt sich der Berg, unter dem das erste Erdbeben lag, angeblich genau darunter, oder sogar darin. Alles hier war völlig zerstört. Vieles ist wieder aufgebaut, aber die Landschaft vergisst nicht, was ihr zugestoßen ist, überall sind noch Ruinen und Trümmer von Häusern, aus manchen wachsen schon Bäume und Sträucher, und Efeu ist darübergekrochen. Manchmal würde ich dem Berg gerne etwas sagen, wenn ich so allein da stehe und niemand mich hört. Schweig du nur still, zum Beispiel. Nie wieder so was wie damals. Aber es ist zu spät. Die Welt ringsum ist anders geworden.

Esther Kinskys Roman „Rombo“ liest sich weder nebenher noch schnell. Zu komplex mischt sie die Beschreibungsformen, zu diaphan durchschwebt der Zusammenhang die einzelnen Episoden. Das Unheimliche des Erdbebens entsteht durch die Verrückung und Lücken im Erzählen und Erinnern der Menschen. Sie versuchen, dem Kontrollverlust zu begegnen, können es aber nur durch Mythen und Sagen und Legenden. „Rombo“ nimmt diese auf und wird so selbst zu einer solchen Praxis.

Wie Claude Simon in „Die Schlacht bei Pharsalos“ erzählt sie, indem sie beschreibt. Wie Thukydides in „Der Peleponnesische Krieg“ beschreibt sie, indem sie erklärend spekuliert. Wie Guido Morselli in „Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit“ lässt sie das Schweigen des Kontrollverlusts zur Sprache kommen. Intensiv wie in Damon Galguts „Das Versprechen lässt sie das Wortlose geschehen. Die Dinge sprengen, Hoffnungen zerstäuben, und die Sprache versucht wieder dort einen Zusammenhang zu stiften, wo vorher nur Zerstörungswut zu sehen und zu erkennen gewesen ist.

Dass Esther Kinsky diesen Zusammenhang nicht durch Theodizee und Weltanschauung forciert, sondern sich selbst aus den Details ergeben lässt, zeichnet „Rombo“ aus. Er hinterlässt Spuren, wo andere literarische Geschichtsschreibungsversuche nur Anekdoten zuwege bringen.


Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Angstlos den Abgrund vor Augen

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Maria Kjos Fonns neuester Roman „Heroin Chic“ handelt nüchtern von einer Süchtigen, Elise, die sich zur Sucht bekennt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie weiß, worauf sie zustrebt. Sie weiß, was mit ihr geschieht und dennoch bejaht sie es. Anders als andere Romane über die Drogensucht, wie „Trainspotting“ von Irvine Welsh oder „Candy“ von Luke Davies oder „Wir Kinder vom Bahnhofzoo“ gibt es kein sozioökonomisches, psychologisches Drama. Der Roman will keine Gesellschaftskritik sein:

„In der Theorie ist es absolut möglich, einen Schuss zu setzen und zur Arbeit zu gehen, zum Liebsten nach Hause zu gehen, einen Schuss zu setzen und schlafen zu gehen. Man braucht es nicht größer zu machen, als es ist. Eine medizinierte Krankheit. Vielleicht war das Problem nicht, dass ich es brauchte, sondern dass alle um mich he­rum brauchten, dass ich es nicht brauchte.“

Ähnlich wie in Virginie Despentes „Liebes Arschloch, wo Rebecca, die Protagonistin, dem anderen Protagonisten, Oscar, von ihrer Heroinsucht berichtet und sich durch diese in ihrer Schauspielerei in keiner Weise eingeschränkt und leistungsunfähiger fühlt, besteht für Elise in „Heroin Chic“ kein wirklicher Grund, die Drogen nicht zu nehmen. Sie langweilt sich. Sie will nicht sein. Sie will kein Bewusstsein, keinen Körper haben, einfach Stimme werden.

„Im Chor waren wir eine Lunge, ein Puls. Ich hatte keine Ahnung, was mein Atem war und was der Atem der anderen, wusste nicht, wo meine Stimme endete und die der anderen begann. Der Klang stieg hoch zur Kirchendecke oder stieg von dort herab, war es etwas oder jemand von oben, wodurch der Raum mit Klang erfüllt wurde? Ich stand zwischen den anderen, ehe ich zum Solo einen Schritt vortrat.“

Die Stimme, die den Raum erfüllt, sich mit Elises Innen und dem Außen verbindet, eine Gesamtheit ergibt, verwischt die Grenzen ihres Körpers. Sie will reine Stimme werden, körperlos. Elise ist eine Figur der Extreme. Sie sucht den dünnsten Körper, die reinste Stimme, den härtesten Kick, die absolute Bewusstlosigkeit und Abhängigkeit.

„Meine Stimme war hell. Licht. Wie ich. Doch wenn ich unter der Dusche sang, schaute ich hinab auf meinen Körper, der war noch immer zu groß, die kleinen Brüste sahen gierig aus. Ich wollte, dass mein Körper wie meine Stimme wäre, ganz rein, dass er die Schwerkraft überwand. Im Spiegel begann ich, die Wirbel im Rückgrat deutlicher zu erkennen, zählte sie.“

Maria Kjos Fonns Roman „Heroin Chic” zieht diese Thematik bis zum Äußersten durch. Es gibt kein Drama, kein Elend, kein Schmerz, nur den, nicht leben zu dürfen, nicht leben zu können, wie sie will. Elise ist ein eiskalter Engel, die jeden Schmerz erträgt, die alles erleidet, die im Grunde, aufgrund ihrer Einstellung unzerstörbar ist. Zerstörbar sind die Beziehungen, die Freundschaften, die sie führt, die Familie, die sie bestiehlt, von der sie sich entfremdet, aber all dies spielt für sie keine große Rolle.

„Ein Junkie wird immer mehr zu einer Art Fötus, grau und mager und total abhängig von der dünnen Schnur, die ihn am Leben hält. Nicht dass ich Junkie gewesen wäre, natürlich. Ich war Tinker Bell, die Heroin rauchte. Silberflügel und Silberpapier, eingehüllt in Sternenstaub oder Rauch, was war schon der Unterschied.

Mit unnachgiebiger Konsequenz und punktgenauer Komposition gelingt Kjos Fonn ein Roman über Drogensucht, die das dunkle Moment in dieser aufsucht, aufhebt und literarisch gestaltet, den Verlust des Lebenswillen, die Sehnsucht als Individuum, sich selbst zu überwinden, zurück ins ozeanische Gefühl. Mit dieser Schärfe besitzt der Roman etwas von einer antiken Tragödie und von Joseph Conrads Art des Erzählens, bspw. in „Das Herz der Finsternis“, und belebt das mythische Moment, das in jeder gelungenen Erzählung irgendwo steckt.


Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Flüssig, gefällig – ohne jeden literarischen Anspruch. Politik als Roman verpackt.

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Es gibt Stimmen, die Virginie Despentes ‚Balzac des 21. Jahrhunderts‘ nennen. Andere sehen in ihr die kongeniale Wiedergängerin von Michel Houellebecq, die andere Seite der Medaille der ausgeweiteten Kampfzonen. Ordinär, brutal, durchdringend schlug das Erstlingswerk „Baise-moi – Fick mich“ ein, das 1994 erschien. „Liebes Arschloch“ ist ihr neuester Roman. Es ist ein Briefroman:

„Wenn ich also sage, »ich werde dir die Augen auskratzen«, ist das keine Redensart, sondern eine Drohung – ich werde in meiner Schutztruppe immer einen Boxer, einen Hells Angel oder einen Auftragskiller finden, der deine Adresse ausfindig macht und dir an dem Tag, wo du es am wenigsten erwartest, die Augen aus dem Kopf bläst und sie zum Frühstück verspeist.“

Rebecca Latté, eine gealterte Schauspielerin, droht hier Oscar Jayack, einem in der Midlife-Krise steckenden Erfolgsschriftstellers. Als Schlüsselroman verstanden, kommunizieren hier Catherine Deneuve und Michel Houellebecq miteinander. Sie verstehen sich zu Anfang nicht sehr gut. Oscar greift Rebecca an. Rebecca greift zurück an. Über die Strecke des Romans entwickelt sich jedoch eine Freundschaft, die auch explizit von beiden eingestanden wird:

„Keine geöffneten Bars mehr, keine Toiletten, vor denen man anstehen muss, keine Künstlergarderoben, kein Warten, keine Ängste zu besiegen, keine Proben, keine schnellen F*cks. Das alles haben wir gemeinsam erlebt, du und ich. Das Leben hat durchaus Sinn für Humor. Wenn ich an den Anfang unseres Briefwechsels denke, sprach wenig dafür, dass du mein Leben verändern würdest. Und dass du deines veränderst.“

Als Themen werden gestreift die Corona-Pandemie, Social-Media-Shitstorms, TikTok-Videos, Metoo-Diskussionen, Weinberg, die Film- und Kulturbranche und vor allem und jedem Drogen. Das Hauptthema beider Briefschreibenden bleibt das Sich-Wegballern und beide begreifen über die Dauer des Briefwechsels, dass sie damit aufhören müssen. Rebecca, um ihre Karriere als Schauspielerin zu retten, Oscar, um die Beziehung mit seiner Tochter nicht zu verlieren. Diesbezüglich ergehen sich die beiden über jedwede mögliche Form der Drogeneinnahme und -wirkung. Die sozialen Umstände bilden nur den Rahmen für den Rausch:

„Sich wegballern ist ein Extremsport. Man muss wirklich den Wunsch haben, seine sämtlichen Identitäten in die Luft zu jagen. Geschlecht, soziale Schicht, Religion, Sippe. Du möchtest im Gegenteil das bisschen Ansehen bewahren, das du dir erworben hast.“

Stilistisch jedenfalls, wie die Zitate belegen, ereignet in Despentes‘ Roman nichts. Formalästhetisch gibt es nur das überraschende Merkmale, gerne auf Kommata bei Aufzählungen zu verzichten: „Facebook Twitter Google Amazon Microsoft Apple“ als Beispiel. Die Sprache unterscheidet sich nicht vom gesprochenen Wort. Der Textkorpus könnte eine Transkription eines langen Gesprächs unter Freunden sein. Kompositorisch ereignet sich auch nicht. Am Anfang befeindet, am Ende befreundet, aber kein Friede-Freude-Eierkuchen.

„Am Abend habe ich The Crown gesehen. Die ganze Nacht. So viele Folgen, bis es wieder hell wurde, und ich habe geweint. Ich habe geweint bei dem Gedanken, dass ich nie mehr die Prinzessinnen spielen werde. Ich war todtraurig, aber ich hatte nicht mehr den Reflex, die Nummer eines Dealers rauszusuchen. Es ist wie mit einem abgehängten Waggon. Der Antrieb, sich wegzuballern, ist außer Betrieb. Und ich bleibe zurück mit diesem unangenehmen Gefühl, aber ich habe nichts genommen.“

Wer also anderen beim Drogennehmen gerne zuhört, sie belauscht, wer gerne schmutzige Wäsche wäscht, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, der kommt voll auf seine Kosten. „Liebes Arschloch“ Literatur und Roman zu nennen, verballhornt jedoch diese Begriffe und kommt dem Versuch nahe, Whatsapp als zeitgenössische Enzyklopädie zu bezeichnen. Es gibt schlicht nichts, was formalästhetisch Despentes Stil von der Umgangssprache unterscheidet. Wer sich daran nicht stört, wird seine Freude haben. Flüssig und gefällig geschrieben ist der Text nämlich.


Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Nostalgisches Erinnerungsmosaik mit beinahe poetischen Zügen.

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Annie Ernaux’ Text „Der junge Mann“ lässt sich in einem Zug problemlos durchlesen und kann der Gattung Novelle zugeordnet werden, denn die Kürze und die erzählte Begebenheit deuten auf ein unerhörtes Ereignis an. Ob sich darin tatsächlich ein Normenbruch verbirgt, um den Begriff Novelle nach Goethes Begriff zu begründen, lässt sich jedoch kaum sagen, denn die erzählte Begebenheit handelt lediglich um die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann:

„Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“

Die Erzählzeit liegt in den 1990er Jahren, kurz vor Anbruch des neuen Jahrtausend. Die Ich-Erzählerin sagt zu Anfang, dass sie vierundfünfzig Jahre alt sei. Fällt also der Geburtstag der Ich-Erzählerin mit dem verbürgten der Autorin zusammen, spielt sich die Begebenheit im Jahr 1994 ab und dauert knapp fünf Jahre. In dieser Zeit pendelt die Ich-Erzählerin zwischen ihrem Wohnort und Rouen, wo der junge Student lebt und studiert wie seinerseits die Ich-Erzählerin. Sein Umzug nach Paris markiert das Ende der Beziehung:

„Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch. Er zog von Rouen nach Paris.
Ich begann die Erzählung meiner heimlichen Abtreibung, die ich lange umkreist hatte. Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis, das vor seiner Geburt stattgefunden hatte, vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen.“

Annie Ernaux‘ Ich-Erzählerin rekapituliert also eine implizite Entstehungsgeschichte des Buches „Das Ereignis“, das 2000 erschien und von der heimlichen Abtreibung handelt. Die Beziehung zum jungen Studenten wirkt als Katalysator, sich dieser Phase ihres Lebens wieder zu öffnen, den Problem mit dem Klassenbewusstsein, zur Bildungsbürgerschicht oder zum Proletariat zu gehören. Als Schriftstellerin hat sie diese Ambivalenz aufgelöst und ihre Reise aus dem Proletariat beendet, denn sie kann nun angesichts des jungen studierenden Proleten sagen:

„Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin. Er war Träger der Erinnerungen an meine erste Welt.

Das hauptsächliche Merkmal dieses sehr kurzen Textes besteht in der Form der Erinnerungsführung – sie ist nicht chronologisch, nicht raumhaft, nicht äußerlich, sondern körperlich, eine Art diaphane Erinnerungsmembran, die durch die Worte angespielt wird. Hier ähnelt der Text keiner Novelle, da keine Fabel erzählt wird. Einen wirklichen Plot gibt es auch nicht. Es erscheint mir als filigrane Selbstbespiegelung eines autonom gewordenen Gedächtnisfragment, also einer Art mnemosynthetische Ballade.

„Bei mir streifte er den Morgenmantel mit Kapuze über, den schon andere Männer angezogen hatten. Wenn er ihn trug, sah ich keinen von ihnen vor mir. Beim Anblick des hellgrauen Frotteestoffs empfand ich lediglich das warme Gefühl meiner eigenen Dauer und der Beständigkeit meines Begehrens.“

Annie Ernaux‘ Text lohnt als Lektüre. Die Ich-Erzählerin spricht frei, rund und unumwunden von sich, von dem sehr Privaten, das ein sehr Öffentliches wird. Die Allegorie einer Inspiration in Form eines jungen Mannes trägt sich knappe dreißig Seiten lang, ohne Anfang und Ende, ein Erinnerungsfragment und Mosaikstein im Gesamtwerk des Schreibunterfangens von Annie Ernaux und ihrer Vivisektion des eigenen Lebens. Auf ihre Weise stellt ihr Schreiben ein Umkehrakt zum Werk Claude Simons dar. Wo er sich im Räumlichen verliert, wie in „Die Trambahn“, verliert sie sich im Körperlichen und nähert sich auf eigentümliche Weise einer nostalgischen Friederike Mayröcker mit “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”.


Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Von der einfachen und fröhlichen Lust am Erzählen.

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Das einfache Prinzip des Erzählens lautet, nichts erklären, einfach beschreiben. Nur wenige Romane halten sich seit dem Einbruch des Rationalen in die Welt der Kunst daran. Sie begründen ihre Figuren. Sie legen Rechenschaft darüber ab, wieso weshalb irgendetwas passiert oder wahrscheinlich geworden ist. Hierbei geht etwas verloren, was dem Erzählen im Grunde von Anfang angehaftet hat, der Zauber, das Neue, das Unverhoffte. In Ina Kramers „Im Farindelwald“ gibt es dies noch:

„So blieb ich sinnend stehen und ließ meinen Blick über die schwarzen Wipfel der Bäume schweifen. Plötzlich hörte ich ein Brausen wie von einer heftigen Bö, und dann sah ich die Person, auf einem Reisigbesen reitend, sich rasch in die Höhe erheben und davonfliegen. Sie sang (oder lachte), und obwohl es sehr helle, liebliche Töne waren, schauderte mir. Sie ist nach Nordosten gezogen, dorthin, wo meine alte Heimat liegt und wo in hellen Efferdnächten die Töchter Satuarias ihre düsterwilden Feste feiern.“

Der Roman „Im Farindelwald“ erzählt viele Geschichten in einer. Der Roman webt sich zusammen aus im wesentlichen drei Handlungssträngen: Die Reise von Sylphinja, die von Anselm und die Tagebucherinnerungen vom Vater Anselms, eines Medicus, aus der die soeben zitierte Stelle stammt. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte findet sich in der Angst und Verfolgung von Hexen in Aventurien, genauer in der Gegend Albernia. Sie setzt ein in Abilacht, als Anselm nachdem Tod seines Vaters loszieht, die Welt zu erkunden, und dort Zeuge von einer Hexenverbrennung wird. Später wird Anselm die Tochter der Hexe kennenlernen, namentlich Sylphinja, und mit ihr ein Abenteuer im Farindelwald erleben, in dessen Mitte ein unheimlicher Weiher prangt:

„In die Sprache der Worte übersetzt lautete [die Antwort des Weihers] etwa folgendermaßen: Ich bin, wie ich bin. Und sie war von einem so fremdartig kalten Hauch begleitet, daß Sylphinja es rasch zurückzog. Außer den Pflanzen, die am Ufer wuchsen, barg der Weiher kein Leben, kein noch so kleines Tierchen tummelte sich in seiner Tiefe, und doch, das spürte Sylphinja, war das Wasser nicht vergiftet. Eher schien es ihr, daß der Teich keine Lebewesen in sich dulden wolle, weil deren geschäftige Betriebsamkeit – das Lieben, Sich-Fortpflanzen, Wachsen und Vergehen – ihn darin störte, was er sein wollte: finster.“

Wie die Textstellen andeuten, beschränkt sich der Erzählstil nicht auf kurze Sätze, auf Andeutungen und Dialoge. Es gibt viele Naturbeschreibungen und einen in sich verwobenen, reflektierten Plot, der die Hauptfiguren bis zum Ende begleitet und in die Welt einbettet. Die schlichte Erzählung bekommt allegorischen Charakter, sobald die Verspiegelung der Handlungsverfügungen beachtet werden. Die Erzählung reflektiert ihr eigenes Geheimnis und Thema, beginnend mit dem Tod der Hexe, bleibt das ewige Leben. In seiner Genre-haften Beschränktheit führt Ina Kramer nun alles aus, was eine Geschichte und Plot vorantreibt, ihn verdichtet, intensiviert und über sich hinaus in die Imagination führt. Es geht dem Lesen wie Sylphinja beim Fliegen auf ihrem Besen:

„Wie lange sie flogen, wußte Sylphinja nicht, ob Stunden oder Augenblicke, denn seit sie in die Schwärze der Waldpfade eingetaucht waren, hatte sie nicht nur die Orientierung, sondern auch ihr Zeitge-fühl verloren. Doch unversehens lichtete sich das Dickicht, ein Kreis fahlen Himmels tat sich über ihr auf, und sie landeten, so sanft, daß Sylphinja ganz überrascht war, als sie plötzlich festen Boden unter den Füßen spürte.“

Plötzlich ist das Buch vorbei, und die nicht ganz geschlossene Handlung verweist auf das nächste Buch „Der Reise nach Salza“, was mehr ein Grund zur Freude als zur Enttäuschung ist. Literatur verbirgt sich und gedeiht in den seltsamsten Ecken.


Ursula Knoll: „Lektionen in dunkler Materie“

Episoden zu einem Gegenwartsbild zusammengeschüttelt. Ein Kessel Buntes.

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Um der Komplexität der Welt ein wenig gerechter zu werden, greifen mehr und mehr Schreibende zum Episodenroman. In einzelnen, kleinen seriellen Bruchstücken setzt sich auf diese Weise ein kaleidoskopisches Szenario zusammen und führt eine Realitätsauslotung durch. Klassische Beispiele führen John Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ oder die USA-Trilogie an, oder noch früher Eugène Sues „Die Geheimnisse von Paris“. In der Gegenwartsliteratur gibt es viele Romane dieser Art. Hier seien Hervé Le Telliers „Die Anomalie“, Eva Menasses „Dunkelblum“ oder Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“ von vielen angemerkt. Ursula Knolls Debütroman „Lektionen in dunkler Materie“ gehört dazu. Er bemüht sich um eine Standortbestimmung:

„Die Menschen in dieser Stadt, Trottel, alles Trottel. Sie braten sich selbst wie Hendln am Grill. Dass niemand hier den Hintern hochkriegt und etwas anderes versucht, dass alle das so gottergeben ertragen. Im Winter wird es schon wieder frieren.“

Eine der Protagonistinnen des Romans heißt Katalin. Sie ist Astronautin und hat eine Schwester, Eszter, die Finanzterroristin und Polizistin ist. Diese lebt getrennt von ihrer Ex-Freundin und Lebenspartnerin Heide, die das gemeinsame Kind Linus aufzieht. Linus geht in den Kindergarten, wo er von Fatima betreut wird, die wiederum eine Affäre mit Ines beginnt, einer Immigrationsbeamtin, die ihren Job verliert, und mit Milka zusammenwohnt, einer Aktivistin für gerechte Arbeitsmarkt- und Handelspolitik. All dies wird zusammengeschüttelt und zusammengehalten von der dunklen Materie:

„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält. Es ist unklar, woraus es besteht, woraus es entstanden ist oder was es sonst noch tut. Man kennt nur seine Funktion. Es ist einfach da und der Grund für unsere Existenz.“

In dem Roman von Knoll geht es aber weder um die dunkle Materie noch um Physik, oder das Universum oder dem Versuch, den Grund der Existenz nachzuspüren. Es geht vor allem um die Probleme des Alltags, Beziehungskrisen, übers Allein- und Verzweifeltsein, über Armut, Zeitmangel, über Wut auf die Verhältnisse, aufs System, auf die Familie und all die, die alles missverstehen und nichts ändern wollen.  

„Wenn, dann steht es ihr, Katalin, zu, das Leben der anderen zur Hölle zu machen. Zu zerstören, was sich zerstören lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt. Menschen sind nun einmal so, das steht in jedem Psychologiewälzer.“

Am Ende fliegt alles irgendwie auseinander und fällt auch irgendwie zusammen. Die Figuren begegnen sich, lieben sich, zerstreiten, verlieren sich. In unmanierierter Sprache mischt Knoll die Handlungsstränge etwas beliebig zusammen, was vor allem dem Genre Episodenroman geschuldet ist, der eine in sich kohärente Erzählweise gar nicht voraussetzt und eine gewählte Komposition stets als optional erscheinen lässt.

Wer den Titel nicht ernst nimmt, sich in Ereignissen und Tomatenwerferei treiben lassen möchte, macht mit der Lektüre von „Lektionen in dunkler Materie“ nichts falsch. Überraschungen und Innovationen gibt es nämlich keine. Und ob diese oder jene Figur mehr oder weniger, spielt dann auch keine Rolle mehr. Die Welt bleibt in Bewegung, wahrscheinlich wegen der dunklen Materie.


Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“

Literarisch widersprüchliche Reise durch ein zerstörtes Ich.

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Reproduziert sich Gewalt durch Mimesis, durch Enttäuschung, durch Unvermögen? Diese Frage stellt sich Claudia Schumacher in ihrem Debüt „Liebe ist gewaltig“, das weniger von Liebe als von Aggression handelt. Der Titel mag daher etwas irreführend sein. „Liebe“ in ihrer klassisch vorgestellten Form wie in Benedict Wells „Hard Lands“ oder „Vom Ende der Einsamkeit“ oder Irvin D. Yaloms und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich“ taucht in Schumachers Roman nicht auf:

„Ich wünschte, ich hätte deine positive Ader, wie Anikó es nennt. Deinen Selbstglauben, dein beschissenes Alles-ist-möglich. Aber ich bin Jules, das schwarze Loch, das sich selbst frisst. Ich wünschte, ich wäre jemand, den du lieben kannst. Ein Dichter, auf die stehst du doch. Wäre ich ein Dichter, dann wäre diese Misere in der Pfütze nicht nur ein Tiefpunkt, nein, sie wäre auch ein Grund für ein neues Gedicht, und zwar ein Gedicht für dich. Aber ich hasse Gedichte.“

Schumachers Roman entwickelt sich um die Widersprüche: Positiv/Negativ, Liebe/Hass, Allein/Zusammen, Gewalt/Zärtlichkeit. Die Hauptfigur heißt Jules und studiert Mathematik und verdient ihr Geld mit Ego-Shooter-Wettkämpfen. Ihr Leben kreist um Gewalt gegen sich selbst und andere, zumal sie nichts anderes aus ihrem Elternhaus gelernt hat. Ihre vier Geschwister gehen völlig auf Abstand oder sind ihr ähnlich. Hier wieder die Janusköpfigkeit und Dichotomie. Der Widerspruch:

„Eigentlich mag ich keine coolen Menschen. Diese Leute mit ihren elaborierten Geschmäckern und harmonierenden, sorgsam geführten Garderoben – wo ist die Ehrlichkeit, die Anarchie der Authentizität? Hören die nachts heimlich Britney Spears? In meiner Brust stecken unzählige Menschen, eigenartige Menschen, lustige Menschen, widersprüchliche Menschen. Ich kann mich nicht auf eine Formel bringen und sagen: Blur, ganz klar Blur – niemals Oasis.“

Die Widersprüchlichkeit markiert sich in der Textgestalt auch durch changierende Erzählposition. Das Für und Wider pendelt hin und her und erhält keine Ruhe und bekommt keine Perspektive. Der Plot bricht sich gegen Ende des Buches bahn und überzeugt gerade dort, wo er nichts erklären, nichts eruieren, begründen, konzentrieren will, wenn das Erzählen überhand gewinnt und die Gefahr beschrieben wird, in die Jules gerät, ein selbiges Leben wie ihre Mutter zu führen:

„Als Thilo fragte, ob sie ihn heiraten wolle, quiekte die Mutter vor Freude, der Vater lächelte weinselig, Max sah auf seine Uhr, der Arsch, und Clementine machte ein Foto. Julia schwitzte. Sie starrte ihn an, sie konnte nicht sprechen, er lachte schüchtern. Julia? Schatz?, sagte er leise.
Okay, sagte sie schließlich und fragte sich gleichzeitig, ob man das so sagte.“

Claudia Schumachers Erstling verdichtet sich dort, wo er Stil und Rhythmus eines typischen Genreromans annimmt wie Nancy Prices Roman „Der Feind in meinem Bett“ oder Bret Easton Ellis‘ „American Psycho“. Das Erzählerische spielt mit Farben und Formen und hüllt die Ereignisse unter einen gruseligen Schleier ein. Wo aber aus der Ich-Perspektive Jules/Julias erzählt wird, bleibt der Text dem eigenen Motto verhangen, das Louise Glücks Gedicht von der unzuverlässigen Sprecherin (The Untrustworthy speaker) zitiert:

„Man kann mir nicht trauen.
Denn ein verwundetes Herz
ist auch ein verwundeter Geist.“

Am Ende bleibt dann eben die Frage, ob über Gewalt überhaupt reflektierend geschrieben werden kann, oder ob Gewalt nicht eben ein Fremdes bleibt, etwas, das ein Ich zwar erfährt, aber ein Ich, das sich seiner selbst bewusst ist, gar nicht ausüben kann. Diese Frage so minutiös herauszuarbeiten, bleibt Schumachers verdienst, auch wenn literarisch über weite Strecken der Funke nicht überspringt.


Annika Büsing: „Nordstadt“

Literarisch antizipierter Ausbruchsversuch

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Annika Büsings Debütroman zeichnet sich vor allem durch seine Unumwundenheit aus. Die Ich-Erzählerin Nene nimmt kein Blatt vor dem Mund und plaudert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie springt zwischen den Erinnerungen und Themen umher und berichtet von ihren Erfahrungen mit Boris, in den sie sich verliebt und der an einer verkrüppelten Fuß leidet. Sie stört sich aber weniger an seinen Fuß als ein wenig an seinen Zähnen:

„[Boris] hatte keine guten Zähne. Also gut waren sie schon, aber schief, und schiefe Zähne, die brandmarken einen Menschen irgendwie, finde ich. Aber vielleicht finde ich das nur, weil ich mit Zac Efron und Florian David Fitz aufgewachsen bin. Deren Zähne sind einfach perfekt. Und wenn ihre Leben noch so scheiße sind, einsam und erbärmlich, ihre Zähne rocken. Boris fand das oberflächlich.“

Wie der Abschnitt zeigt, handelt es sich bei „Nordstadt“ um eine besondere Form des Jugendbuches in Jugendsprache. Die Sätze sind kurz. Die Themen klar um Sexualität, um Eltern, Schule und das langsame Hineingleiten in das Erwachsenenleben zentriert. Die Erinnerungen an die Kindheit dominieren die Assoziationsverläufe und der Bezug zu den Eltern die relevanten Werthorizonte:

„Boris hasst Menschen im Allgemeinen. Das unterscheidet uns stark voneinander. Ich hasse einige Menschen bis aufs Blut: meinen Vater und meine Mutter, obwohl sie tot ist, und alle Menschen, die anderen Menschen (oder Tieren) wehtun.“

Büsing behandelt in ihrem Roman die Themen Impfen, häusliche Gewalt, Leistungsdruck, Altersarmut und weitere Problembereiche in einer sozial ausdifferenzierten, von sozioökonomischer Ungleichheit geprägten Welt. Literarisch wird „Nordstadt“ ab der Hälfte seines sehr knappen Umfanges, wenn über Wiederholungen deutlich wird, dass es sich eher um eine Ballade, um eine Art Prosagedicht, Rap oder Rezitativ handelt, denn um einen breitangelegten fiktionalen Text:

„Dann gibt es noch all die Erlebnisse, bei denen er [Boris] festgestellt hat, dass er Dinge nicht kann, die andere können. Und das ist jetzt ein ständiger Schluckauf: Das kannst du nicht. Es kommt hoch und er kann nichts dagegen tun. Das kannst du nicht. Rammt sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, in alles Schöne. Das kannst du nicht. Leute haben es gesagt oder er hat es festgestellt.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.“

„Nordstadt“ von Annika Büsing besitzt insofern viel mehr Ähnlichkeit mit Julia Engelmann und ihren Sprech- und Poetryslam wie in „Lass uns mal an uns selber glauben“ als etwa mit einer Valerie Fritsch und ihrem Debütroman „Winters Garten“. Büsing lotet den Graubereich zwischen Sprechen und Schreiben, zwischen Gedicht und Erzählung aus und gewinnt am Ende einen gewissen Mut dadurch, dass Grenzen aufgewiesen werden, die allzu einengend beim Lesen empfunden werden können. Die Hoffnung besteht in antizipierten literarischen Ausbruchsversuchen, der als antizipierter hier noch nicht vollzogen wurde.


Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Ein Anti-Entwicklungsroman: Das Chthonische schlägt zurück.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Neben den vielen aktuellen Coming-Of-Age-Romanen lohnt sich hier und da ein Blick zurück. Als gegenwärtige wären da u.a. zu nennen: Ariane Kochs „Die Aufdrängung“, Benedict Wells „Hard Land“, Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig“, Eckhart Nickels „Spitzweg“ oder Stephen Kings „Später“. All diese konzentrieren sich sehr auf die emotionale Berg- und Talfahrt im Erwachsenenleben, weniger aber auf das sogenannte Intellektuelle oder Geistige. Anders hier, in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“:

„Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg, den [Törleß] gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini misshandelt? – so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint. Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.“

Der Plot lässt sich schnell umreißen. Zwei Jugendliche quälen, missbrauchen einen vierten, und Törleß als Vierter, springt mal dem Opfer, mal den Tätern unentschieden und mal aus geistiger, begehrlicher, moralischer oder zufälliger Hinsicht zur Seite. Die Struktur speist sich aus dem Ungenauen, das sich in Törleß abspielt, der kein Held gewöhnlicher Gestalt ist. In ihm verkörpert sich vielmehr ein gewisses zivilisatorisches Erlahmen, eine vorweggenommene Gestalt dessen, was als gescheiterte Aufklärung knapp zwanzig Jahres später Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ umreißen sollte. Auf den Text bezogen, Törleß vermag nicht mit intellektuellen Mitteln sein Begehren, seine Leidenschaft, seine Lust zu durchschreiten und verfällt er deshalb umso barbarischer und verantwortungsloser:

„Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, – aber hastig und ohne mehr auf die Form zu achten. »Ich fühle«, notierte er, »etwas in mir und weiß nicht recht, was es ist.« Rasch strich er aber die Zeile wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: »Ich muss krank sein, – wahnsinnig!« Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet sich angenehm pathetisch. »Wahnsinnig, – oder was ist es sonst, dass mich Dinge befremden, die den anderen alltäglich erscheinen? Dass mich dieses Befremden quält? Dass mir dieses Befremden unzüchtige Gefühle« – er wählte absichtlich dieses Wort voll biblischer Salbung, weil es ihn dunkler und voller dünkte – »erregt? «“

Dieser Coming-of-Age-Roman beschreibt, wie kein anderer, das Nicht-Coming-of-Age, denn Törleß verbleibt unentschieden, pendelnd, unsicher inmitten der Dinge, ohne Verantwortung und Selbstbewusstsein zu erlangen. Das Kalte und Leere, das sich in den Versuchen von Törleß widerspiegeln, steigern im Text sich zum Gespenstigen, zu einer Art unheimlichem Nachvollzugs eines Scheitern, eines Selbst, das vor sich zurückschreckt und letztlich in sich zusammenfällt. Das Grauen erinnert an Edgar Allan Poes Der Fall des Hauses Usher oder Das verräterische Herz. In Musils Debütroman vereist sich das Denken zu einer psychopathologischen Pattsituation, aus dem Törleß nicht mehr herausfindet:

„So wie ich [Törleß] fühle, dass ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, dass etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist ….“

Musil beschreibt das Heranwachsen eines unempfindlichen Individuums, das sich nur für die eigenen Sensationen, für den eigenen Thrill interessiert, und bereitet den Weg für die Darstellung von Figuren wie Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho“ oder wie in Truman Capotes „Kaltblütig“. Auf seine Weise steht Musils Entwicklungsroman sehr eigenständig dar, eine vorweggenommene Ausdeutung dessen, was später die Dialektik der Aufklärung genannt wird und begrifflich das Scheitern der Aufklärung selbst zementiert. Das Chthonische hallt nach und schlägt in der Persona Törleß, ohne ein Wässerchen zu trüben, ungemindert zurück.


Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“

De- und Re-Radikalisierung als poetisch-ästhetisches Prinzip

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Juli Zeh und Simon Urban haben einen Brief-, also E-Mail-/Whatsapp-Roman verfasst. Die Gattungsbezeichnung „Roman“ auf dem Cover verweist darauf, dass die beiden Hauptfiguren und/oder die Handlung selbst allein der Imagination der Autorin und des Autoren entsprungen sind. Der Umstand, dass zwei Namen, einer groß und rot, Juli Zeh, der andere kleiner und schwarz, Simon Urban, auf dem Cover gedruckt worden sind, klärt über eine schwebende Autorenschaft auf. Es bleibt auf diese Weise völlig im Unklaren, wer für was sich verantwortlich zeichnet und hierin steckt wohl auch die versteckte Botschaft des Romans, die fehlende Zurechenbarkeit, und daher sein Name „Zwischen Welten“:

„Es ist schön, hier zu sitzen. Nur ich und der Bildschirm. Draußen ist es noch ganz ruhig, keine Leute auf dem Hof, kein Maschinenlärm. Manchmal schreit eine Kuh. Ich kann abtauchen in meine innere Welt. In den unendlichen Kosmos der Wörter. Für dich ist das normal. Für mich ist es wie vier Wochen Tauchurlaub auf einer inneren Insel.“

Die „Zwischen Welten“ beziehen sich insofern auf den digitalen Kosmos zwischen den Briefschreibenden. Von Bildschirm zu Bildschirm findet die Kommunikation zwischen Theresa Kallis und Stefan Jordan statt. Beide haben gemeinsam studiert und über Literatur diskutiert, lebten in einer Wohnung, aber führten damals keine Liebesbeziehung. Zumindest Stefan betrauert dies explizit. Theresa brach ihr Studium ab, um den Bauernhof ihres Vaters zu übernehmen, und Stefan stieg zum stellvertretenden Chefredakteur der, innerhalb der Romanwelt bedeutsamen, Wochenzeitung „Der Bote“ auf. Hier setzt die Handlung an. Vielmehr das Gespräch:

„Hallo Tessa, normalerweise stört es mich nicht, dass ich allein lebe – alleine bin, muss man wohl sagen. Aber jetzt fällt mir plötzlich auf, dass da niemand ist, wenn ich nach Hause komme. Niemand, dem/der ich Herz und Hirn ausschütten könnte. Ich sitze mit dem dritten Gin Tonic am Fenster und starre raus zum Wasserturm. In meinem Kopf ein Gedanken-Stausee, und niemand da, um den Stöpsel zu ziehen. Die Stille in der Wohnung ist aufdringlich. Ich habe es mit lauter Musik versucht. Aber man kann die Einsamkeit nicht per Spotify abschalten. Dadurch wird sie nur noch größer.“

In völlig unvermittelter Alltagssprache deckt der Roman den Zeitraum vom 05. Januar bis 04. Oktober 2022 ab. In E-Mails und Whatsapp-Nachrichten beleidigen, bekriegen, umflirten und umschwärmen sich Theresa und Stefan gegenseitig, suchen den Halt im anderen, den sie aus sich heraus nicht mehr zu finden vermögen. Sie kommen aus verschiedenen Welten. Sie haben verschiedene Lebensrealitäten. Sie reden aneinander vorbei, radikalisieren sich auf ihre Weise, de-radikalisieren und re-radikalisieren sich bunt umher. Planlos sind beide. Überfordert, mitgenommen, von Problemen und Herausforderungen der Gegenwart aus dem Gleichgewicht gebracht, wirken sie wie Marionetten und Spielbälle unbekannter, unsichtbarer Kräfte, nämlich der digitalen, entfremdeten, unnahbaren Globalisierungs- und Internet-Welt. Theresa:

„Während der Fahrt habe ich an dich gedacht. Ich bin immer noch wütend auf dich, dabei sollte ich vor allem auf mich selbst wütend sein. Der Depp bin ich. Normalerweise lege ich solchen Wert auf Sachlichkeit, aber von dir habe ich mich voll aufs Glatteis führen lassen. Ein digitaler Flirt, ein bisschen träumen. Ponyhof für Erwachsene.“

Und als vermittelte Antwort irgendwann Stefan:

„[Die Illusion] lindert den Schmerz für einen kleinen Moment. Wir haben beide gekämpft und verloren, Theresa – jeder auf seine Weise.“

Zehs und Urbans „Zwischen Welten“ thematisiert alles, was gegenwärtig in den digitalen Sphären Rang und Namen hat. Der Roman kreiert zwar Figuren, aber er hat keinen eigentlichen Plot. Der gegenteilige Fall tritt häufiger auf, nämlich bei Unterhaltungsromane, die mit viel Handlung, aber wenig Figuren aufwarten können. Dies allein erlaubt es „Zwischen Welten“ jedoch nicht, sich von anderen Texten dieser halbjournalistischen Machart abzuheben. Die Sprache kratzt nicht an der Oberfläche. Sie wischt an ihr vorbei.

„Man könnte ja auch sagen: Cooles Projekt, eindeutig politische Kunst. Genauso muss man es machen – eingefahrene Kommunikationsbahnen verlassen, aufrütteln, die Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien bedienen. Nur so geht etwas voran.“

Zudem, was in der Gegenwartsliteratur häufiger der Fall ist, verrät der Roman seine eigenen Figuren. Er fällt ihnen ins Kreuz und lässt sie erbärmlich und schwach und lächerlich dastehen. Beide, Theresa wie Stefan rennen Anerkennung, Lobhudelei hinterher, schmollen, tanzen, leben in einem manisch-depressiven Auf-und-Ab durch den Tag und träumen von der ganz ganz großen Liebe. Sie träumen von einer gemeinsamen Pilgerreise zu Martin Walsers-Haus am Bodensee oder von einer Flucht verkleidet als Bonny und Clyde nach Palermo. Sie träumen von einer besseren Welt, während um sie herum, so der Roman, alles in Schutt und Asche fällt.

Kurz: Zeh und Urban mögen die gegenwärtige Debattenkultur genauso wenig wie ihre Hauptfiguren. Wer also Freude daran hat, etwas nicht zu mögen, wird in „Zwischen Welten“ fündig werden.


Arno Geiger: „Das glückliche Geheimnis“

Von Altpapiertonnen und anderen Hindernissen, sich selbst zu finden.

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Ralph Waldo Emerson schrieb 1841 in sein Tagebuch: „An die Stelle von Romanen werden schließlich Tagebücher oder Autobiographien treten […]“ – die Veröffentlichungen dieser mehren sich tatsächlich; aber was sich auch mehrt, sind Bücher, die weder in die Schublade Romane noch in die von Erzählungen oder Autobiographie oder Sachbuch fallen. Sie sind vielmehr Interjektionen, lange Briefe, öffentlich zugängliche Transkripte von einem Monolog, wie es scheint. Arno Geigers neuestes Buch „Das glückliche Geheimnis“ gehört dazu. Es besitzt die Form eines Bekenntnisses, einer öffentlichen Beichte, wie das Grass’sche Häuten einer Zwiebel:

„In der Welt der Geheimnisse gibt es jetzt ein Geheimnis weniger. Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet. Der dunkle Deckmantel meines Doppellebens liegt am Boden. Weil ich es so will. Und warum? Um zu versuchen, endlich der zu sein, der ich bin? Oder um mich endgültig abzusondern und zu sagen, ich gehöre nicht zu euch? Vermutlich ein bisschen von beidem. Auf alle Fälle erfordert es Überwindung, mich zu zeigen. Gleichzeitig weiß ich, dass das Sichzeigen andere Möglichkeiten birgt, andere Freiheiten.“

Das Geheimnis, das Geiger nun öffentlich preisgibt, besteht in seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung: Er klettert gerne in Altpapiertonnen und sucht nach Büchern, Briefen, Dokumenten aller Art. Er untersucht sie, liest sie, verwendet sie selbst für seine Texte oder verkauft sie dann auf Flohmärkten. Anhand dieses, seines bislang geheim gehaltenen Hobbys, erzählt er von der Geschichte und Entstehung seines bislang veröffentlichten Gesamtwerkes. Chronologisch werden die Inspirationsquellen seiner Romane abgeklappert und mit Hintergründen versorgt. Es ist also im Grunde eine Retrospektive mit privat-intimem Einschlag:

„Mir ist klar, ein Buch über mich selbst, das ist schwierig, schwieriger als ein Roman. Ich bringe das Erlebte in eine erzählbare Ordnung und bin gleichzeitig viel zu sehr Künstler, als dass eine Art Chronik entstehen könnte. Ich bemühe mich um Aufrichtigkeit, ja klar. Aber auch Aufrichtigkeit ist eine persönliche Sicht der Dinge und nicht realisierbar, selbst nach den strengsten Richtlinien. Das Erzählte ist nie wahr.“

Geiger bespricht alles kursorisch, nichts gründlich. Er verharrt nirgendwo länger und schreitet schnell voran. So erzählt er sein Leben und seine verschiedenen Liebesbeziehungen, die Geschichte seiner Eltern und die Krankheiten, die diese im Alter ereilen. All dies aber nie detailliert und langsam genug, dass sich ein Eindruck ergäbe. Vielmehr scheint Geiger davon auszugehen, dass sein Publikum bereits alles über ihn weiß bis eben auf sein Altpapiertonnen-Herumwühlerei. Nur sehr selten wird die Sprache etwas narrativer, stilistisch-raffinierter:

„Doch während meine Vorfahren diesen finster heraufkriechenden Morgen auf dem Land kannten mit Feuermachen und den im Stall sich rührenden, rumpelnden Kühen, kenne ich ihn in der Großstadt, wo die Füchse geduckt, scheu um sich spähend, zu ihren Bauten zurückkehren, bevor die Leute mit den selbstbewussten Hunden Spaziergänge machen. Die Eichkatzen suchen sich ein Frühstück.“

Diesen Morgen kennt er von seinen Runden durch die Innenhöfe, um die Mülltonnen nach Brauchbaren zu durchsuchen, und solche Sätze sind Mangelware in dem kurzen und knapp gehaltenen Buch über Geigers glückliches Geheimnis. Die meisten Sätze sind so kurz wie der Inhalt offensichtlich ist. Wer also schon immer mal mit Arno Geiger eine Unterhaltung führen wollte, ist mit dem Kauf dieses Buches gut beraten, und wer immer schon einmal von Arno Geigers Liebesgeschichten mehr wissen wollte, der erfährt auch ein paar pikante Details, wer aber Arno Geiger im Grunde nicht kennt und höchstens seine Bücher interessant findet, wird es vielleicht schwerer haben, die Lektüre voranzutreiben.

Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“ ähnelt sehr Emmanuel Carrères „Yoga“, Martin Walsers „Das Traumbuch“, Jan Faktors „Trottel“ oder Ferdinand von Schirachs „Nachmittage“. Es besteht aus kleinen Anekdoten rundum sein Leben, nur wohlerzogener und sprachlich etwas vorsichtiger und auch humorloser.


Marie Gamillscheg: „Aufruhr der Meerestiere“

Lakonische Traumaverarbeitung mit dystopischen Abgründen

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Mit „Die Verwirrungen des Zögling Torleß“ debütierte einst Robert Musil. In ihm ging es um die Abgründe beim Aufwachsen innerhalb eines Internats, um die Probleme, die Welt intellektuell und emotional zu verarbeiten. Mit anderen Worten, es wurde die Entwicklung eines mehr oder weniger  anschlussfähigen Narratives nachvollzogen, mittels dessen sich der Jugendliche zu orientieren und der Erwachsenenwelt zu stellen versuchte. Marie Gamillscheg unternimmt in „Aufruhr der Meerestiere“ Ähnliches, nur etwa ein Jahrzehnt um die Studienjahre an der Universität verzögert und mit Luise, einer Nachwuchswissenschaftlerin, als Protagonistin:

„Luise musste raus aus dieser Wohnung. In Eile legte sie sich Schicht um Schicht auf, dunkle Schminke, helle Schminke, Puder, übermalte das Kind, zog sich die Erwachsene mit einer leichten khakifarbenen Jacke an, fast Blazer, aber eben doch nicht, gerade noch Jacke, gerade noch schick genug, gerade noch so, dass es aussah, als würde man sich keine Gedanken machen. Sie strich ihre Augenbrauen gegen den Strich und wieder zurück, sie fasste sich an die Wangenknochen. Würdest du für ein schöneres Gesicht töten? Die Landschaft sagte: Natürlich.“

Luise forscht an der Meerwalnuss, einer Qualle, deren lateinische Bezeichnung „Mnemiopsis leidyi“ lautet und an die Worte „Mnemosyne“ und „Leid“ gleichermaßen erinnert. In der Tat handelt es sich bei Gamillschegs Roman um eine Spurensuche in der Vergangenheit. Die Protagonistin versucht mittels Introspektion eine Standortbestimmung durchzuführen, zwischen Graz und Kiel, zwischen Wissenschaft und Privatleben, zwischen der Erwachsenenwelt und ihren Kindheitserinnerungen.  Motiviert wird die Introspektion durch das Leid an ihren Essstörungen, an ihren Beziehungsproblemen, an den im Dunklen liegenden, verstörenden Kindheitserlebnissen mit dem Vater und der Untreue der Mutter, die in der Scheidung der Eltern gipfelten.

„[Luise] hörte, wie die Mutter sich von der Musik wegbewegte, wie sie eine Tür öffnete und schloss, dann sagte sie: Ich glaube, die Männer sind mit mir zusammen, weil sie vor dem Tod weglaufen. Und du bist mit ihnen zusammen, weil du nicht alleine sein willst? Ich bin mit ihnen zusammen, damit ich mehr über den Tod weiß als alle anderen. Luise legte auf. Dieser Abend im Wohnzimmer, als sie von der Trennung der Eltern erfuhr. Vor ihr der Fernseher, in dem jeden Samstagvormittag Schilling die Welt erklärte, jetzt war der Bildschirm schwarz.“

In lakonischer Weise werden die Tage einer Dienstreise nach Graz erzählt. Luise pendelt zwischen der Wohnung des Vaters und dem Grazer Zoo hin und her, hält Vorträge, erinnert sich, besucht die Mutter und sorgt sich um den Vater, der bei Luises Bruder nach einem Herzinfarkt gepflegt wird. Vermittelt wird der Plot durch Beschreibungen und Spekulationen rundum die Meerwalnuss:

„[Luise] erzählte [Juri] von der Meerwalnuss, diesmal nicht, um ihn zu beeindrucken, sondern um ihm zu beweisen, dass es ihr wirklich nicht um Titel und Einladungen ging, sondern dass es für die Welt wichtig war, von diesen Tieren zu erfahren und zu lernen, wie sie sich so massiv ausbreiten und selbst im schlimmsten Gewässer überleben konnten. Juri schwieg dazu. Verstehst du denn nicht, sagte Luise. Da ist ein Aufruhr in den Ozeanen, von dem niemand wissen will.“

Zwischen Anorexie, angedeutetem Kindesmissbrauch, zwischen Klimawandel und Naturkatastrophen und den Problemen einer jungen Wissenschaftlerin, innerhalb der akademischen Forschung ernstgenommen zu werden, pendelt der Roman stilistisch konsequent unentschieden herum. Die Welt liegt zersplittert vor der Protagonistin und lässt sich so einfach nicht mehr zusammenfügen. Das Narrativ existiert schlichtweg nicht. Die Ordnung der Dinge rückt in weite Ferne.

Auf seine Weise bildet der Roman die Zusammenhangs- und Haltlosigkeit von Luises Welt formal wie inhaltlich sehr überzeugend ab. Er erinnert deshalb an Sylvia Plaths „Die Glasglocke“, nur ohne die intensiven Bilder, und auch Musils „Törleß“, nur ohne die philosophischen Einlagen und psychologischen Reflexionen, oder an Judith Hermanns „Sommerhaus, später“, nur ohne Nostalgie und sich selbst genügsamer lyrischer Sentimentalität. Der Roman bleibt in seinen Abgründen stecken, und das ist wahrscheinlich auch so gewollt.


Robert Menasse: „Die Erweiterung“

Ungeduldiges Erzählen den Nachrichtenticker entlang

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Romane haben es in der Tat schwer im Zeitalter der aufmerksamkeitserheischenden Schnellmeldungen und -medien. Ihnen fehlt es oft an Pointiertheit, Schnelligkeit, an Rasanz. Wie nun diese Forderung mit der modernen Erzählhaltung der Zeitdiagnose verbinden? Wie von einer unübersichtlichen Welt knapp und schnell übersichtlich berichten? Es hört sich wie die Quadratur des Kreises an, und ist es auch. Robert Menasse nimmt den Stier dennoch bei den Hörnern und versucht das Unmögliche:

„Darunter die Blätter zum Abreißen. Auf jedem war untereinander vermerkt: Monat, Woche, Tag, Wochentag, Geburtstage, Namenstage und ein Sinnspruch, Zitat oder Aphorismus. Schwarz auf weiß, nur die Sonntage waren rot. Er riss das Blatt vom Vortag ab. Heute war September, 39. Woche, der 23., Mittwoch, geboren war an diesem Tag Jimi Hendrix (1942), Namenstag hatten Jakob, Ute, Virgil und Modestus. Darunter stand der Satz des Tages: »Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. G. W. F. Hegel«“

Menasses neuester Roman „Die Erweiterung“ handelt von einer Balkankonferenz mit dem Thema EU-Südosterweiterung, die Polen veranstaltet und in die Albanien große Hoffnungen setzt, um das Ziel EU-Mitgliedschaft schnell zu erreichen. Vorangetrieben wird die Handlung durch Polens und Albaniens Spiegelhaftigkeit. Polen, bereits Mitglied der EU, beugt sich nicht den Justizreformen. Albanien, noch kein Mitglied, setzt alle Mittel in Bewegung, um alsbald eines zu sein. Träger der Handlung sind hauptsächlich Adam aus Polen nun in Brüssel und Ismail in Tirana, beide sind jeweils von ihren besten Freunden, Mateusz und der ZK, jeweils Ministerpräsidenten, enttäuscht worden. Beide haben sich Großes erhofft. Beide müssen der Realität in die Augen sehen:

„Adam und Mateusz, die blutjungen Widerstandskämpfer, noch halbe Kinder, standen an diesem Tag an einem Fenster der Anwaltskanzlei Guciński i Synowie, der anerkannten Rechtsvertreter der Solidarność, an der Ulica Marszałkowska, und blickten hinunter auf die Fahnen schwingende Menge. Neben ihnen, als Zeugen des grotesken Gesprächs zwischen Adam und Mateusz, standen Senior-Anwalt Jakub Guciński und der Soldat der Kämpfenden Solidarność Piotr Szczęsny – der kurz vor der Befreiung euphorisch, nach der Wende aber enttäuscht war, depressiv wurde und sich später selbst verbrennen sollte.“

„Die Erweiterung“ zeichnet sich durch einen kriminologischen Stil aus. Viele Cliffhanger verlocken zum schnellen, fast oberflächlichen Lesen. Ein-Wort-Sätze jagen einander. Dialoge, nur skizziert, zeigen, dass die Erzählhaltung alles zur Sprache kommen lassen will, aber deshalb, unterschiedslos, nur eine Makulatur von Erzählung, Roman, ja Literatur zustandebringt. Die Figuren doppeln sich. Ganze Sätze wiederholen sich. Wie auf einem Reißbrett entworfen hangelt sich der Plot von einer Pointe zur nächsten. Leicht lesen lässt es sich durch die Vielzahl an Handlungsfäden. Die zur Chiffren reduzierten Sätze lassen so etwas wie Langeweile gar nicht erst aufkommen.

„Kommissar Franz Starek war ein zutiefst lethargischer Mann. Man durfte aber seine Lethargie nicht mit Gemütlichkeit verwechseln, er konnte sehr ungemütlich werden. Er hatte seine unverbrüchlichen Vorstellungen von Moral, vom korrekten Leben, von Anstand, und nach zwanzig Jahren in leitender Position, die zugleich wegen seines Mauerblümchen-Daseins in der Institution eine Karriere-Sackgasse war, jene Gelassenheit, die in Wien mit »sich nix sch[…]ßen« bezeichnet wurde. Wenn ihn etwas hochgradig irritierte oder wenn er etwas für falsch hielt, dann konnte er selbst hochrangige Beamte im Bundeskriminalamt so anbrüllen, dass sie mit Verdacht auf Tinnitus in Krankenstand gingen.“

Selbstredend lässt sich ein lethargischer Mann mit cholerischen Anfällen genauso wenig vorstellen, wie jemand, der gelassen und gemütlich ist und unverbrüchliche Vorstellungen von Moral, von Anstand besitzt, aber seine Kollegen ins Krankenhaus schreit. Diese Skizzierung zeigen schon die Schwächen wie die Stärken von Robert Menasses neuestem Roman „Die Erweiterung“. Er versucht erst gar nicht eine verbindliche, überzeugende Welt zu schaffen. Dem Effekt wird alles untergeordnet. Franz Starek, bspw., kann aufgrund solcher Beschreibung keine Figur werden, da ihr alles und jedes zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu tun erlaubt ist. Langweilig wird der Roman genauso wenig wie Fahrstuhlmusik. Sie gibt dazu keinen Anlass. Menasse auch nicht. „Die Erweiterung“ gleicht in vielerlei Hinsicht Orhan Pamuks „Die Nächte der Pest“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Diese Romane kapitulieren vor ihrem eigenen Erzählgegenstand und verlieren sich in Selbstironie und Selbstbezichtigung. Ihnen geht es wie Franz, der über ein Bier mit seinem Cousin über die Vergänglichkeit räsoniert:

„Sie philosophierten über das Vergehen der Zeit, und darüber, dass sie plötzlich nicht mehr offen vor ihnen lag. Manchmal denke ich, nicht die Zeit vergeht, wir vergehen, bis wir nicht mehr hineinpassen in die Zeit, wie sie ist. Du mit deinen Sprüchen! Dann wieder Schweigen, Nippen am Bier. Am Ende eine Umarmung. Danke, hat er gesagt.“

Aber vielleicht ist es ein unterschätztes Kunststück, ein langes Buch zu schreiben, das nichts zurücklässt. Sollte dem so sein, ist es Robert Menasse als Zeitkritik durchaus gelungen.


Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“

Von Mitmenschen und anderen Hindernissen

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Slata Roschals Roman „153 Formen des Nichtseins“ beginnt beschwerlich. Die Sprache ist trocken, einfach, fast schnöde und einfallslos zu nennen. Dokumentarisch, in Copy&Paste-Manier wird von den Zeugen Jehovas, von dem Leben einer russischsprachigen Familie in Nordostdeutschland, von den Wünschen und Träumen, den Siegen und Niederlagen eines heranwachsenden Teenagers geschrieben, der zudem früh Mutter wird und sich zugleich in der akademische Landschaft zu behaupten versucht. Keiner Wunder, dass da viel auf der Strecke bleibt:

„Auch wünschte ich mir vieles, Unsterblichkeit zum Beispiel für Emil und Artur, oder meinen Tod als ersten, dann wären sie aus meiner Perspektive unsterblich geworden, ich wünschte mir, endlich ein Buch und dann ein zweites zu schreiben, meiner Existenz damit einen Sinn zu verleihen, sie umzuleiten ins Produktive, ich wünschte mir immer schon eine Katze und guten Tee in einer antiken Keramikdose, die nie leer wird, wünschte mir, sechs Kilo weniger zu wiegen, einmal in die Karibik zu fahren, nach Australien zu ziehen, aber deswegen erlaubte ich es mir noch immer nicht, an eine Neue Welt zu glauben.“

Thematisch wird alles durcheinander gewürfelt und stilistisch auch. Es gibt Dialogformen wie in einem Theaterstück. Es gibt Wörterbuchausschnitte, Tabellen. Es gibt Briefe, E-Mails und Zeitungsannoncen, auch Ebay-Inserate und Lobgesänge aus den Gesangbüchern der Zeugen Jehova, sogar Interviews und Sprachbögen zum Selbstausfüllen und eine Seite für eigene Notizen. Nur richtig erzählt wird nicht. Erzählung, Plot, Spannung, narrative Einbettung? Fehlanzeige. Literatur als bloßer Selbstverständigungsprozess:

„Immer schon hatte ich gesagt, ich will Schriftsteller werden, nicht Bankkauffrau, nicht Bibliothekarin, auch keine Schriftstellerin, immer Schriftsteller, seit der Grundschule. Und wenn ich es immer gesagt und ernst gemeint habe und es nachweisbar ist durch Tagebücher, Schulzeitungen und Zeugenaussagen, warum, wie sollte ich etwas anderes werden, wo es das Einzige ist, das ich jemals werden konnte.“

Die Voraussetzung, es werden zu müssen, weil nichts anderes möglich ist, ist denkbar schlecht, auch für gelungene Prosa. Um Prosa handelt es sich auch kaum, eher um eine sehr avancierte Form eines epischen modernen Gedichtes, in denen die aperçus, Aphorismen, kurzen Kapitel und Abschnitte wie Strophen gleichen, balladeske Verformungen des Alltags, eine Ode auf den Selbstbehauptungsversuch mit allen Fallstricken und Niederlagen und kleinen Siegen.

„Ausgerechnet am gleichen Tag fragt mich eine Konferenzteilnehmerin, wo ich herkomme, ursprünglich. Ich erröte, zucke, öffne weit den Mund und spucke aus: Aus Sankt Petersburg. Sie nickt, sie kennt die Stadt, viel besser als ich, und ich hasse sie dafür ‒ und für ihre Frage. Sie ist dick, denke ich mir sofort, mit einem riesigen Hintern, was soll sie mir zu sagen haben, aber der Stachel bleibt und ich bin froh, dass die Konferenz zu Ende geht und diese Frage nur einmal gestellt wird. Damit es auch dabeibleibt, setze ich mich in der Mittagspause von allen weg und ziehe ein so grimmiges Gesicht, dass es keiner wagt, sich neben mich zu setzen.“

Gehasst wird in „153 Formen des Nichtseins“ sehr viel, die Eltern, das System, die Not, die Armut, das sinnlose Jobben, die Verlogenheiten und Erbärmlichkeiten der Mitmenschen. Was aber dürftig beginnt, muss so nicht enden. Slata Roschal gelingt das Kunststück, dass eine Art Sound entsteht, eine Weltgefühl transportiert, tatsächlich eine Färbung und Konkretion entsteht, die Authentizität nicht zur bloßen Phrase verurteilt. Pointillistisch und impressionistisch ergibt sich eine verschrobene Form, die Lust auf mehr macht. In Schreibhaltung und Emphase Marlen Haushofers „Die Wand“ und Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ sowie Ingeborg Bachmanns „Malina“ verwandt, erreicht sie stilistisch nicht deren Intensität und Kondensiertheit, aber vieles deutet darauf hin, dass „153 Formen des Nichtseins“ viele Schritte (153?) in die Richtung gewesen sind.


Noemi Somalvico: „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“

Farm der Tiere, nur friedlich.

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Verlorenheit, Sinnlosigkeit, Einsamkeit kennen alle irgendwie. Noemi Somalvico verlässt geschlechts- und kulturspezifische Kontexte, Zeit und Raum lokalisierte Klischees, indem sie diese Gefühle von Tieren ausleben und aussprechen lässt. Hier spielt nichts mehr als der emotionale Gefühlszustand eine Rolle. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ impliziert keine exkludierende Ursprungssuche. Gott und die Welt der Tiere leiden und wissen das auch:

„Zu Hause setzt Gott sich vors System. Er schaut zu, wie sich die Erde dreht. Er schaut zu, wie der Mond leuchtet. Dann setzt er die Fernbrille auf und guckt in eine Stadt. Guckt in ein Haus, in eine Wohnung, schaut einem Schwein zu, das mit geschlossenen Augen, genau wie er gestern, an einem Tisch, vor einem leer gegessenen Teller sitzt. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.“

Die Sprache ist pointiert, kurz, rhythmisch, schnörkellos. Sie agiert bauklötzenhaft, stereotypisch, atomar gleichförmig und unterstützt das erzählerische Setting, das den Tieren das Geheimnisvolle lässt. Die ganz und gar nicht psychologisierende, reflektierende, in sich zurückgebogene Beobachterperspektive hält einfach die Kamera aufs Geschehen. Das Schwein leidet. Der Dachs erfindet. Gott langweilt sich. Das Reh ist traurig. Hirsch und Biber sind gemein und nicht an dem Reh, respektive dem Schwein interessiert. Was also tun? Zum Glück hat Dachs eine Maschine entwickelt, die eine Reise zu Gott erlaubt und Gott selbst überrascht:

„Er gab den Apparat Gott. Sein Gewicht war beachtlich für die unauffällige Grösse. Ein Hebel, links stand Hin und rechts Zurück. Darunter leuchtete ein Lämpchen grün.
»Sie sind quasi mein Erzeuger«, sagte Dachs.
Da hätte Gott das Ding beinahe fallen lassen. So was hatte in aller Ewigkeit noch nie jemand zu ihm gesagt.“

Der locker und leicht geschriebene Roman besitzt heitere und traurige, teilweise sehr bedrückende Momente. Leicht hat es weder Schwein noch Reh noch Gott. Der Kosmos spielt irgendwie nicht mit. Zum Glück haben sie einander, und so bilden sie eine unwahrscheinliche WG, die sich insbesondere darin auszeichnet, dass sie sich gegenseitig nicht zu bekehren, zu verändern, zu manipulieren versuchen. Schlussendlich gehen sie auf eine Reise in das Jenseits, das sich als Wüste und dann als 3-Sterne-Ressort entpuppt, in welchem jedoch Gott schwer erkrankt:

„Am folgenden Abend ist es Dachs, der fragt: »Was ist das für ein Ort?«
Schwein meint dieses Mal, es spiele wohl kaum keine Rolle, wo sie sich aufhalten. Es wäre ihm bei bestem Wille nichts Schöneres eingefallen fürs Jenseits. Der Himmel in der Ferne wird bisschen rot, bisschen violett.
Gott fröstelt.“

Der kurze Roman überzeugt durch seine Pointiertheit. Die Maschine vom Dachs wird genauso wenig erklärt, wie die Probleme der Hauptfiguren auf Situationen und Konflikte zurückgeführt werden. Es passt nicht. Es klappt nicht. So ist es, und alle bleiben irgendwie traurig und verdattert zurück. Die Moral von der Geschichte lautet vielleicht, dass der Blick zurück wenig einbringt, zu hadern nicht lohnt und eine Reise viele Wunden heilt und Narben zum Verschwinden bringt. Der melancholische Unterton bleibt. Die Stilsicherheit überzeugt. Somalvico belehrt nicht. Sie erzählt und zwar eine Fabel wie George Orwell nur ohne alle Tragik und politische Konnotationen. Auf diese Weise gelingt ihr, was vielen nicht gelingt, ein Kosmos zu erschaffen, in welchem das Leiden von Schwein zutiefst betrübt und Gott sympathisch erscheint. Von unter 150 Seiten mehr zu erwarten, wäre schlichtweg unfair.  


Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Ist das noch Literatur, die Gegenwartsliteratur?

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Moritz Baßler, seines Zeichen Literaturwissenschaftler an der Universität Münster, fühlt in seinem neuesten Buch „Populärer Realismus“ den aktuellen Bestsellern und Buchpreisbüchern auf den Zahn. Die Gegenwartsliteratur zeichne sich durch Realismus aus, und Realismus bedeutet für Baßler, dass die Sprache als Medium nicht in Erscheinung tritt, sondern nur als Mittler, als unsichtbares Zeichensystem, das direkt in die Welt der Erzählung leitet:

„Der Realismusbegriff, der in diesem Buch verwendet wird, bezieht sich also ausdrücklich auf die Machart der Texte und nicht auf ihren Inhalt. Gespenstergeschichten, Science-Fiction und Fantasy-Romane enthalten zwar Dinge, die in unserer Realität womöglich nicht vorkommen (Gespenster, Vampire, Androiden, Drachen, Zauberer). Sie sind aber trotzdem realistisch erzählt […]“

Die Differenz, die Baßler anbietet, besteht zwischen Diegese, die Allheit der erzählten Welt, und Mimesis, die Anverwandlung an die Erzählposition. Traditionelle Romane wie von Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“ oder Hermann Broch „Der Tod des Vergils“ betonen qua Wortwahl und Rhythmus ein situatives, dechiffrierendes Lesen, in welchem das Lesen sich als Tätigkeit stets bewusst bleibt, also eine Vermittlungsleistung zwischen Schreiben und Lesen im Akt vollzogen wird. Romane des Populären Realismus, so Baßler, lassen die Zeichenwelt verschwinden und ziehen ihr Publikum direkt in die verhandelte Welt, d.h. das Universum von Romanen wie „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ oder Christian Krachts „Eurotrash“ ist bereits das bekannte, durch Medien und andere Bücher vorverdaute Universum, auf das nur verwiesen, das nicht mehr beschrieben zu werden braucht. Laut Baßler handelt es sich hier strenggenommen nicht mehr um Literatur:

„Überhaupt trifft alles hier Gesagte für Fantasy-Literatur, als Inbegriff des Populären Realismus, ziemlich genau zu. Um also auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen, ob Fantasy überhaupt noch in einem emphatischen Sinne Literatur ist, muss die ehrliche Antwort wohl lauten: Nein!“

Was übrigbleibt, im Kontext der neuen Schreibweise, besteht im direkten Bejahen dieser Ambivalenz, das wäre die Popliteratur nach Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre, oder das Verschleiern dieser Ambivalenz durch Übernahme von Topoi, Duktus und Stil, ohne je den Zeichencharakter des Textes in den Fokus geraten zu lassen, das wäre Populärer Realismus im Sinne von Daniel Kehlmann oder Martin Mosebach. Beide Formen erzählen realistisch. Beide Formen haben nichts mit dem Versuch der Literatur gemein, neue Sinnlichkeitsformen poetisch emergieren zu lassen. Der Unterschied besteht nur in der sich selbst zugedachten Rolle. Ironisiert Kracht, belehrt Kehlmann. Setzt sich Stuckrad-Barre nicht mehr in die Tradition eines Thomas Mann, imitiert Mosebach gerade diesen:

„Populärer Realismus und Pop-Literatur, deren beider Merkmale sich in „Tschick“ [von Wolfgang Herrndorf] finden, sind also, so betrachtet, Alternativen auf dem Feld einer neuen realistischen Erzählliteratur. Leitkunst des Populären Realismus ist der Spielfilm: Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung und Naturalisierung. Er macht dabei tendenziell unsichtbar, was die Pop-Literatur ausdrücklich betont: die Äquivalenz, die Nebenordnung von Möglichkeiten: Dominanz der Diegese, des Archivs, Markenparadigmen, Parallelwelten, auch Serialität, verbunden mit einer Schwächung der Handlung, oft des Narrativs selbst.“

Baßler stellt sich klar auf die Position der Pop-Literatur. In diesem Sinne untersucht er u.a. Sebastian Fitzeks „Der Heimweg“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ und andere in der Kategorie Populärer Realismus, und Dietmar Dath „Gentzen“ und Christian Krachts „Eurotrash“ und Wolfgang Haas‘ „Müll“ für selbstkritische, selbstreflektierte Pop-Literatur. Die traditionelle Literatur gerät hier unter die Räder, und es wird schlicht und ergreifend behauptet, dass sich die Gegenwartsliteratur nicht mehr mit den Begriffen der klassischen Literatur beschreiben lässt. Diese scharfe Trennungslinie wirkt aber überhastet und verengt Moritz Baßlers Text auf eine gelungene Beschreibung der Gegenwartsästhetik, ohne Anschluss aber an eine kommunikative Produktivmachung dieser dominanten Erzählstrategien für Publikum und Schreibende. Hierfür hätte es eines weniger klassischen Kommunikationsbegriffes bedurft, der kybernetisch auf der Höhe der technologischen Entwicklung sein Ziel nicht in Bewertung und Beurteilung, sondern in der Entfaltung von Mitteilungsmöglichkeiten sieht.