T.C. Boyle: „Blue Skies“

Kein Thriller, keine Ironie, kein Humor, aber dafür langatmig.
T.C. Boyles neuer Roman „Blue Skies” besitzt zwar eine klare Botschaft, dass die Welt, der Planet vor den Menschen gerettet werden muss, aber er schlägt hierbei sehr gemischte Töne und unentschiedene Gangarten an. Sein Erzählstil schwankt zwischen zynisch, ironisch, satirisch und reißerisch und findet nirgendwo ein Gleichgewicht, aus dem heraus sich ungehindert ein Lesefluss in die Welt der Cullens ergibt:
„Es war seltsam, sie im Haus zu haben, ihre Körper, ihre Ausstrahlung, ihre flüsternden Geräusche, ihre Psychen, die wie ferne Rechenmaschinchen vor sich hin arbeiteten und ihre eigenen Wirklichkeiten konstruierten, die schliefen und wachten in einem Raum, der Ottilie gehörte, einem eingeschränkten Raum, in dem es nicht mal mehr Dunphy gab.“
Ottilie Cullen hat mit ihrem Mann Frank zwei Kinder, Cooper und Catherine, genannt Cat und einen Hund namens Dunphy. Cooper forscht über „Auswirkungen der Aussaat von Wolfsmilchgewächsen an kalifornischen Straßenrändern und Feldrainen auf die Eiablage des Monarchfalters“ in Kalifornien, in der Nähe seiner Eltern, und Cat hat es nach Florida verschlagen, wo sie mit Todd, einem Bacardi-Rum-Botschafter, eine Familie gründet und sich eine Karriere als Influencerin aufzubauen versucht. Als besonderen Twist, um ihren Account zu boostern, entscheidet sich Cat dafür, auf eine Python als Markenzeichen zu setzen und sich als „Schlangenlady“ einen Namen zu machen.
„Sie war auf etwas gestoßen, auf eine Identität, die ihren Wert als Influencerin steigern würde. Das würde ihr Markenzeichen sein, ihr Entree: die Schlangenlady, die eine neue Linie von Tops oder Designer-T-Shirts oder was auch immer unters Volk brachte. Großartig. Toll. Ausgezeichnet. Doch nach einer Weile empfand sie ein leises Bedauern, weil niemand da war, mit dem sie diese Freude teilen konnte. Sie saß zu Hause herum, allein, ohne Todd oder sonst jemanden, und aus Bedauern wurde Unmut.“
In monotoner, souveräner Manier spult T.C. Boyle die Schicksalsschläge der Cullens herunter. Die Sprache bleibt aufs äußerste einfach, rhythmisch, protokollarisch. Er entwirft Szenen, Dialoge, Ereignisabfolgen in einer Dichte, die kaum Zeit für Beschreibungen, Empfindungen, tiefere Einsichten in die Welt der einzelnen Figuren lassen. Holzschnittartig bleibt es bei diesen Skizzen und von Ferne betrachteten Einzelpersönlichkeiten. Sie wirken isoliert, aus allen Kontexten und Zusammenhängen herausgerissen. Verzweifelt, trist, verquast wehren sich Ottilie, Cat und Cooper gegen des Lebens Unbill und die aufziehende Rache des Ökosystems und nehmen allerlei Schaden. Aufhalten lassen sie sich trotzdem nicht:
„Der Augenblick dehnte sich, bis er das ganze Universum umschloss. Sie tastete sich blindlings voran, alle fauligen Gerüche des Hauses waren freigesetzt, und wieder riss das Herz ihr ein Loch in die Brust. Sie schrie den Namen ihrer Tochter, bis ihr die Stimme versagte. Etwas fiel zu Boden und dann noch etwas und noch etwas … doch plötzlich erhob sich in der absoluten Finsternis ein dünnes Klagen, und da war er, wie ein Wunder: der Kater. Und ihre Tochter. Sie war hier, in Fleisch und Blut, ihre Haut fühlte sich kalt und nass an — Tahoe, Tahoe.“
Trotz einiger dichter Stellen, der Baumstamm, der sich als Alligator entpuppt, trotz vieler Einfälle, eine Schlange als Haustier zu beschreiben, und einigen eingestreuten Pikanterien, Amputationsfetisch, ergibt sich nur ein äußerst fragmentiertes Gesamtbild, dass die Mutterliebe die Welt der Menschen zusammenhält. In seiner epischen Breite zu verkürzt, in seinen Psychogrammen zu detaillos, in seinen Handlungsabfolgen zu wenig überraschend, liest sich der neue Roman wie ein Mischung aus Stephen King und Jonathan Franzen: von King aber nur die einfache Sprache, ohne die Spannung; von Franzen nur die Langatmigkeit, aber ohne die Sprach- und Beschreibungsfreude.
Maria Borrély: „Mistral“

Geheimnisvolle und tragische Naturprosa voller Intensität
Maria Borrélys Roman „Mistral“ erschien zum ersten Mal 1930 bei Gallimard. André Gide, der spätere Literaturnobelpreisträger von 1947, empfahl es in höchsten Tönen. Es ward dennoch vergessen. Erst 2006 wurde es wieder aufgelegt, und 2022 von Amelie Thoma zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, aus zunächst keinem anderen Grund als den, dass die Übersetzerin häufig dort ihren Urlaub verbringt, wo der Roman spielt, Puimoisson, auf halbem Wege zwischen Marseille und Nizza Richtung Grenoble gelegen.
„Die Sonne umschließt einen ganzen Mandelbaum. Als die große Kugel hinabgeglitten ist, steht der Himmel noch immer in Flammen. Hügel und Wolken verschmelzen, sehen aus wie das Meer. Denn sie kennt das Meer, wo weiße Schaumperlen über die Wellen rennen und springen. Sie hat es in Marseille gesehen, bei der Hochzeit von Cousine Thérèse. Sie erinnert sich an weiße Boote mit blitzenden Kupferbeschlägen, Vorhängen aus heller Seide, glänzenden Lederdivanen …“
Borrély schafft es mit wenigen Worten sofort ganze Szenerien zu gestalten, Charaktere einzuführen, ein Dorf zum Leben zu erwecken. Ihre Prosa verdichtet synästhetische Momente. Sie springt in der Beschreibungsintensität vom Kleinsten zum Größten, von Grillen und Käfern zu Sonnen, Wolken und Winden. Alles findet zugleich statt, erhält selbige Aufmerksamkeit, das Holzscheit im Ofen, das Gluckern der Brunnen, das Zirpen, Zwitschern, aber auch die Ängste und Hoffnungen der Eltern und Freunde von Marie, der Protagonistin des Romans:
„Wie gut, dass [Norine] die Marie hat, die ihre rechte Hand ist und keine Arbeit scheut. Und die sich, egal worum es geht, nicht zu schade ist. Ebenso geschickt und flink beim Nähen wie beim Einweichen der großen Wäschestücke, beim Hühnerstallausmisten oder Versorgen der lammenden Mutterschafe.“
In ihrer Naturprosa stark an Adalbert Stifter aus „Bergkristall“ erinnernd, in ihrer Sanftheit zu einer Hermann Hesse Erzählstimmung wie in „Narziss und Goldmund“ neigend, aber im Gegensatz zu diesen sich eines knappen, geheimnisvollen Symbolismus wie Robert Musil in „Drei Frauen“ bedienend, findet Borrély eine sehr eigenartige Mischung aus Strenge und Zartheit. Ihre Sprache wächst, wuchert, stoppt, hält inne, schreitet voran und verwischt, erlöscht wie die Jahreszeiten, die sie beschreibt:
„Diese Ferne zieht [Marie] an, löst sie von der grausamen Welt. Sie spürt die Erschöpfung des Viehs, das über endlose Straßen trottet, ermattet von Staub und Sonne, bereit, umzusinken. Die legenden Wolken sprechen ihre eigene Sprache, unhörbar, aber überzeugend: Alles, was aufrecht und prachtvoll ist, die Wand die der Maurer singend errichtet, der Baum, der sich dem Wind entgegenstellt, der stolze Mensch, der kahle Granitschädel des Hügels, alles fällt zu guter Letzt, die Wand, der Fels, der Baum, der Mensch.“
Wer nur ein wenig Literatur mag, Sprachtrunkenheit, Sprachfreude, Lyrismus und Naturbeschreibungen folgen will, sich in der Schönheit einer verdichteten Sagen- und Märchenwelt verlieren möchte, kurzum Literarizität in Reinstform zu schätzen weiß, ohne Thesen, Erklärungen, Positionen, Meinungen, der wird in Maria Borrélys Kurzroman „Mistral“ fündig werden. Ihre Sprache klingt nach. Die verwobenen Handlungsstränge des Romans verdichten sich zunehmend. In ihm ballt sich die ganze Essenz eines gelungenen, geglückten Schreibens und darauffolgenden Lesens und Verstehens.
Erich Kästner: „Emil und die Detektive“

Viel Action. Wenig Tiefgang. Ein munteres Kabinettstück.
Erich Kästner gelang 1928 eine Neuerung im Genre des Kinderromans. Er stellte die Kinder ins Zentrum und ließ die Welt der Erwachsenen nur am Rande zu. Emil und seine Freunde wissen sich selbst zu helfen. Sie sind nicht ratlos. Sie sind nicht ideenlos. Sie sind motiviert, hilfsbereit, spontan und voller Mut und Kameradschaftlichkeit. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Kinderbuch:
„Da hielt es Emil nicht länger aus und sprang aus dem Zug. Er schlug zwanzig Purzelbäume den Abhang hinunter, aber es schadete ihm nichts. Er stand auf und hielt nach dem Zug Umschau. Der stand still, und die neun Pferde drehten die Köpfe nach Emil um. Wachtmeister Jeschke war aufgesprungen, schlug die Tiere mit der Peitsche und brüllte: »Hü! Los! Hinter ihm her!« Und da sprangen die neun Pferde aus den Schienen, sprengten auf Emil zu, und die Wagen hüpften wie Gummibälle.“
Kästner bereitet es offensichtlich große Freude, Fünfe mal gerade sein zu lassen. Er fabuliert herum, lässt sich hier und da zu Anekdoten hinreißen, nimmt Abkürzungen, schwelgt in Traumphantasien und hält einen sehr losen Plot gerade so bei der Stange. Emil wird bestohlen und traut sich nicht unter die Augen seiner ihn liebenden Großmutter, bevor er das Geld wieder zurückerhalten hat. Schuld trägt ein Mann im Zug mit einem steifen Hut.
„Und dann waren er und der Herr mit dem steifen Hut allein. Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und verrückte Geschichten erzählt, ist nichts Genaues. Emil wollte, zur Abwechslung, wieder einmal nach dem Kuvert fassen. Er wagte es aber nicht, sondern ging, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, holte dort das Kuvert aus der Tasche, zählte das Geld – es stimmte immer noch – und war ratlos, was er machen sollte.“
Aufmerksam gelesen fällt das Kartenhaus der Erzählung schnell in sich zusammen. Die Liebe zwischen der Mutter und Emil scheint nicht sehr groß zu sein, wenn er sie in der Not seiner Verzweiflung nicht um Rat zu fragen vermag. Um Emils Vertrauen und Liebe zur vergötterten Großmutter scheint es auch nicht so weit bestellt sein, wenn er lieber in einer Abstellkammer übernachtet als bei seiner Familie und der fröhlichen Kusine Ponyhütchen. All dies spielt im Großen und Ganzen keine Rolle. Es geht um die Kinder, und die Kinder können die Welt verbessern, indem sie zusammenhalten, sich helfen, sich nicht streiten, sondern dem Unbill der Erwachsenwelt die Stirn bieten:
„Der Mann im steifen Hut trat gerade in die Hoteltür, stieg langsam die Treppe herunter und wandte sich nach rechts, der Kleiststraße zu. Der Professor, Emil und Gustav jagten ihre Eilboten zwischen den verschiedenen Kindertrupps hin und her. Und drei Minuten später war Herr Grundeis umzingelt. Er sah sich, höchlichst verwundert, nach allen Seiten um. Die Jungen unterhielten sich, lachten, knufften sich und hielten gleichen Schritt mit ihm. Manche starrten den Mann an, bis er verlegen wurde und wieder geradeaus guckte.“
Von Berlin oder Dresden kommt nicht viel im Text vor. Er ist geradeheraus narrativ, plotfokussiert geschrieben und eilt von einem Ereignis zum nächsten, bis der Übeltäter endlich überführt ist. Nur in kurzen Momenten lässt Erich Kästner etwas aus den 1920er Jahren aufblitzen, aber die Atmosphäre dieses Berlins schimmert nur sehr schwach zwischen den Zeilen durch. Bei „Pünktchen und Anton“ ergibt sich ein viel weitgefächertes Bild. Das Buch liest sich als Jux. Es liest sich nebenbei, aber wer es wie ich als Erlebnis in Erinnerung hat, liest es vielleicht besser nicht. Es wartet eher, ganz im Gegensatz zu „Pünktchen und Anton“ höchstwahrscheinlich mit einer Enttäuschung auf.
Albert Camus: „Der Mythos des Sisyphos“

Gefühlsgestimmte, assoziative Paradoxien über die Einsamkeit und die Flucht vor ihr.
Im Jahr 1942 erschien von Albert Camus sowohl sein Debütroman „Der Fremde“ wie auch sein bekanntestes theoretisches Werk „Der Mythos des Sisyphos“. Beide Texte handeln vom Absurden, dessen Begriff in dem als „Ein Versuch über das Absurde“ untertitelten Text über den antiken Held Sisyphos umreißt und durch welchen er, trotz seiner wiederholten Beteuerungen, er für die Öffentlichkeit zum Dunstkreis der Pariser Existenzialisten gezählt wurde. Im Gegensatz aber zu Philosophen wie Maurice Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre verfolgt Camus kein philosophisches Projekt. Es handelt sich eher um das Bekenntnis eines 29-jährigen Grüblers:
„Es kommt ein Tag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist. Damit beteuert er seine Jugend. Zugleich aber bestimmt er seine Situation, indem er sich in Beziehung zur Zeit setzt. Er nimmt in ihr seinen Platz ein. Er erkennt, daß er sich an einem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er – dazu bekennt er sich durchlaufen muß. Er gehört der Zeit, und mit jenem Grauen, das ihn dabei packt, erkennt er in ihr seinen schlimmsten Feind. Ein Morgen wünscht er sich, ein Morgen, während doch sein ganzes Selbst sich dem widersetzen sollte. Dieses Aufbegehren des Fleisches ist das Absurde.“
Camus steht kurz vor seinem dreißigsten Lebensjahr. Er leidet an einer schweren Lungenkrankheit. Sein Philosophiestudium bleibt unabgeschlossen. Seine Ehe geht in die Brüche. Sein politisches Engagement in Algerien findet ein jähes, irreversibles Ende. Camus steht vor den Trümmern seiner Existenz und starrt unvermittelt in das für ihn so bezeichnete Absurde. Es benennt die Ziel- und Sinnlosigkeit allen Unterfangens. Das Absurde erscheint, wenn die Welt jeder Konstruktion, jeder Sinnverleihung, jeder Ornamentalität beraubt wird. Es gibt kein höheres Ziel mehr. Es gibt keine Liebe. Es gibt keine Freundschaft. Es gibt keine Ideen:
„Mit diesem Augenblick tritt das Absurde, das so evident und gleichzeitig so schwer fassbar ist, ein in das Leben eines Menschen und wird dort heimisch. […] Er hat es verlernt zu hoffen. Endlich ist die Hölle des Gegenwärtigen sein Reich.“
Camus betrachtet die Welt in der unvermittelten, alles bloßlegenden Gegenwärtigkeit. Es ist ihm die Hölle. Es ist eine sinnlose, transzendenzlose Anhäufung von beliebigen Wechselwirkungen. Nichts bedeutet mehr irgendetwas. Alles ist leer. Selbst die Liebe hält nicht, was sie verspricht:
„Was Don Juan verwirklicht, ist eine Ethik der Quantität – im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. Nicht an den tiefen Sinn der Dinge glauben – das kennzeichnet den absurden Menschen. Diese warmen oder verzauberten Gesichter, er überfliegt sie, speichert sie und lässt sie in nichts aufgehen. Die Zeit geht mit ihm.“
Der das Absurde akzeptierende Mensch bleibt in der Gegenwart, genießt, sucht, genießt, sucht, setzt sich ein für nichts, aber er genießt und sucht weiter und rollt seinen Stein. In „Der Mythos des Sisyphos“ bekennt Camus, dass er an nichts mehr glaubt, dass ihm der Sinn unter den gierigen Händen seiner Jugend zerronnen ist. Was bleibt? Nichts. Camus kennt keine Logik, keine Kohärenz, keine Konsistenz. Sein Welt zersplittert in impressionistischen Gegenwartsmomenten. Der Text wandelt sich dem formalästhetisch an. Sätze folgen aufeinander, aber keine Sinnelemente. Verknüpfende Oberbegriffe lassen sich nicht finden.
„Der Mythos des Sisyphos“ liest sich rein assoziativ, rein gefühlsgestimmt. Genaues Lesen wird nicht erwartet und zerstört die Imago des anvisierten sinnentleerten Allumfassenden. Der Text gibt Zeugnis von einem Sich-Aufbegehren im Niemandsland der Hoffnungslosigkeit. Er überzeugt gerade da, wo er nicht argumentiert – und dies bezeichnet nur eines der vielen, sich häufenden, konfusierenden Begriffsparadoxien, die Albert Camus aufeinandersetzt, nur um alles sofort wieder niederzureißen.
Erich Kästner: „Fabian“

Hart und nüchtern ins Herz der Großstadt.
Erich Kästner beschreibt in „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“ ein Berlin der 1920er Jahre, das chaotisch, bunt, frivol, unübersichtlich geworden ist. Der Roman nimmt viele Züge des Surrealismus auf, indem er beispielsweise Traumsequenzen enthält. Auch Dada, die etwas aggressivere Form, findet ihren inhaltlichen Niederschlag, dort, wo Kästner Gewaltexzesse beschreibt, wie bei Arbeiterdemonstrationen. Formal jedoch repräsentiert er als literarischer Gegenentwurf zu Alfred Döblins zwei Jahre früher erschienenen „Berlin-Alexanderplatz“ einfachste Großstadtprosa, ungeschmückt und unverblümt:
„Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder Fenster noch Türen. Und der Himmel war weit entfernt und fremdartig wie über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende gehen.“
Lyrisch geht es in dem Roman „Fabian“ von 1931 nicht zu, der in einer anderen, um ein paar Stellen erweiterte Version seit 2013 auch „Der Gang vor die Hunde“ heißt. Der Protagonist heißt Jakob Fabian, arbeitet als Werbetexter, wird gefeuert, stromert durch die Stadt, verwickelt sich in Liebschaften, kehrt Berlin den Rücken und fährt zurück nach Hause, zu seinen Eltern und reflektiert über sein Leben als Pessimist und Moralist. Er sucht Sinn, findet aber keinen. Er will Verantwortung, aber keiner überträgt ihn welche. Er sucht Anschluss, aber verpasst alle Möglichkeiten.
„Der Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.“
Thematisch werden in dem Buch Kästners Untreue, Orgien, Geldnot und Eifersucht. Männer wie Frauen betrügen einander. Männer wie Frauen benutzen einander. Kästner protokolliert und subsumiert nüchtern, fast leidenschaftslos. Von sehr weit entfernt werden lose Handlungsfäden zusammen- und wieder voneinander weggeführt. Es ergibt sich eine Art Panoptikum, aber ohne Fluchtpunkt, ein wechselndes Stell-Dich-Ein zwischen den verschiedensten, nur sehr unscharf in Minimalsätzen konturierte Situationen.
Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.
Was in „Pünktchen und Anton“ durch die Hauptfiguren gelingt, der empathische Blick, die beschriebene, unwahrscheinliche Freundschaft, die Hoffnung und die Fröhlichkeit, der springende, schnüffelnde Hund Piefke, bleibt im „Fabian“ grau, konstruiert und Teil einer deutlich herausgearbeiteten Fabel. Glänzt und schillert Kästners Berlin in seinen Kinderbüchern, so entleert sich in seinem Roman für Moralisten zunehmend der Plot, bis er durch sein Ende gänzlich zur Lektion gerinnt. Das Ende kommt so unvorbereitet, wie das Schicksal seines besten Freundes, oder die berufliche und beziehungstechnische Entscheidung Cornelias. Auf seine Weise wirkt „Fabian“ über weite Strecken deshalb wie ein Drehbuch, wie eine spröde Skizze, die es noch auszugestalten gelte, aber vielleicht erklärt diese Freiheit, diese Offenheit, diese Zugänglichkeit auch gerade den lang anhaltenden Erfolg des Romanes.
Erich Kästner: „Pünktchen und Anton“

Ein Buch über eine Freundschaft, das ein Leben lang hält, was es und sie verspricht.
Die Moral der Geschichte von Erich Kästners Roman „Pünktchen und Anton“, der 1931, zwei Jahre nach seinem großen Publikumserfolg und Bestseller Emil und die Detektive, herauskam, gibt er selbst am Ende zum Besten, wenn er sagt:
Seid nicht allzu verwundert, wenn euch das Leben einmal bestraft, obwohl andere die Schuld tragen. Seht zu, wenn ihr groß seid, dass es dann besser wird! Uns ist es nicht ganz gelungen. Werdet anständiger; ehrlicher, gerechter und vernünftiger, als die meisten von uns waren!
Die Erde soll früher einmal ein Paradies gewesen sein. Möglich ist alles.
Die Erde könnte wieder ein Paradies werden. Alles ist möglich.
Dass sich der Autor nach jedem der sechzehn Kapitel selbst zu Wort meldet, jedem Kapitel einen moralischen Hintergrund beimischt, trägt nicht dazu bei, aus „Pünktchen und Anton“ mehr als eine Fabel werden zu lassen. Es reißt aus dem Lesegeschehen heraus, und der mitunter süffisante, etwas überhebliche und frank und frei wertende Ton Kästners, verhindert so das immersive Versinken in die Großstadtwelt von Pünktchen und Anton, das der Erzählstil an anderen, sehr literarischen Stellen doch klar anstrebt:
Autobusse rollen in Kolonnen über den Brückenbogen. Im Hintergründe erhebt sich der Bahnhof Friedrichstraße. Hochbahnen fahren über die Stadt hin, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und die Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Manchmal ist der Himmel rosa vom Widerschein des vielen Lichts, das unter ihm strahlt.
Dass die Welt von Pünktchen und Anton dennoch hält, was sie verspricht, gelingt über die sehr einprägsamen Figuren, von Pünktchen und Anton angefangen, bis zur Dicken Berta, der Mutter Antons und Pünktchen Vater. Sie agieren kohärent, klar, und vernetzen das Handlungsgeschehen als kommunikative Struktur ohne Widersprüche und Inkonsistenzen. Eine, ihre Welt, kommt zur Sprache, und diese, ihre Welt, verdichtet sich in kleinen Szenen:
»Meine Tochter sieht blass aus«, sagte Herr Pogge besorgt. »Finden Sie nicht auch?«
»Nein«, erwiderte Fräulein Andacht. Dann brachte Berta die Suppe und lachte. Fräulein Andacht schielte zu dem Dienstmädchen hinüber. »Was lachen Sie denn so dämlich?«, fragte der Hausherr und löffelte, als kriege er es bezahlt. Aber plötzlich ließ er den Löffel mitten in die Suppe fallen, presste die Serviette vor den Mund, verschluckte sich, hustete entsetzlich und zeigte zur Tür.
Dort stand Pünktchen. Aber, du grüne Neune, wie sah sie aus!
Pünktchen, ein widerborstiges Mädchen, Anton, ein hilfsbereiter Junge, Herr Pogge als fürsorglicher, aber überforderter Vater und die Dicke Berta als freundlicher Anker und Garant für Stabilität für Freund und Familie. Und dazwischen, immer wieder, in kurzen, feinen Strichen Pünktchens Dackel Piefke, der treu und lebensfroh, stets dabei, den Ernst der Situation wohlfeil unterbricht:
Piefke war auf einen leeren Stuhl geklettert, stützte die Vorderpfoten auf den Tisch und gab stirnrunzelnd Obacht, dass alle ihre Suppe aßen. Es sah aus, als wolle er eine Rede halten. Berta brachte Huhn mit Reis und gab Piefke einen Klaps. Der Dackel verstand das falsch und kroch völlig auf den Tisch.
Das Geheimnis, der Plot, die Freundschaft zwischen Pünktchen und Anton überzeugen, reißen mit und erschaffen diese staubige, dunkle, etwas undurchsichtige Welt Berlins der 1920er Jahre. Eine Atmosphäre der Verunsicherung, der Hoffnung, der Angst, aber auch Zuversicht leuchtet zwischen den Zeilen hindurch, der Zuversicht, alles könnte sich doch zum Besseren wenden. Kästners herablassende Kommentare stören da eher, als dass sie helfen. Es erscheint beinahe, als hätte er sie als Lückenfüller hinzugefügt, um den Text, der äußerst verdichtet erzählt, etwas zu strecken. Wer sie nicht liest, verpasst nichts. Ein Buch über eine Freundschaft, das ein Leben lang hält, was es und sie verspricht.
Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“

Eine Schmonzette, aber eine gute. Kurzweilig und rührselig.
Es gibt eine Form der Belletristik, die nichts als Trauerverarbeitung sein will. Sie ist sentimental. Sie ist kitschig. Sie ist voller Phrasen und Plattitüden, voller Banalitäten und rührseligen Anekdoten. Sie lebt von der Beständigkeit ihrer Figuren, den unerschütterlichen Glauben an das eigene und das Glück der nächststehenden Menschen, von Bekannten, Freunden und an das aller anderen. Bücher wie „Das Café ohne Namen“ von Robert Seethaler sind schlicht und ergreifend Rührstücke:
„Manchmal dachte er an den Anfang zurück, an den Fliegenschwarm, der sich wie ein schwarzer Schleier hinter dem Tresen erhoben hatte, an den Geruch der frisch geschliffenen Dielen und der Dämpfe, die ihm beim Streichen der Möbel die Sinne vernebelt hatten. Er dachte an den Tag, an dem Mila aufgetaucht war, an den ersten Winter mit Punsch und an seine weißen Finger, die von einem Feuerwehrmann zwischen zerfetzten Metallteilen gefunden, in ein Taschentuch gewickelt und mit Blaulicht ins Spital gefahren worden waren.“
„Das Café ohne Namen“ wird von Robert Simon geführt, der es im Nachkriegswien der 1960er Jahre wieder auf Vordermann bringt, in welchem Dramen, Liebeleien, in welchem es Gezänk, Streitereien zuhauf gibt. Zu seinem Glück findet sich Mila Szabica ein, die nach Wien zog, um dort in einer Feintextilfabrik als Hilfsnäherin zu arbeiten, die aber bald schon schließen und Mila entlassen muss. Mit Mila als Bedienung gehen zehn Jahre ins Land. Alles ändert sich rundum den Karmelitermarkt. Die Zeit geht auch an Robert nicht spurlos vorüber.
„Wenn er den Blicken mancher Frauen glauben durfte, hatte er sich ganz gut gehalten, doch er war müde. Er hatte bemerkt, wie sehr er die Dienstage brauchte, um sich auszuruhen, und seit einigen Monaten war der Verdacht in ihm gereift, dass ein freier Tag pro Woche bald nicht mehr ausreichen würde. Seine Knöchel schmerzten. Morgens kam er kaum aus dem Bett vor lauter Steifheit in den Gelenken, und jedes Mal, wenn er sich unter den Tresen bückte, gab es ihm einen Stich, als hätte ihm jemand einen Dolch ins Kreuz gestoßen. Es ist gut, wie es ist, dachte er, man soll die Dinge zu Ende bringen, solange man noch Kraft hat, etwas Neues zu beginnen.“
Seethalers Prosa bleibt schlicht. Sie handelt von schlichten Dingen. Sie handelt von einfach Ängsten, kleinen Vergnügungen, von Menschen, die sich gegenseitig nicht kennen, auf den Straßen unbekannt aneinander vorübergehen, doch sehr viele Nöte und Hoffnungen teilen. In „Das Café ohne Namen“ kommen sie zusammen, atmen kurz durch, bevor es weitergeht und sich wieder in alle vier Winde zerstreuen. Romane wie „Das Café ohne Namen“ erzählen schnell, geradeheraus ohne formalästhetischen Anspruch, auch wenn hier und da Ähnlichkeiten zu Alfred Döblins „Berlin – Alexanderplatz“ aufblitzen. Ihre Figuren leben durch die Sentimentalität, die ihnen der Autor zweifellos und nachdrücklich entgegenbringt. Er will ihnen nichts Böses. Er will ihnen nur Gutes.
„Das Café ohne Namen“ ist Trivialliteratur auf dem höchsten Niveau, die nichts anders sein will, die wie Jack London zu rühren und zu unterhalten versteht und der sogar, so einem der Sinn danach steht, es spielend gelingt, einem die Vergeblichkeit und Endlichkeit aller Dinge vor Augen zu führen. Eine Schmonzette, aber eine gute. Wer jedoch Bücher wie „Stay away from Gretchen“ einer Susanne Abel, oder „Der Markisenmann“ eines Jan Weiler, „Kummer aller Art“ einer Marianne Leky oder „Zur See“ einer Dörte Hansen nichts abgewinnen kann, wird auch mit Seethalers „Das Café ohne Namen“ nicht glücklich werden können. Den anderen bietet es kurzweiliges Lesevergnügen.
Philip Roth: „Der menschliche Makel“

Durchschaubares Pamphlet mit literarisch-sprachlich intensiven Passagen.
Die akademischen, universitären, die feuilletonistischen und journalistischen Welten folgen eigenen, selbstreferenziellen Gesetzen. Philip Roth setzt sich mit diesen in seinem Roman „Der menschliche Makel“ auseinander und lässt von einem alternden Schriftsteller namens Nathan Zuckerman die Lebensgeschichte eines in Unehre gefallenen Professors für klassische Literatur rekonstruieren:
„Woher ich weiß, dass [Faunia] es wusste? Ich weiß es nicht. Ich konnte es nicht wissen. Ich kann es auch heute nicht wissen. Jetzt, da [Faunia und Coleman] tot sind, kann niemand es wissen. Und wie auch immer: Ich kann nur tun, was jeder tut, der zu wissen glaubt. Ich stelle mir etwas vor. Ich bin gezwungen, mir etwas vorzustellen. Das ist zufällig das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist mein Beruf. Ich tue jetzt nichts anderes mehr.“
Die Prosa, die Roth in seinem Roman bemüht, gleicht einer dicken altertümlichen Perlenkette. Er reiht Szenen einer Erzählgegenwart aneinander, die nur äußerst lose durch den roten Faden einer an den Haaren herbeigezogenen Idee verbunden sind, die aber zu nennen den Hergang und Plot des Buches spoilern würde und daher im Folgenden nicht weiter Erwähnung findet. Die Erzählweise von „Der menschliche Makel“ orientiert sich unverblümt am Stil einer Klatsch- und Sensationspresse, die ihr Publikum mit Tabubrüchen und Unschicklichkeiten bei der Stange zu halten versucht:
„Aber sieh mich jetzt nicht so an, als würde ich noch für etwas anderes als das hier taugen. Für mehr als das hier. Bleib hier bei mir. Geh nicht weg. Bleib bei dieser Sache. Denk an nichts anderes. Bleib hier bei mir. Ich werde tun, was du willst. Wie oft hat dir eine Frau das gesagt und es wirklich ernst gemeint? Ich werde alles tun, was du willst. Mach’s nicht kaputt.“
Szenen geheimer Lüste und endlich entblößter, lang unterdrückter Phantasien, Befreiungsschläge eines auf ausuferndem Freiheitsgefühl basierenden Begehrens und einer über alle Schranken entlassenen Gier nach Anerkennung prägt den Ton von Roths Schreiben, jedoch im Schafspelz einer aufs Äußerste in sich gebrochenen Prosa, der in einem fort Unverhältnismäßigkeiten in Beschreibungen und szenischen Gestaltungen unterlaufen. Aufzählungen, bandwurmartige Ausführungen verlieren sich im Nirgendwo eines oft nicht einmal ansatzweise überzeugenden Vergleichs oder einer irreführenden, nichtssagenden Metapher:
„Die konstituierte Gesellschaft – die in ständiger Bewegung begriffenen Kräfte, das verzweigte, bis an die Grenzen der Belastbarkeit gedehnte Geflecht der Interessen, der unablässige Kampf um Vorteile, die unablässige Unterdrückung, die eigennützigen Konflikte und Absprachen, der abgefeimte Jargon der Sittlichkeit, der wohlmeinende Despotismus der Konventionen, die labile Illusion der Stabilität -, die Gesellschaft, wie sie geformt wird, wie sie immer schon geformt wurde und geformt werden muss, war [Iris Eltern] so fremd wie König Arthurs Hof einem Yankee aus Connecticut.“
Wer Mark Twains Roman „Ein Yankee am Hofe des König Artus“ nicht kennt, dem wird der Vergleich nichts sagen. Wer den Roman kennt, wird aber auch nicht wissen, auf welche Gefühlswallungen von Hank Morgan sich der Ich-Erzähler von Roth genau bezieht, zumal der Yankee von Twain als ein äußerst selbstbewusster und hemdsärmeliger Haudegen beschrieben wird, der mit den verschreckten Eltern von Iris so gar nichts gemein hat. Das Beispiel zeigt eine Crux von Roths Prosa, die alles zu sehr in die Länge zieht und sich von einer „klugen“ Idee zur nächsten mittels mehr schlecht als recht herangezogenen Vergleichen zu hangeln versucht. Die aberwitzige Szene von Vietnamveteranen in einem asiatischen Restaurant im Kapitel „Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht?“ kann diesbezüglich als Tiefpunkt betrachtet werden.
Nur in den stark an William Faulkner erinnernden monologistischen Passagen der Figuren beginnt Intensität zu leuchten. Hier verdichtet sich Roths Sprache und entfaltet eine Dynamik, die den beschriebenen Figuren unmissverständliche Lebendigkeit und Einzigartigkeit einhaucht. Szenen dieser Art bleiben aber für sich und finden keinen wirklich überzeugenden Zusammenhang im Romanganzen. Was bleibt, ist eine teils sehr gewollte, hochmanieriert konstruiert geschriebene Fabel über diverser Ungerechtigkeiten, die sich ungerechte Menschen gegenseitig zufügen. Einem Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Schuld und Sühne oder William Faulkner in Als ich in Sterben lag gelingt dies ohne ins Leere laufende Zeitkritik. Wer jedoch bereits alles von diesen Schriftstellern gelesen hat, mag in Philip Roths Roman Trost über die Endlichkeit ihres Gesamtwerkes finden.
James Baldwin: „Giovannis Zimmer“

Äußerst verdichtete Beschreibung einer misslungenen Selbstflucht.
Aufs äußerste verdichtet berichtet David, der Ich-Erzähler und Protagonist in James Baldwins zweiten, 1956 erschienen Roman „Giovannis Zimmer“, von seinen Erlebnissen in Frankreich der 1950er Jahre. Es geht vordergründig um Davids uneingestandene Homosexualität, sein Coming-Out, das Scheitern seiner Verlobung mit Hella. Beide, David und Hella, fliehen vor sich. Hella will ihrem Kleinbürgertum und dem Hausfrau-Dasein ihrer Mutter entkommen, findet aber auf sich allein in Paris gestellt nur Talentlosigkeit vor. David will seine Homosexualität nicht wahrhaben und stürzt sich Liebschaften, endet aber in den Armen eines italienischen Barmannes namens Giovanni:
„Und plötzlich wurde mir klar, wie fantastisch ein so kindisches Benehmen in meinem Alter war und wie viel fantastischer noch das Glück, dem es entsprang, denn in diesem Augenblick liebte ich Giovanni wirklich. Nie war er mir so schön erschienen wie an jenem Nachmittag. Als ich sein Gesicht betrachtete, erkannte ich, dass es mir viel bedeutete, dieses Gesicht so heiter machen zu können, und dass ich viel darum geben würde, diese Kraft nicht zu verlieren. Ich fühlte mich zu ihm hinströmen wie ein vom Eis befreiter Fluss.“
Der äußerst streng komponierte, knapp gehaltene, kaum über 200 Seiten reichende Roman spielt aber nur vordergründig auf der Klaviatur diverser vermeintlich gefährlicher Liebschaften. Vielmehr reflektiert Baldwins Sprache und Stil auf Zeit und zeichnet den Erlebnisstrom Davids als von kurzen, prägenden, sich zeitlich fortpflanzenden, ausbreitenden, das ganze Leben färbenden und in Beschlag nehmenden Augenblicke nach. Auf diese Augenblicke kehrt der Ich-Erzähler in Flash-Back-Manier immer wieder zurück. Er versucht ihnen das Geheimnis abzutrotzen, dem inneren Mythos in die Augen zu sehen:
„Ein Zittern durchlief mich, wie der Beginn eines Erdbebens, und eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, in seinen Augen zu ertrinken. Sein Körper, der mir so vertraut geworden war, schimmerte in dem Licht, elektrisierte und verdichtete die Luft zwischen uns. Dann sprang etwas in meinem Gehirn auf, eine geheime Tür öffnete sich lautlos, und ich erschrak: Unvermutet war mir der Gedanke gekommen, dass ich, indem ich vor seinem Körper floh, die Macht seines Körpers über mich bestätigte und verewigte.“
James Baldwin gelingt auf schlafwandlerische Art und Weise eine Erzählung zu komponieren, die nirgendwo an Intensität verliert, die in jedem Satz neue Verbindungen knüpft und ein Geheimnis auf das andere setzt, ohne je an Deutlichkeit und Klarheit zu verlieren. David hat Angst, vor sich, vor der Welt, vor der eigenen Lust. Er hat Angst vor Entscheidungen, vor Verantwortung. Er lügt. Er betrügt, und doch schaut er sich ununterbrochen über die Schulter, verzweifelt, geschwächt, unfähig den Gang der Dinge aufzuhalten.
„Wenn der Morgen graut, bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts ändern. Nach Paris werde ich auf jeden Fall fahren. Der Zug wird der Gleiche sein, die Menschen, die auf den harten Holzbänken der dritten Klasse Bequemlichkeit und Würde miteinander zu vereinen suchen, werden die Gleichen sein, und ich werde der Gleiche sein. Wir werden durch dieselben ländlichen Gegenden nach Norden fahren, fort von den Olivenbäumen, dem Meer und der Pracht des sturmzerzausten südlichen Himmels, mitten hinein in den Dunst und Regen von Paris.“
James Baldwin dichtet mit Giovannis Zimmer eine moderne Form der griechisch-mythologischen Ananke, des unpersönlichen, gleichsam sich automatisch über den Köpfen der Beteiligten vollstreckenden Schicksals. Dies gelingt durch einen Protagonisten, der sich in einer Art Starre seinem eigenen Selbst gegenüber befindet, einer Passivität, die nur von außen gelenkt, getrieben, in Bewegung versetzt werden kann, der sich also weigert, sein Leben in die Hand zu nehmen und auf einen Akt der Gnade hofft, dabei aber das Leben und die Gefühle seiner Mitmenschen in Mitleidenschaft zieht.
In seiner knappen Diktion vergleichbar mit Truman Capotes Kaltblütig oder auch Franz Kafkas Der Process.
Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Eine gerettete Zunge, wild und widerständig, auf der Suche nach sich.
Dass das Fremde ein Allgegenwärtiges sein kann, dass vielleicht das Nächste das Unbekannteste ist, dass im Alltäglichen Schätze ruhen und Mysterien weiterbestehen, davon berichtet Dinçer Güçyeter in seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet worden ist. Er steht im Zusammenhang mit Fatma Aydemirs „Dschinns“ und lässt sich als Gegenentwurf zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ lesen. Wie in Aydemirs Roman geht es um eine türkische Familie, die in Deutschland lebt; wie in „Blutbuch“ geht es um den Versuch, eine ganz eigene Sprache und Selbstbestimmung zu finden. Im Gegensatz zu beiden steht aber ganz klar die Liebe zur Mutter im Vordergrund:
„Ich wollte dich verstehen, ich wollte dir näherkommen und fiel dabei immer tiefer in den Brunnen, so tief, dass manchmal kein Lichtstreifen mehr zu sehen war. Dich wollte ich entlasten, nun spüre ich eine Fracht in mir, die unmöglich zu tragen ist. Darüber zu schreiben, versetzt mich in Scham, aber ich muss darüber schreiben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr.“
Es handelt sich bei „Unser Deutschlandmärchen“ um keinen gewöhnlichen Roman. Güçyeter fährt viele Stilmittel auf. Sein Weg führte von der Dichtung zur Prosa, und dies lässt sich an der freien Gestaltung, Setzung und Rhythmik wie Melodik des Romanes erkennen. Gedichte unterbrechen den Handlungs- oder Reflexionsverlauf. Drehbuchartige Dialogsequenzen lockern die festgefahrenen kommunikativen Verhältnisse. Dazwischen illustrieren Photographien die handelnden, berichtenden Figuren und erhalten so blitzlichthaft intensive Lebendigkeit. Es gibt sie wirklich. Güçyeter inszeniert Authentizität eindrücklich:
„Fatma ist mein Name. Ich bin die Tochter von Hanife und von Osman Bey. Ich war erst zehn Jahre alt, da haben wildfremde Männer seine Leiche in den Hof getragen. Ich war das liebste Kind meines Vaters, und er, er war meine Schutzmauer. Er brachte jeden Freitag Forellen mit, jeder bekam eine, ich durfte zwei essen … Dann war er tot.“
Die Reise von Fatma von der ländlichen Türkei in die Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit beschäftigt ihren Sohn, Dinçer, der ihre Berichte kompiliert. Die Lebensgeschichte wird zu einem Sesam-Öffne-Dich und Sesam-Verschließ-Dich. Er schafft es nicht, ihre Härte und Strenge im Zusammenklang mit ihrer Toleranz und Ergebenheit zu verstehen. Alles spricht gegen sie, aber sie kämpft sich durch, arbeitet ein Leben lang, während ihr Ehemann alles verspielt, vertrinkt, verschenkt. Sie zieht zwei Söhne auf. Dinçer ist einer von ihnen. Er muss sich von ihrer Entsagung und Aufopferung freischreiben, ohne jedoch die Entsagung und Aufopferung, die sie ihr ganzes Leben lang geleistet hat, zu verraten:
„Hier ist es so, hier glüht die jahrhundertealte Bescheidenheit des Frauseins, hier wird sie zur Asche, zum Staub. Es kommt der Tag, da erwacht der Drache aus seinem Schlaf, breitet die Flügel aus, sucht nach einem unbewohnten Himmel. Er schöpft neue Geschichten aus seinen wunden Stellen, Geschichten, wie du, wie ich. Nur die Geschichte kann die Wahrheit sein, nur sie kann diesen Eisberg zersprengen. Fatma, ich gehe auf eine neue Reise, in eine andere Gegenwart, pass auf dich auf.“
Dinçer Güçyeters Roman „Unser Deutschlandmärchen“ gehorcht einer ganz eigenwilligen Ästhetik des Widerstandes. Er verurteilt nicht. Er erklärt nicht. Er distanziert nichts und niemanden. Sein Stil kämpft um Individualität, um Singularität. Sein Schreiben gleicht mehr einem Gesang, einem Rezitativ tief hinein in eine hallende, widerspenstige Nacht, gegen Unbill und Ignoranz gewappnet und gewandt. In diesem Sinne vermittelt sich Wut und Angst in literarische Wucht, die über Aydemirs „Dschinns“ hinaus nachhallt. Güçyeters Entwürfe besitzen etwas Wildes, Rohes, Ungekünsteltes, das inmitten von Schmutz, Staub, Blut und Dreck nach Edlem, Wahrem, Beständigem sucht.
Er stellt sich in die Tradition eines Charles Baudelaire aus „Die Blumen des Bösen“ und Octavio Paz „In mir der Baum“, aber auch in die eines James Baldwin aus „Giovannis Zimmer“ und Ralph Ellison aus „Der unsichtbare Mann“, aber mit eigener, ganz unverstellter Pose.
Eugen Ruge: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“

Eine im jovialen Ton verfasste Ohrensessellektüre für zwischendurch.
Eugen Ruges neuester Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ sticht aus der Reihe der Neuerscheinungen deutlich heraus. Weder nimmt er Stellung zu den breitdiskutierten Themen der Gegenwart noch bemüht er ein autofiktionales Setting zur Traumabewältigung. Die digitale Welt spielt keine Rolle. Von E-Mails, SMS, von sozialen Medien keine Spur. Wie auch? Der Roman behandelt die letzten Monate vor dem Untergang Pompejis:
„Ungefähr neun, vielleicht auch zwölf Stunden nach Josses letzter Rede sackte die überschwer gewordene Wolke aus Asche und Feuer in sich zusammen und stürzte mit einer Geschwindigkeit eines Armbrustpfeils in das Tal, ergoss sich über die Stadt, überstieg Mauern, drückte Türen ein, strömte durch Ritzen und Fenster. Vielleicht hat Josse noch gespürt, wie seine Lungen verglühten.“
Josse oder Jowna oder Josephus lebt vor sich hin. Er leidet an der Armut seiner Familie. Er leidet an der Bedeutungslosigkeit seines familiären Hintergrundes. Er leidet an seinem ausbleibenden Erfolg bei den Frauen, und, während er so vor sich hin leidet, seine Mutter mit seiner maßlosen Faulheit enttäuscht, also das Leben eines richtiggehenden Nichtsnutz führt, wird seine Heimatstadt, Pompeji, von einem die halbe Stadt zerstörenden Erdbeben heimgesucht. Von Schule, Bildung, Struktur und Normalität befreit, beginnt für Josse eine Epoche paradiesischer Verwahrlosung, bis er zufällig einem Vortrag über Vulkanismus beiwohnt, der die kurz bevorstehende Apokalypse verkündet. Josse selbst beschließt die Versammlung mit der ersten seiner fünf im Roman aufgeführten Reden:
„Wenn man das hier ansieht, zusammenfassend, kann man wohl nur, als Außenstehender, eine Schlussfolgerung ziehen, und das wäre, dass uns, den … äh … somit Betroffenen, da der Berg sich kaum von der Stelle bewegen wird, wohl kaum etwas anderes übrig bleibt, als uns selbst von der Stelle zu bewegen.“
Wie nun dieser wenig rhetorisch begabte und völlig mittelose Faulenzer es dazu bringt, für das Amt des Stadtoberhauptes zu kandidieren, davon handelt Ruges klassisch erzählter Roman. Die Erzählinstanz bleibt im Anonymen. Sie geben die Schriften als Warnung heraus, auf dass spätere Generationen von den Fehlern der früheren lernen. Sie berichtet distanziert, lakonisch, souverän über die Ereignisse, ohne Mitleid, ohne Intensität oder irgendwie gearteter Verzweiflung. Sehr in der Art von Michel de Montaigne aus seinen „Essais“, voller Stoizismus, bleibt der Erzählstil Ruges anekdotisch, fast aphoristisch, antik-attisch heiter, als hätte ihm Diogenes von Sinope, der Philosoph in der Tonne, die Feder geführt:
Seit seinem Weggang vom Fenster des Meeres hatte er die Vulkantheorie attackiert und sich über Josses Gerede vom Feuergott lustig gemacht. Er war Materialist. Lieber glaubte er an das Ende der Welt, wie es Lukrez vor hundertfünfzig Jahren prophezeit hatte. Die mächtigen Mauern des Weltenrunds – hieß es so bei Lukrez? – erliegen dem Sturm und zerfallen in Schutt und Asche. Die kurze Zeit, die ihm noch verblieb, verbrachte er damit, jenen Lukrez’schen Satz vor sich hin zu sprechen, der immer sein Lieblingssatz gewesen war: Der Tod geht uns nichts an. Er starb, von Bimsstein bedeckt, sitzend.
Ungewöhnlich für die Gegenwartsliteratur schreibt Ruge lange Sätze mit vielen Adjektiven, vielen Wendungen und handverlesenen Verben. Flüssig und stets auf Unterhaltsamkeit bedacht erinnert „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ an ähnlich geartete Romane Ingomar von Kieseritzkys wie „Die ungeheuerliche Ohrfeige“ oder Luciano De Crescenzo „Die Vorsokratiker“ oder „Bellavista und die Liebe“. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Ohrensessellektüre, die weder schmerzt noch belehrt, die einfach nur amüsieren und müßige Zeit vertreiben soll. Alles andere in diesen Roman hineinzuinterpretieren, wird dem bis aufs äußerste gesteigerten jovialen Ton und Schreibstil nicht gerecht.
Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“

Hoffnungsloses Zeitporträt, nüchtern und trist konsequent wegerzählt.
Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…
1963 erschien Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ und löste eine heftige Reaktion im deutschen Feuilleton aus. Sein Roman steht in der Tradition der engagierten Literatur, die direkt in zeitgenössischen Diskussionen einzugreifen versucht. Romane neueren Datums sind beispielsweise Benjamin von Stuckrad-Barre „Noch wach?“ in Bezug auf die #MeToo-Bewegung oder Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“, in welchem es hauptsächlich um body positivity geht. Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ stammt aus einer Zeit, in der die Wertefrage mehr in Richtung Familienwerte und Religionszugehörigkeit gestellt worden ist:
„»Lassen Sie doch diesen Unsinn, Schnier. Was haben Sie nur?«
»Katholiken machen mich nervös«, sagte ich, »weil sie unfair sind.«
»Und Protestanten?« fragte er lachend.
»Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.«
»Und Atheisten?« Er lachte noch immer.
»Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.«
»Und was sind Sie eigentlich?«
»Ich bin ein Clown«, sagte ich, »im Augenblick besser als mein Ruf.«“
Der Ich-Erzähler, Hans Schnier, der Clown als seine Konfession bezeichnet, arbeitet als Alleinunterhalter auf den Bühnen verschiedenster Institutionen und wird von seiner Lebenspartnerin Marie Derkum für einen Katholiken namens Heribert Züpfner, ein hohes Tier im Dachverband katholischer Laien, verlassen. Er leidet stark darunter, beginnt zu trinken und gerät in Geldnot. Der Roman beginnt damit, dass Hans absichtlich während einer Vorstellung ausrutscht, aufs Knie fällt und so das Ende einer Tournee erzwingt, die ihm von Bonn, seinem Zuhause, also auch von Marie fernhält, die dort mit Züpfner ein neues Leben zu beginnen versucht.
„Ich warf noch einen Blick über die Dächer der Universität hinweg auf die Bäume im Hofgarten: da hinten zwischen Bonn und Godesberg auf den Hängen würde Marie wohnen. Gut. Es war besser, in ihrer Nähe zu sein. Es wäre zu leicht für sie, wenn sie denken konnte, ich wäre dauernd unterwegs. Sie sollte immer damit rechnen, mir zu begegnen, und jedesmal schamrot werden, wenn ihr einfiel, wie unzüchtig und ehebrecherisch ihr Leben verlief […]“
Ein freundlicher Zeitgenosse ist Hans Schnier nicht. Seinen Eltern wirft er vor, ihn wegen übermäßiger Gesundheitsvorstellungen hungern gelassen zu haben; Marie und seinem Bruder Leon wirft er vor, zum Katholizismus übergelaufen zu sein; seinem Jugendfreund hält er die Parteikarriere innerhalb der SPD vor; der Geliebten seines Vaters wirft er vor, geizig zu sein; seinen Agenten beschuldigt er, ihn beschwindelt zu haben. Er bleibt dennoch in Bonn, obwohl er es offenkundig nicht mag:
Sie lächeln alle so verquält ironisch über Bonn. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn eine Frau, deren Reiz ihre Schläfrigkeit ist, anfinge, plötzlich wie eine Wilde Can-Can zu tanzen, so könnte man nur annehmen, daß sie gedopt wäre – aber eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt ihnen nicht. Eine gute alte Tante kann einem beibringen, wie man Pullover strickt, Deckchen häkelt und Sherry serviert – ich würde doch nicht von ihr erwarten, daß sie mir einen zweistündigen geistreichen und verständnisvollen Vortrag über Homosexualität hält oder plötzlich in den Nutten-Jargon verfällt, den alle in Bonn so schmerzlich vermissen.
Heinrich Böll fängt in seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ eine unheimliche Stimmung ein, die zwischen Ausweglosigkeit, Rachsucht und Selbstzerstörung einer noch jungen Bundesrepublik schwankt. Sein Roman hat viel Ähnlichkeit zu Christoph Heins „Der Tangospieler“, Wolfgang Hildesheimer „Nachtstück“, Eugène Ionesco „Der Einzelgänger“ und Jack Londons „Martin Eden“. In all diesen Büchern spielt Armut, Isolation, Einsamkeit eine große Rolle, also Figuren, die sich aggressiv aus verschiedenen Motiven heraus von ihren Mitmenschen entfremden. Diese Tristesse schwingt in Bölls nüchterner Schreibweise mit. Er beschreibt und schreibt in einer Welt, in der Schönheit und Hoffnung ein Fremdwort geworden ist.
Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Außer Spesen nichts gewesen. Ein didaktischer Hip-Hop-Roman.
Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…
Stuckrad-Barres Titel von seinem neuen Roman „Noch wach?“ versteht sich nach dem Lesen als mehrdimensionales, in sich verspiegeltes Versteckspiel. „Noch wach?“ bezieht sich auf den englischen Begriff „woke“, aber auch auf die Kurznachrichten eines Chefredakteurs, die er seinen Mitarbeiterinnen tief in der Nacht schickt in der Hoffnung, dass sich noch ein Treffen zwischen ihnen ergibt. In äußerster Verdichtung mischen sich kommunikative Formen der Läuterungs- und Nötigungsversuche der Moderne. Stuckrad-Barres Text stellt die Frage, ob sich das Publikum diesseits oder jenseits von „woke“, diesseits oder jenseits von #MeToo, diesseits oder jenseits von sexueller Belästigung und Machtmissbrauch befindet:
„Arbeitsrechtlich ist das ein scheiß Minenfeld. Aber ich meine, ganz unter uns gesagt: Was willst du von dem Drecksblatt auch anderes erwarten? Mein Freund schaute angewidert und bat mich, ihm abermals den Post des früheren BILD-Chefredakteurs zu zeigen, das frühmorgendliche Foto vom See, samt der irgendwie spät(sehr spät)pubertär-stolzen Meldung, dass er NOCH wach sei.“
Der Plot wird aus der Sicht eines zwischen Hollywood und Berlin hin und her pendelnden Schriftstellers erzählt. Mal liegt er wie ein Honigkuchenpferd in Los Angeles Smartphone wischend am Pool. Mal stapft er wie ein begossener Pudel mit kreisenden Gedanken durch das regennassverschneite winterliche Berlin. Schlau wird er aus dem ganzen nicht. Als enger Freund des Chefs des Chefredakteurs gerät er als Vertrauensmann der Mitarbeiterinnen zwischen die Räder. Ob die Freundschaft zwischen dem Chef und ihm hält, darin besteht die Handlung.
Aber einen Rat geben, das schon, natürlich. Das tat er umgekehrt ja auch oft. Seit wir Freunde waren, taten wir das, einander beraten, in egalwelchen Angelegenheiten, und Freunde waren wir schon viele Jahre lang. Plötzlich hatte ich eine komische Überblendung im Kopf, das war jetzt entweder ein Schlaganfall oder – ah, nein, es war die Vergangenheit. […] Szenen einer Freundschaft, nein, Freundschaft fasste es nicht, es waren – Szenen einer Liebe.
Durch das wiederholende „mein Freund“ verdichtet sich die Erzählung und bekommt dadurch eine gewisse Emphase und Dringlichkeit. Eine Freundschaft steht hier auf dem Spiel wie nicht selten durch eine heraufziehende Entscheidung zwischen Privatleben und Beruf, denn der vom Freund des Ich-Erzählers geschützte Chefredakteur vermischt diese, indem er seine weiblichen Angestellten verführt, sexuell belästigt, ausnutzt, nötigt und dann für die nächste fallen lässt.
Was sich auf dem ersten Blick wie ein Michael Crichton oder John Grisham Roman ausnimmt, ist es auf dem zweiten ganz und gar nicht. Stuckrad-Barre schwadroniert. Er komponiert einen Neologismus an den anderen, spielt mit Andeutungen, Unwissenheiten, mit Name-Dropping und Kalauern. Auf diese Weise gelingt ihm, was zu einem Plot, einer Narration zu verkommen droht, zu unterlaufen und in eine Art Hip-Hop-Sprech zu verwandeln, also einen Roman zu schreiben, der keiner sein will, ein Text, der eher wie das Rezitativ einer etwas zu lang geratenen Zeugenaussage erscheint:
Kampagne, yo, Alder, stabile PROJEKTION. Geil auch, wie unterwürfig der plötzlich wird, wenn er Schiss hat. Ich glaube, der macht das jetzt echt. Und wir können den anderen diesen Zaubersatz sagen, der eigentlich immer funktioniert in dem fucking Turm: DAS KOMMT VON GANZ OBEN. Hehe. Wirklich nicht so schlecht, dein geiler Trick da vorhin. Dann lass mal jetzt die BELASTUNGSZEUGINNEN aufteilen. Das Wort hast du übrigens schon wieder nicht benutzt, ich sag’s nur.
Das hilflose Rudern zwischen Denglisch und Engleutsch greift oft ins Leere. Der Ich-Erzähler verliert die Übersicht. Ein paar geschickte Konstruktionen überraschen hier und da, aber was nützen die besten Gewürze, wenn das Hauptgericht auf sich warten lässt. „Noch wach?“ von Stuckrad-Barre gleicht ein wenig dem Warten auf den Weihnachtsmann, nur dass am nächsten Morgen, wenn die Augen schließlich doch zugefallen sind, nicht mal Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen. Außer schmissigen Wortkaskaden nichts gewesen. Wer jedoch Poetry-Slam über Klatsch und Tratsch der Berliner Republik mag, wer zitierfähigen Hip-Hop-Text à la Die Fantastischen Vier über Hunderte Seiten lesen will und keine, teilweise schmerzhaft langen Determinativkomposita scheut, der wird seine Freude haben. Aus „Girl, you are not in Kansas anymore” wird dann halt „Now, it’s just dust in the wind.“
Olga Tokarczuk: „Empusion“

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.
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„Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:
„Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«“
Direkt auf den ersten Seiten werden von Tokarczuk die Karten auf den Tisch gelegt. Mieczysław Wojnicz, Hans Castorp, beide Ingenieure, beide 24 Jahre alt reisen einmal nach Berghof, nahe Davos, und nach Görbersdorf, nahe Breslau, um ihre Lungenkrankheit zu kurieren. Sie lernen altgediente Herren kennen, die philosophieren und humanisieren, über Gott und die Welt parlieren. Im Gegensatz aber zu Thomas Mann, der seine Zeit, einen gewissen Zeitgeist in Worte zu fassen versuchte, zielt Tokarczuk auf Allgemeineres. Sie thematisiert mithilfe ihre Protagonisten tiefliegende Differenzen in Raum und Zeit, vor allem die Geschlechterauffassung in der abendländischen Kultur, das Verhältnis Mensch-Natur, die Ignoranz gegenüber dem Körperlichen, wenn Wojnicz beispielsweise zu Dr. Semperweiß, seinem Arzt sagt:
»Vielleicht bin ich nicht selbstsicher genug. Sie sind der Arzt, ich bin der Kranke. Ich spreche mit Ihnen in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist. Ich fühle mich hier fremd und einsam.« Wojniczens Stimme bebte. »Meine Lunge ist real, aber meine Nationalität ist es nicht mehr. Sie ist Teil einer Sphäre, zu der wahrscheinlich Herr August etwas zu sagen hätte. Meine Nationalität gehört vermutlich schon lange ins Reich der Mythologie.«
Statt aber einen Thesenroman zu verfassen wie Robert Menasses „Die Erweiterung“ für die europäische Einheit oder Sibylle Bergs „RCE“ und „GRM“ für die soziale Gerechtigkeit, überlässt Tokarczuk der Sprache selbst die Stellungnahme. Sie beschreibt, erzeugt, dichtet die Bergwelt. Sie beurteilt und evaluiert sie nicht. Sie lässt die Natur selbst zur Sprache kommen:
„Im Tal, das sich über dem Spiegel des unterirdischen Sees erstreckte, trat Ruhe ein, und man spürte nicht nur keinen Wind, der hier ohnehin selten war, man spürte nicht einmal den leisesten Hauch. Als hielte die Welt den Atem an. Späte Insekten sitzen reglos an Pflanzenstängeln, ein Star erstarrt, den Blick auf eine bereits verflogene Bewegung gerichtet, die durch die Petersilienbüschel eines Gartens huschte. Ein Spinnennetz, zwischen Brombeerranken gewoben, hört auf zu beben, spannt sich, im Bemühen, Wellen aus dem Kosmos zu erlauschen.“
In diesem Sinne hat Olga Tokarczuks Roman „Empusion“, dessen Titel ein Neologismus aus ‚Symposium‘ und ‚Empusa‘ bildet, vielmehr mit Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ gemein, auf den in der gegenwärtigen Presselandschaft gemeinhin gar nicht hingewiesen wird. ‚Empusa‘ bezeichnet Gespenster, die Hekate auf die Welt schickt, ihres Zeichens die Göttin der Totenbeschwörung und Wächterin der Tore zwischen den Welten. Die Analogie liegt auf der Hand. Wie in „Die Kinder der Toten“ rächt sich die Bergwelt an den überheblichen Begierden, Irrationalitäten, Hirngespinsten der Sanatoriumsinsassen.
Es ist ein Schauerroman, der gestalterisch Zugang zu einer Welt schafft, die über Differenzen hinweg einen Hauch des Mysteriums einfängt, das über allem Kosmischen und Wirklichen liegt. Tokarczuk erinnert so an die Möglichkeiten des Romans, weniger Meinung, mehr Beschreibung, weniger Urteil, mehr Dichtung, weniger Vorstellung, mehr Erfahrung, Erzählung und Erlebnis zu sein. Auf diese Weise, trotz Anspielungen, Anleihen, kommunikativen Anschlüssen aller Art hat Olga Tokarczuk mit „Empusion“ etwas ganz und gar Einzigartiges geschaffen.
Byung-Chul Han: „Die Krise der Narration“

Kulturkritik, sehr kurz und wirklich knapp, auf 100 Seiten leicht gemacht
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Von einem knapp 100 Seiten langen Büchlein mehr als ein paar Assoziationen zu erwarten, scheint vermessen. Byung-Chul Hans „Die Krise der Narration“ will nicht viel. Es hebt lediglich den warnenden Zeigefinger. Zu viel Lärm um Nichts, sagt es, zu viel Information, zu viele Likes und Posts, zu viel Storyselling statt Storytelling:
„Das Storytelling als Storyselling bringt keine Erzählgemeinschaft, sondern eine Konsumgesellschaft hervor. Narrative werden produziert und konsumiert wie Waren. Konsumenten bilden keine Gemeinschaft, kein Wir.“
Han beschwört die heilende Kraft einer allgemeinen, holistischen Großerzählung, in der Feiertage, Wochentage, Namen, ja, Rituale wieder Bedeutung erlangen, eine Gemeinschaft zusammenschweißen, eine Kultur hervorbringen. Dieser radikale Universalismus findet seinen ausgemachten Feind und Gegner im Neoliberalismus, wo der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wird, in seiner Vereinzelung darbt, ja einsam wird:
„Wo jeder dem Gottesdienst des Selbst huldigt und der Priester seiner selbst ist, wo jeder sich produziert, sich performt, bildet sich keine stabile Gemeinschaft.“
Um diese Kernthesen herauszuarbeiten, greift er auf eine bunten Strauß angesagter und auch totgesagter Theoretiker zurück, bspw. Walter Benjamins Begriff der Aura, Martin Heideggers Seinsvergessenheit und In-der-Welt-Sein, Niklas Luhmanns Informationsbegriff, Sigmund Freuds Traumdeutung und selbstredend Friedrich Nietzsches und Jean-Paul Sartres Nihilismus. So richtig rund gelingt der Rundumschlag nicht. „Die Krise der Narration“ gerät am Ende mehr zum Beispiel und Symptom seines Inhalts als zu dessen Kritik. Han hangelt sich von Zitat zu Zitat und peppt es etwas mit Kulturkritik auf:
„Sein und Information schließen sich aus. So wohnt der Informationsgesellschaft ein Seinsmangel, eine Seinsvergessenheit inne. Die Information ist additiv und kumulativ. Sie ist kein Sinnträger, während die Erzählung Sinn transportiert.“
Mit Byung-Chul Hans eigenen Worten ist „Die Krise der Narration“ reine Information, rein additiv, rein kumulativ. Teilweise reihen sich die Zitate aus bekannten Texten aneinander mit nur kurzen einleitenden Worten. Begriffe jagen Begriffe, nur was das eine mit dem anderen zu tun hat, bleibt stets unklar und auch, warum diese nicht jene Wahl getroffen wurde.
Hans Quintessenz lautet: Buch gut, Smartphone schlecht. Erzählung ist also das Gute. Information und Technik das Schlechte. Wie sich aber Erzählung, Sein, Sinn von Informationen und Daten unterscheiden, darüber verschwendet Han kein Wort. Die 100 Seiten lassen scheinbar nicht genug Platz. Es bleibt beim disparaten, zusammenhangslosen Name-Dropping und Copy&Pasting, ohne Stil, ohne Kohärenz und Systematik. Mit anderen Worten, Byung-Chul Han zeigt mit „Die Krise der Narration“ wie es geht: Kulturkritik, sehr kurz und wirklich knapp, auf 100 Seiten leicht gemacht.
Sebastian Hotz: „Mindset“

Die Vorbereitung auf ein Lehrstück, das noch nach seinem Gegenstand sucht.
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Konzeptromane entstehen am Reißbrett. Eine zündende, eine wie auch immer geartete kommunikative Idee treibt sie. Auf diese eine einzige Idee kommt es an, und alles andere wird ihr untergeordnet. Sebastian Hotz hat einen solchen Roman geschrieben. Er ist mit dem Titel „Mindset“ auf den Markt gekommen und hat sehr viel gemein mit Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ oder Maxim Billers „Der falsche Gruß“. Ein gewisses Sendungsbewusstsein nimmt in ihnen die Sprache an die Kandare:
„Als sich schließlich Mirkos nackte Füße auf den grauen Teppich senken und sich die dort befindende Mischung aus abgestorbenen Hautzellen, Flusen, Haaren und undefinierbarem Staub auf ihre Sohlen heftet, wird aus der düsteren Vorahnung eine Gewissheit: Der Beginn eines neuen Tages ist auch heute unvermeidbar.“
Wie Schreibers „Die Kandidatin“, Billers „Der falsche Gruß“ so hat auch „Mindset“ ein klares Feindbild und dieses vorzuführen, ja, lächerlich und armselig erscheinen zu lassen, darin erschöpft sich die Idee dieser Sorte von Romane. Der Antipath in „Mindset“ heißt Maximilian Krac, der eine Selbsthilfegruppe von Möchtegern-Wölfen leitet, zu der auch Mirko Mihalic, ein IT-ler gehören will. Der Roman beginnt mit einem Meeting der Genesis Ego-Gruppe, bei dem sich Maximilian bei der Hotelrezeptionistin Yasmin Kara unbeliebt macht:
„Krach! Der Wichser von gestern. Der, der ihr [Yasmin] den Kopfhörer aus dem Ohr geschnipst hat, nach dem sie, als er endlich weg war, in würdelos gebückter Haltung den Boden absuchen musste. Das kleine dreckige Arschloch mit seinen widerlichen Anzugfreunden, die alle aussahen wie er, sich verhielten wie er und sie genauso abschätzig musterten, wie er es tat.“
Während Yasmin Maximilian Krach ans Leder will, möchte Angela Bauer Mirko vor der Genesis Ego-Gruppe bewahren, die Muttergefühle für ihn entwickelt hat und die gute Seele in dem Betrieb ist, in dem Mirko und sie arbeiten. Der Plot erschöpft sich nun darin, dass Krach sein sogenanntes Business auf einer Social-Media-Lüge aufbaut, die nach und nach auffliegt. Hotz beschreibt dies mit denkbar einfachen Mittel und Sätzen, die jedwede Melodie, Poesie, jedwede Adjektivistik und Beschreibungsdynamik missen lassen. Lediglich deutlich wird eine gewisse Abneigung gegen Mülheim an der Ruhr, die nur von der gegen Gütersloh getoppt wird:
„Die Provinzialität des Gütersloher Bahnhofs erschlägt Yasmin förmlich. Mülheim, dessen Tristesse ihr vollauf bewusst ist, gibt sich wenigstens etwas Mühe, den Anschein eines urbanen Raums zu geben, in Gütersloh scheint man selbst dem hoffnungsvollsten Neuankömmling noch vor dem ersten Schritt in die Stadt jede Hoffnung nehmen zu wollen.“
Was bleibt? Nicht viel. Sebastian Hotz‘ Roman liest sich wie platt und konstruiert, ohne jedwede Überraschung. Maximilian Krach als „American Psycho“, nur ohne Sex und Gewalt. Genesis Ego als „Die Welle“, nur ohne Psychologie und Dynamik. Der Ruhrpott und Ostwestfalen wie in „Der Markisenmann“ nur ohne Romantik, Humor und Fröhlichkeit. Sozialkitsch wie in „Ein Sommer in Niendorf“, nur ohne Rausch, Verzweiflung und Weltflucht. Es gibt keine Freundschaft, keine Verbindlichkeit, keine Sentimentalität wie in „Was ich nie gesagt habe“. Nur eine abstrakte Wut auf irgendwie geartete Verhältnisse und irgendwie geartete Individuen, die dieses stützen, eine Wut aber, die in den Sätzen verpuffen wie ein feuchter Knaller. Mit gutem Willen der Vorläufer also eines Lehrstücks, das noch nach seinem Gegenstand sucht.
Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Liebe in Zeiten der Widersprüche … eine literarische Durchdringung
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Die Liste der deutschsprachigen Nachkriegsromane, die sich eine epische Breite erlauben, sich nicht in Miniaturen erschöpfen, ist nicht lang. Bestimmt gehören Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ dazu, auch Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstandes“, Werner Bräunigs „Rummelplatz“ und Herta Müllers „Atemschaukel“. Im Falle des Versuches, eine solche Liste aufzustellen, müsste auch Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ aufgenommen werden. Reimann versucht in diesem außergewöhnlichen Roman das, was sich wenige getrauen, die Wirklichkeit poetisch zu durchbilden und die Zeit in Bilder einer Narration zu fassen:
„Ich sah ihnen nach, ihren Schatten im verbrannten Gras, und mir war zumute wie manchmal am Bahndamm, nachts, wenn die Gleise und die federnde Erde einen Schnellzug melden … Gestöber von Funken, die vorüberfliegenden Fenster, Scherenschnitte von pendelnden Köpfen, ein Netz voll Apfelsinen, blaues Licht in einem Abteil, in dem Fremde schlafend reisen, mitgerissen werden, auf ein Ziel hin, das ich nicht kenne, also beliebige benennen kann, Punkt Ypsilon, und beliebig verlegen, immer weiter nach vorn, in die Ferne …“
Wie das Zitat zeigt, geht die Erzählerin nicht davon aus, dass sie die Wirklichkeit durchdringt. Sie kennt keinen Plan. Sie ist wie alle anderen ein Rohr im Wind, getragen, fortgerissen von den Gezeiten, den Bewegungen und geschichtlichen Dynamiken. Diese poetische Seinsweise erlaubt es ihr, ein dichtes Netz aus Assoziationen, Metaphern, Allegorien und lyrischer Durchdringung zu weben, in welches alles seinen Platz findet, mühelos. Die Erzählposition wechselt von der Ich-Erzählerin, zur auktorialen und wieder zurück zum personalen und Erzählselbst. Der Wechsel findet im Flug statt, mitten im Satz, unangekündigt, um die verschiedenen Facetten des vergesellschafteten Individuums zu beleuchten:
„So war das damals. Ich ließ mich einfach fallen … Abends, wenn die Lichter aufflammten und das Warten anfing und Mr. Hyde durch die Straßen schlich … dann trennte sie sich von Franziska, die für ihren Professor schwärmte, sich mit Bauphysik plagte, Pläne für ein Theater entwarf, sie kannten sich nicht, sie wollten nichts miteinander zu tun haben, aber die Grenzen begannen zu verschwimmen, und manchmal, plötzlich hinausgeschleudert aus der glücklichen Beziehung zum Tag, fragte sie sich bang: Wer bin ich?“
Reimann thematisiert in ihrem Roman nichts weniger als das Gleiten, Ineinander-Übergehen vom Öffentlichen und Privaten, namentlich wer Franziska für sich, in ihrer Liebe ist, und wer sie in Bezug auf gesellschaftliche Prozesse und Verantwortung zu sein beansprucht und auch wird. Die wechselhafte Erzählposition gibt dem Roman die Freiheit, alle Seiten der Protagonistin zu beleuchten, die als Architektin versucht, eine lebensfröhliche Stadt zu entwerfen und letztlich an Realpolitik und Mangelwirtschaft scheitert. Auf diesem Weg sucht sie das private wie das berufliche Glück und nimmt alles auf, verwandelt es in Geschichtlichkeit, im Durchdringen in akzeptierte gesellschaftliche Widersprüchlichkeit.
„Ich war glücklich, als wäre ich aus meinem Lieblingstraum erwacht … die weiße Treppe, wir laufen hügelan, schwerelos, mit beflügelten Fersen. Eine Treppe, die Erwartung heißt … Ich war jetzt ganz wach, aber immer noch von dieser heftigen Freude erfüllt. Ich konnte die Sonne auf meinen Knien balancieren, und ich betrachtete meine Knie und Schenkel und Füße, den Fuß, den du zwischen deinen Händen gehalten hast …“
Am Ende ist „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann ein Liebesroman, der die sprachlichen Möglichkeiten ausschöpft, die Höhen und Tiefen des Daseins auszuloten. Reimann erzählt angst- und zwanglos. Sie lässt der Sprache freien Lauf und schöpft in jedem Absatz aus dem Vollen. Franziska Linkerhand erfindet sich bei jedem neuen Lesen erneut und erschafft eine literarische Figur wie Leopold Bloom, Mrs. Ramsey oder Ulrich, die als Spiegel ihrer Zeit und gesellschaftlichen Wirklichkeit und Möglichkeit fungiert.
Werner Bräunig: „Rummelplatz“

Epik gegen Stillstand.
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Romane wie Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe“ oder Franz Kafkas „Das Schloss“ oder das lyrische Werk Emily Dickinsons, von deren 1775 Gedichte nur 7 in Journalen veröffentlicht wurden, geben einen kleinen Vorgeschmack auf die vielen sonderbaren, bemerkenswerten Texte, die vielleicht nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, nie ihr Publikum gefunden haben. Werner Bräunigs „Rummelplatz“ hätte beinahe dazu gehört. Er wurde erst 31 Jahre nach Bräunigs Tod verlegt und hat doch nichts von seiner Intensität verloren:
„Und sahen nun das Tal unten, mit den Schächten am Hang, den roten Lichtern am Schornstein der Papierfabrik und den weißen an den Halden, Frühjahr war, wieder ein Frühjahr, da wurde das Gebirge freundlich. Oben der Wind war behutsam und führte etwas Bitteres mit von den Rinden der Bäume, und das Dumpfe war Vorjahrslaub und Erde, war Fäulnis und Trächtigkeit, und war noch anderes, das von weit her kam, das man spüren mußte oder schmecken vielleicht, und wußte keiner, was es war.“
Bräunigs Roman „Rummelplatz“ handelt von der Wismut-AG, vom Wiederaufbau, den Problemen der jungen DDR. Er ist als Entwicklungsroman konzipiert, einem Stil, einer Literatur, die durch alle Probleme hindurch, alle Widrigkeit hinweg, die Ängste durchschreitend, etwas Neues schaffen will. Differenziert, multiperspektivisch schlägt er alle Töne an und lässt alle Seiten zur Sprache kommen: Ost- wie Westdeutschland. Er klammert keine Träume aus, egal wie klein oder wie groß. Träume, Bewegung, Dynamik, Rhythmik zeichnen den Plot, die innere Motivation der Figuren aus:
„Ja, dachte er, das muß man. Denn wir sind immer in Bewegung, also muß man da ein Antrieb sein, es muß eine Kraft wirken. Und wer nicht Antrieb ist, und wer nicht wirken will, und wer nicht wissen will, der bleibt immer Getriebener. Der bleibt immer ein Rädchen, und dreht sich, und dreht sich, und wird getrieben, und treibt irgend etwas, und kann nichts ändern.“
Dort denkt und spricht Christian Kleinschmidt zu sich, der eigentlich studieren wollte, aber in Bermsthal, in der Wismut-AG Freunde und Liebe findet, eine Form des Lebens, die ihn erfüllt, optimistisch, tatendränglerisch, ja selbstbewusst werden lässt. Die Wucht des Romans sprengt alle politischen Grenzlinien. Die Sprache unterminiert jedwede Kleinkariertheit. Sie zielt auf die Zukunft, aufs Höchste, auf den Mensch, der zu sich selbst kommen möchte.
„So wunderten sie sich denn über die Maßen, wenn jemand behauptete, da fingen die Probleme erst an, nämlich: was ist das, Notwendigkeit? Oder ist etwa alles, was so tut, als ob, ist das etwa alles wirklich notwendig? Ist es notwendig, daß der Meier regiert und nicht der Schulze? Ist es notwendig, daß man Krebs nicht heilen kann, und jede Woche verrecken Tausende? Ja dann, Freunde, ist von Freiheit freilich keine Rede. Dann ist man bloß ein ewiger Gefangener der Notwendigkeit.“
Werner Bräunig schreibt seine Geschichte mit Vehemenz und Intensität auf. Er ähnelt auf seine Weise sehr Ayn Rand. Ihr Hauptwerk „Atlas Shrugged“ lässt sich als dunkler Bruder von „Rummelplatz“ verstehen. Beide kämpfen gegen einen Niedergang. Beide gegen Mutlosigkeit, gegen Schicksalsgläubigkeit, und zwar mit allen Mitteln einer lyrisch-pathetisch untermauerten Sprachverve.
Werner Bräunig verbindet Joseph Conrads Dunkelheit mit Jack Londons Abenteuerlust und verknüpft dies zu einem Wilden Westen, der in Bremsthal verortet wird, mit einer epischen Breite, wie sie sonst nur bei Alfred Döblin, bspw. in „Berlin Alexanderplatz“, zu finden ist. Bräunigs Roman reiht sich ein in die wenigen, aufs Ganze gehenden Nachkriegsromane eines Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstandes“ und Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und erfreut sich einer unverminderten Sprach- und Literaturfrische.
Martin Suter: „Melody“

So notwendig wie der Fernet Branca vor dem Schlafengehen.
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Wem Michel Houellebecq in “Vernichten” und Heinz Strunk „Ein Sommer in Niendorf“ zu verzweifelt, wem Martin Walser in „Das Traumbuch“ zu nachgiebig, versöhnlich, Emmanuel Carrère in „Yoga“ zu wehleidig und Robert Menasse in „Die Erweiterung“ zu verkopft ist, der greift schnell zu Ferdinand von Schirach „Nachmittage“ oder zu Martin Suters „Melody“. Mit diesen und anderen Romanen dieser Art bleiben sie unter sich: Junggesellen, abgeklärt und über jeden Zweifel erhaben, die sich von der Welt nicht mehr kirre machen lassen wollen::
„Lächelnd dachte Dr. Stotz darüber nach. »Du hast recht, wir sind auf dem Grundsätzlichen aufgelaufen: Was war wichtig und was nicht? – Ehrlich gesagt: Eigentlich war nichts wichtig.«
Er schwieg und fügte ernst hinzu: »Außer Melody. Außer ihr.«
Behutsam sagte Tom: »Also eigentlich alles in den Schredder.«
Dr. Stotz nickte langsam. »Alles. – Nur sie nicht.«“
Melody heißt Peter Stotz’ Verlobte, die drei Tage vor ihrer Hochzeit spurlos verschwand. Tom heißt mit vollem Namen Tom Elmer und wird von Stotz engagiert, seinen Nachlass zu verwalten. Stotz ist in der Schweiz berühmt, wohlhabend und einflussreich und für Tom das Sprungbrett, doch noch ein Leben in Saus und Braus zu führen, nachdem sein Vater, hoffnungslos verschuldet, Selbstmord begangen hat. Stotz hält im Hintergrund viele Fäden in der Hand und bedient nonchalant als Projektionsfläche die Allmachtphantasien von Suters anvisiertem Publikum.
„Peter Stotz war der diskrete Königsmacher seiner Partei. Nicht nur seiner, behaupten manche. In der Politik war er immer der Mann, an dem man nicht vorbeikam. In der Wirtschaft genauso. Da war er Vorstand und Präsident vieler Blue Chips des Landes. Eine faszinierende Persönlichkeit. Ein charmanter Smalltalker, heißt es. Und ein Redner, um den man sich gerissen hatte.“
Zeitlebens Junggeselle, vergnügungssüchtig, ein Hans Dampf in allen Gassen, der eigentlich Künstler hätte werden wollen, aber es nicht wurde, lebt Stotz nun in Zürich, allein, mit seinen Bediensteten und trinkt sich seine letzten Tage schön. Der Roman hat einen sehr übersichtlichen Plot: Stotz‘ Liebe zu Melody und Toms Romanze mit Stotz‘ Großnichte Laura. Junggesellen auf den Weg ins Liebesglück mit vielen Ab- und Umwegen, viel Alkohol und vor allem vielem teuren Essen, das in allen Details auf fast jeder Seite wieder und wieder beschrieben wird:
„Ein Streichquartett aus Opernhausmusikerinnen empfing sie. Das Menü hatte Dr. Stotz bestimmt. Alle Gänge waren Rezepte von Mariella: Sellerieravioli als erste Vorspeise, eine kleine Portion Jakobsmuscheln auf Linsen als zweite, Hackbraten als Hauptgang und zur Nachspeise ihr Dolce Basyma. Dazu gab es Dr. Stotz’ Lieblingsweine aus dem sonnigen Süden von Italien. Zum Schluss, als die Trauergemeinde laut und ausgelassen geworden war, wurde der Digestif kredenzt. Armagnac 1983. Das Jahr von Melodys Verschwinden.“
Suters Erzählton plätschert saturiert dahin. Es geht vor allem um die Souveränität, die Altherrenruhe, die Vorstellung, ein Leben zu führen, ohne dass jemand einem das Wasser reichen kann. Er spielt hierfür souverän auf der Klaviatur derjenigen, die nicht zu den oberen Zehntausend gehören, aber gerne dazugehören würden, und sei’s nur kurz und innerhalb eines Romans, wo die Frauen rehzart und die Männer wohlbeleibt sein müssen. Wer also mit wem? Wann wird dann was gegessen und welcher maßgeschneiderte Anzug getragen? Wie wird standesgemäß gesprochen und was der Etikette nach wie getrunken? Wer zählt etwas und wer eigentlich nichts? Suter gibt Antworten auf alle Lebenslagen. Teilweise liest sich der Roman unter anderem auch deshalb wie ein Junggesellenreiseführer für Millionärssöhne in Zürich.
Was bleibt? Eigentlich nicht viel. Martin Suter handelt seinen Plot selbstgefällig ab, staffiert ihn mit überflüssigen Details aus, gibt eine Prise Altmännerromanze dazu, schmeckt es mit einem Verbrechen ab, und schwuppdiwupp „Melody“ ist angerichtet. Eine Kost so leicht und seicht, dass der Magenbitter danach reinste Attitüde bleibt.
Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“

… aber gesagt und erzählt wurde letztlich vielleicht nicht einmal Nichts.
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In ihrem neuesten Buch fasst Judith Hermann ihre Frankfurter Poetikvorlesung zusammen, die sie im Jahr 2022 gehalten hat. Der Titel lautet „Wir hätten uns alles gesagt“ und nimmt Bezug auf eine Stelle in ihrem Buch, wo die Ich-Erzählerin und ein gewisser Jon beinahe in einem Schlossmuseum eingeschlossen worden wären. Im Nachgang schreibt sie ihm:
„Ich schrieb, ich wäre ausgesprochen gerne ein ganzes Wochenende über mit ihm in einem Provinzschloss eingesperrt gewesen, ich schrieb, wie bedauerlich, wir hätten uns alles gesagt. Jon kommt oft darauf zurück. Er wiederholt das – wir hätten uns alles gesagt, er will von mir wissen, was das gewesen wäre: Alles. Das ist eine lustige Frage. Es ist unmöglich, ihm zu sagen, was Alles gewesen wäre, uns ist beiden klar, dass es zu dieser Offenbarung nicht mehr kommen wird.“
Die Stelle fasst das ganze Buch zusammen. Es umschleicht die Möglichkeit des Erzählens. Es greift nach Gegebenem, Geträumtem, Erlebtem, aber traut sich nicht über den Weg. Hermann bleibt verhalten. Sie erfindet, sucht einen Weg zwischen Sagen und Verschleiern, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Erfundenem und Wahrem. Ein-Wort-Sätze, Andeutungen, ein unspezifisches „Alles“, als leeres Versprechen, das unpathetisch „lustig“ ist und einer „Unmöglichkeit“ preisgegeben wird. Das Versprechen verfing nicht. Es bleibt leer. Sprache bleibt leer. Sie will nicht mehr:
„Ich blieb in der Wohnung zurück, ich ging noch einmal durch die leeren Räume, aber es gab keine Geste und keinen Satz, der dem entsprochen hätte, was ich fühlte – wenn ich überhaupt etwas fühlte; ich möchte meinen, ich fühlte nichts. Dann zog ich die Wohnungstür hinter mir zu.“
Die Ich-Erzählerin durchwebt das Buch als leere Geste. Sie will über das Nicht-Erzählen erzählen, die Nicht-Wirklichkeit beschreiben, der Bedeutungslosigkeit Bedeutung beimessen. Dass dies nicht gelingt, weiß sie selbstredend selbst. Das Spiel verfängt nicht.
„Die Erzählerin meines sechsten Buches öffnet am Ende die Falle unter dem Schleppdach hinter ihrem Haus. Unklar, was sich darin befindet, nicht einmal mir ist das klar, aber ich ahne es, oder anders – ich weiß es, aber ich habe keine Worte dafür. Was immer es ist, es wird rauskommen, sich zeigen, sichtbar werden. Die Erzählerin wird es, außerhalb des Buches, nach seinem Ende, sehen und verstehen. Ich werde es sehen. Ich habe es gesehen. Und der Leser, wenn er ein geneigter Leser ist, auch.“
Judith Hermann spricht hier von ihrem Roman „Daheim“. Sie sagt offen aus, was ihren Stil, ihre Sprache, ihren Gestus auszeichnet. Sie verweist. Sie zeigt auf etwas außerhalb des Textes. Sie lässt die Fragen wie die Antworten offen. Sie überlasst die Arbeit der Imagination dem Publikum. Sie steht als Stellvertreterin in der Sprache, ohne sie zu beanspruchen. Ihr fehlen die Worte. Offener und klarer lässt sich ein schriftstellerisches Unterfangen nicht beerdigen. „Wir hätten uns alles gesagt“ … aber gesagt und erzählt wurde letztlich nicht einmal Nichts, denn das Nichts hätte ein Etwas negiert, wozu Hermann jede Entschlossenheit fehlt und scheinbar abhandengekommen ist.
Edmond Jabès mit „Buch der Fragen“ und „Das kleine unverdächtige Buch der Subversion“ erhob die Sprachverweigerung poetisch zur Kunst. Nach „Wir hätten uns alles gesagt“ wirkt es wie eine Erfüllung.
André Gorz: „Brief an D.“

Eine Zeremonie des Abschieds.
In dem sehr langen Brief, aber im Vergleich zu den meisten Romanen sehr kurzem Text, der weniger als 90 Seiten umfasst, erklärt André Gorz seine Liebe zu seiner Ehefrau Dorine. Beide schieden im September 2007 freiwillig aus dem Leben. Dorine aufgrund einer schweren, fortschreitenden Krankheit und André, weil er sich ein Leben ohne seine Lebensgefährtin nicht mehr als lebenswert vorzustellen vermochte.
„Ich höre die Stimme von Kathleen Ferrier, die singt: »Die Welt ist leer, ich will nicht leben mehr«, und ich wache auf. Ich lausche Deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“
André Gorz, Journalist und Theoretiker über die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie, publizierte seit den 1990er Jahren nur noch spärlich. Nach langer Pause und anlässlich der schweren Krankheit seiner Frau unterbrach er sein Schweigen, um ein mehrere Jahrzehnte zurückliegendes Vergehen an sie wiedergutzumachen. In seinem Erstling, die Autobiographie „Der Verräter“, 1958 erschienen, veröffentlichte er unsachgemäße und zu seiner großen Scham an Beleidigungen grenzende Beschreibungen über seine Frau, die dort den Namen Kay erhielt.
„Warum habe ich Dich als ein beklagenswertes Geschöpf dargestellt, »das niemanden kannte, kein Wort französisch sprach, sich ohne mich zugrunde gerichtet«, während Du doch Deinen Freundeskreis hattest, einer Theatergruppe in Lausanne angehörtest und in England von einem Mann erwartet wurdest, der dich heiraten wollte.“
Gorz reflektiert über seine unpässlichen Worte, die aber nicht zum Bruch mit Dorine geführt haben. Sie sind verheiratet geblieben und sind durch dick und dünn gegangen. Die Ausflüchte, die Gorz sucht, überzeugen auch ihn selbst nicht. Es blieb eine Art Schwäche, eine Art Versuch, sich unabhängiger, freier, ungebundener zu geben, als er in Wahrheit gewesen ist und blieb:
„Als ‚Der Verräter‘ endlich erschienen ist, war mir wieder bewusst geworden, was ich Dir alles zu verdanken hatte: Als wäre es Deine Lebensaufgabe, hast Du alles getan, um mir zu helfen, ich selbst zu werden. Die Widmung, die ich Dir in Dein Exemplar schrieb, lautet: »Für Dich, Kay genannt, die Du mir das Ich gegeben hast, indem Du mich das Du entdecken ließest.« Hätte ich das in dem, was »mein Buch« geworden ist, doch nur dargelegt.“
Er geht hart mit sich ins Gericht. Die Zeit zurückdrehen kann er aber nicht. Der Trubel um seine Person, sein Wunsch, ein politischer Intellektueller zu werden, verführte ihn dazu, Dorines Leistung und Können und Beitrag unter den Teppich zu kehren. Sie verzieh es ihm, zumal er treu an ihrer Seite sie pflegte und zu ihr hielt, auch im Alter, als sie schwer an Arachnoiditis erkrankte.
„Brief an D.“ stellt das alles richtig, und Dorine las es noch zu Lebzeiten. Die sehr zurückhaltende, leise Ausdrucksweise des Briefes, die Andeutungen, die bescheidenden Versuche, sich zu erklären, sie spielen um das Zentrum einer tiefen Liebe herum. Mit jeder Zeile wird klar, wie sehr sich Dorine und André geliebt haben. Die Trauer um ihre Erkrankung, die Vitalität, die sie so lange ausgezeichnet hat, die nun schwand, ängstigte ihn, ängstigte sie.
Es geht Gorz also auch um die Unmöglichkeit, sich von der Liebe des Lebens zu verabschieden, von der Fatalität dessen, was der Tod in das Leben der Menschen bringt. Die Intensität bleibt mit jedem Wort spürbar. Ein Leben wurde gelebt, das weitergelebt werden wollte. Eine Ruhe vor dem Sturm klingt durch. Die unerträgliche Angst vor der Trauer auch.
Es ist ein sehr ähnliches Buch wie Irvin D. und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich“, nur das in diesen beide schreiben, oder Simone de Beauvoir „Zeremonien des Abschieds“, in welcher sie von ihrem Lebensgefährtin Jean-Paul Sartre Abschied nimmt. „Brief an D.“ rührt weniger, als dass es schockt. Es ist im freien Flug geschrieben und der Aufprall naht.
„Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und Du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen.“
Er bekam sie auch nicht. Sie gingen gemeinsam in den Tod.
Julia Schoch: „Das Liebespaar des Jahrhundert“

Einübung in Bescheidenheit, sowohl literarisch wie psychologisch.
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Romane in direkter Anrede erfreuen sich in letzter Zeit zunehmender Beliebtheit. Das Geschriebene steht direkt für das Gesprochene ein und verwandelt den Roman, vormals Reflexionsmedium, in einen Gesprächsersatz. Als neueste Beispiele dienen Virginie Despentes‘ „Liebes Arschloch“ oder Juli Zehs und Simon Urbachs „Zwischen Welten“. Die Du-Form, die Julia Schoch in ihrem neuesten Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ gewählt hat, adressiert nun das je einzeln lesende Publikum direkt. Es wohnt nicht nur einem Gespräch zweier Streitender und Sich-Liebender bei, es darf sich einbezogen und angesprochen fühlen. Die Du-Form erhöht auf diese Weise den Authentizitätsgrad des autofiktionalen Theaters, die Autorin spricht vertraulich von Du zu Du:
„Ich bedaure, dass es nicht mehr Bilder von uns aus jener Zeit gibt. Fotos von uns als Liebespaar. Als ich es das erste Mal bedauerte, als es mir zum ersten Mal bewusst wurde, war es ein klarer, kalter Wintermorgen, viele Jahre später. Du hattest mir mit verschlossener Miene mitgeteilt, du würdest für ein paar Tage verreisen. Dann hast du die schwarze Ledertasche genommen und die Wohnung verlassen. (Wie man sieht, hattest auch du Lust gehabt zu gehen. Ich vermute es, ganz sicher war es so. Aber dies hier ist meine Erinnerung.)“
Schochs Text führt ein Spiel mit doppeltem Boden durch. Das „Du“ spricht den Partner der Ich-Erzählerin an, der in Eigenschaften und Herkunft konkretisiert wird (Akademiker, aus der ehemaligen DDR, männlich, widerborstig, geboren um die 1970), aber ebenso als Adressat das Publikum, das sich angesprochen fühlen darf, an seiner Statt, das heimlich in dessen Rolle schlüpft. Der Roman kann als sehr langer Brief an den Partner verstanden werden, der dem Publikum nur zufällig in die Hände gefallen ist. Die Einschübe in den Klammern jedoch, die Selbstreflexion, weist ihn als Text an sich selbst auf, indem sie sich gegenüber ihrem imaginierten Gesprächspartner ermahnt, sich selbst treu zu bleiben. Der Ich-Erzählerin gelingt es nämlich nicht wirklich zwischen dem Wir und dem Ich zu trennen:
„Wir sind eigenständige Wesen, Individuen. Folgt man der Logik der Diskurse, in denen ich mich seit meiner Jugend bewege, ist das der erstrebenswerte Seinszustand eines Menschen. Für mich hat das Wort etwas Klägliches. In der Welt meiner Kindheit war ein Individuum nichts Gutes. Und selbst heute noch haftet ihm in meinen Augen etwas von einem Schimpfwort an. Mein Vater, der Offizier, hat manchmal seine Verachtung gegenüber bestimmten Personen mit diesem Wort ausgedrückt.“
Konsequenterweise beschreibt „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ein völlig der Details entkleidetes Beziehungsdramas. Es gibt Eifersucht, Seitensprünge, aber keine Gesichter. Es gibt Probleme, Streitereien, aber keine Themen. Es gibt Kinder, ohne Geschlecht und Namen und Geburtstage. Es gibt Städte, Freunde, Bekannte, Familie, ohne Aussehen, Geschichte und Hintergrund. Im Grunde gibt es nichts als die Bespiegelung und Verspiegelung der eigenen Wahrnehmung der Ich-Erzählerin, die gehen und nicht gehen, die sich trennen und nicht trennen, die den Partner kennen und nicht kennenlernen will. Sie bleibt gefangen in diesem Dilemma.
„Mir kam der Gedanke, dass ich dich unbedingt, um jeden Preis, sterben sehen wollte. Später, wenn es so weit wäre. Es war kein höhnischer Gedanke. Ich wollte nicht den Sieg davontragen. Ich wollte einfach dabei sein, erst dann wäre wirklich Schluss. Sich vorher zu trennen kam mir unsinnig vor. Wozu das Ganze, all die Gedanken und Gefühle, die man investiert hatte, wenn man nicht das Finale erlebt? Nein, in keinem Fall durfte man eine Geschichte zu früh abbrechen.“
Julia Schochs Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ zeichnet sich durch erhöhte Verallgemeinerungen und Abstraktheit aus. Der Partner existiert als reines Gegenüber. Die Realität als ablaufender Prozess, den es irgendwie zu besiegen, zu überstehen gilt. Eine unheimliche Abgeklärtheit durchzieht den Text, eine monumentale Distanz zum eigenen Gefühl, zum eigenen Wunsch und Dasein. Entsagung als Lebensprinzip. Schochs Roman zeichnet sich deshalb vor anderen Romanen dieser Art aus, bspw. Daniela Kriens „Der Brand“, Jenny Erpenbecks „Kairos“, Irvin D. und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben“ oder Simone de Beauvoir mit ihren Romanen wie „Die gebrochene Frau“ und „Sie kam und blieb“. Widerstand ist zwecklos – eine Einübung in Bescheidenheit, sowohl literarisch wie psychologisch.
Esther Kinsky: „Rombo“

Dem Schrecken eine Stimme geben.
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Esther Kinskys neuester Roman “Rombo“, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, beschäftigt sich mit den Erinnerungen an ein Erdbeben in Norditalien, genauer in Friaul, und dessen Folgen in den Gemütern der Menschen und den Formen der Landschaft:
Was ist ein Erdbeben? Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss.
Das Erdbeben kündigt sich mit einem Grollen an, ein unterirdisches Ächzen und Krachen, auf dass hin nach kurzer Zeit die Landmassen in Bewegung versetzen und alles unter- und überirdische in Mitleidenschaft zieht. Tiere, Menschen, Gebäude, Straßen, Flüsse, Berge, Schluchten und Täler werden verschoben, zerstört, verändert, versetzt. Der absolute Kontrollverlust hinterlässt tiefe Spuren, die Kinsky polyphon zur Sprache kommen lässt. Eine Reihe von Dorfbewohner spricht über die Ereignisse vor, während und nach den beiden Erdbeben im Mai und September.
Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und dem grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschüttungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit.
Sowohl in der Narration, im Rückblick von Figuren, als auch über ein apersonales, quasi-wissenschaftliches Beschreiben, wie auch durch Einschübe, Bemerkungen, Reflexionen der Erzählinstanz entsteht ein vielschichtiges, geschichtsgeladenes Bild dieser Zeit. Durch den Episodencharakter, die aufeinander Bezug nehmen, ohne sich zu kennen, kristallisiert sich ein geheimes Zentrum des Buches, das Lesen selbst. Mehr und mehr erhalten die Ereignisse und die Dorfbewohner Leben, bis der Eindruck entsteht, sie stünden leibhaftig vor einem. Kinsky authentifiziert durch Verfremdung:
Direkt meinem Stand gegenüber, auf der anderen Seite vom Fluss, erhebt sich der Berg, unter dem das erste Erdbeben lag, angeblich genau darunter, oder sogar darin. Alles hier war völlig zerstört. Vieles ist wieder aufgebaut, aber die Landschaft vergisst nicht, was ihr zugestoßen ist, überall sind noch Ruinen und Trümmer von Häusern, aus manchen wachsen schon Bäume und Sträucher, und Efeu ist darübergekrochen. Manchmal würde ich dem Berg gerne etwas sagen, wenn ich so allein da stehe und niemand mich hört. Schweig du nur still, zum Beispiel. Nie wieder so was wie damals. Aber es ist zu spät. Die Welt ringsum ist anders geworden.
Esther Kinskys Roman “Rombo” liest sich weder nebenher noch schnell. Zu komplex mischt sie die Beschreibungsformen, zu diaphan durchschwebt der Zusammenhang die einzelnen Episoden. Das Unheimliche des Erdbebens entsteht durch die Verrückung und Lücken im Erzählen und Erinnern der Menschen. Sie versuchen, dem Kontrollverlust zu begegnen, können es aber nur durch Mythen und Sagen und Legenden. “Rombo” nimmt diese auf und wird so selbst zu einer solchen Praxis.
Wie Claude Simon in “Die Schlacht bei Pharsalos” erzählt sie, indem sie beschreibt. Wie Thukydides in “Der Peleponnesische Krieg” beschreibt sie, indem sie erklärend spekuliert. Wie Guido Morselli in “Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit” lässt sie das Schweigen des Kontrollverlusts zur Sprache kommen. Intensiv wie in Damon Galguts „Das Versprechen“ lässt sie das Wortlose geschehen. Die Dinge sprengen, Hoffnungen zerstäuben, und die Sprache versucht wieder dort einen Zusammenhang zu stiften, wo vorher nur Zerstörungswut zu sehen und zu erkennen gewesen ist.
Dass Esther Kinsky diesen Zusammenhang nicht durch Theodizee und Weltanschauung forciert, sondern sich selbst aus den Details ergeben lässt, zeichnet “Rombo” aus. Er hinterlässt Spuren, wo andere literarische Geschichtsschreibungsversuche nur Anekdoten zuwege bringen.
Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Angstlos den Abgrund vor Augen
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Maria Kjos Fonns neuester Roman „Heroin Chic“ handelt nüchtern von einer Süchtigen, Elise, die sich zur Sucht bekennt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie weiß, worauf sie zustrebt. Sie weiß, was mit ihr geschieht und dennoch bejaht sie es. Anders als andere Romane über die Drogensucht, wie „Trainspotting“ von Irvine Welsh oder „Candy“ von Luke Davies oder „Wir Kinder vom Bahnhofzoo“ gibt es kein sozioökonomisches, psychologisches Drama. Der Roman will keine Gesellschaftskritik sein:
„In der Theorie ist es absolut möglich, einen Schuss zu setzen und zur Arbeit zu gehen, zum Liebsten nach Hause zu gehen, einen Schuss zu setzen und schlafen zu gehen. Man braucht es nicht größer zu machen, als es ist. Eine medizinierte Krankheit. Vielleicht war das Problem nicht, dass ich es brauchte, sondern dass alle um mich herum brauchten, dass ich es nicht brauchte.“
Ähnlich wie in Virginie Despentes „Liebes Arschloch“, wo Rebecca, die Protagonistin, dem anderen Protagonisten, Oscar, von ihrer Heroinsucht berichtet und sich durch diese in ihrer Schauspielerei in keiner Weise eingeschränkt und leistungsunfähiger fühlt, besteht für Elise in „Heroin Chic“ kein wirklicher Grund, die Drogen nicht zu nehmen. Sie langweilt sich. Sie will nicht sein. Sie will kein Bewusstsein, keinen Körper haben, einfach Stimme werden.
„Im Chor waren wir eine Lunge, ein Puls. Ich hatte keine Ahnung, was mein Atem war und was der Atem der anderen, wusste nicht, wo meine Stimme endete und die der anderen begann. Der Klang stieg hoch zur Kirchendecke oder stieg von dort herab, war es etwas oder jemand von oben, wodurch der Raum mit Klang erfüllt wurde? Ich stand zwischen den anderen, ehe ich zum Solo einen Schritt vortrat.“
Die Stimme, die den Raum erfüllt, sich mit Elises Innen und dem Außen verbindet, eine Gesamtheit ergibt, verwischt die Grenzen ihres Körpers. Sie will reine Stimme werden, körperlos. Elise ist eine Figur der Extreme. Sie sucht den dünnsten Körper, die reinste Stimme, den härtesten Kick, die absolute Bewusstlosigkeit und Abhängigkeit.
„Meine Stimme war hell. Licht. Wie ich. Doch wenn ich unter der Dusche sang, schaute ich hinab auf meinen Körper, der war noch immer zu groß, die kleinen Brüste sahen gierig aus. Ich wollte, dass mein Körper wie meine Stimme wäre, ganz rein, dass er die Schwerkraft überwand. Im Spiegel begann ich, die Wirbel im Rückgrat deutlicher zu erkennen, zählte sie.“
Maria Kjos Fonns Roman „Heroin Chic” zieht diese Thematik bis zum Äußersten durch. Es gibt kein Drama, kein Elend, kein Schmerz, nur den, nicht leben zu dürfen, nicht leben zu können, wie sie will. Elise ist ein eiskalter Engel, die jeden Schmerz erträgt, die alles erleidet, die im Grunde, aufgrund ihrer Einstellung unzerstörbar ist. Zerstörbar sind die Beziehungen, die Freundschaften, die sie führt, die Familie, die sie bestiehlt, von der sie sich entfremdet, aber all dies spielt für sie keine große Rolle.
„Ein Junkie wird immer mehr zu einer Art Fötus, grau und mager und total abhängig von der dünnen Schnur, die ihn am Leben hält. Nicht dass ich Junkie gewesen wäre, natürlich. Ich war Tinker Bell, die Heroin rauchte. Silberflügel und Silberpapier, eingehüllt in Sternenstaub oder Rauch, was war schon der Unterschied.“
Mit unnachgiebiger Konsequenz und punktgenauer Komposition gelingt Kjos Fonn ein Roman über Drogensucht, die das dunkle Moment in dieser aufsucht, aufhebt und literarisch gestaltet, den Verlust des Lebenswillen, die Sehnsucht als Individuum, sich selbst zu überwinden, zurück ins ozeanische Gefühl. Mit dieser Schärfe besitzt der Roman etwas von einer antiken Tragödie und von Joseph Conrads Art des Erzählens, bspw. in „Das Herz der Finsternis“, und belebt das mythische Moment, das in jeder gelungenen Erzählung irgendwo steckt.
Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Flüssig, gefällig – ohne jeden literarischen Anspruch. Politik als Roman verpackt.
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Es gibt Stimmen, die Virginie Despentes ‚Balzac des 21. Jahrhunderts‘ nennen. Andere sehen in ihr die kongeniale Wiedergängerin von Michel Houellebecq, die andere Seite der Medaille der ausgeweiteten Kampfzonen. Ordinär, brutal, durchdringend schlug das Erstlingswerk „Baise-moi – Fick mich“ ein, das 1994 erschien. „Liebes Arschloch“ ist ihr neuester Roman. Es ist ein Briefroman:
„Wenn ich also sage, »ich werde dir die Augen auskratzen«, ist das keine Redensart, sondern eine Drohung – ich werde in meiner Schutztruppe immer einen Boxer, einen Hells Angel oder einen Auftragskiller finden, der deine Adresse ausfindig macht und dir an dem Tag, wo du es am wenigsten erwartest, die Augen aus dem Kopf bläst und sie zum Frühstück verspeist.“
Rebecca Latté, eine gealterte Schauspielerin, droht hier Oscar Jayack, einem in der Midlife-Krise steckenden Erfolgsschriftstellers. Als Schlüsselroman verstanden, kommunizieren hier Catherine Deneuve und Michel Houellebecq miteinander. Sie verstehen sich zu Anfang nicht sehr gut. Oscar greift Rebecca an. Rebecca greift zurück an. Über die Strecke des Romans entwickelt sich jedoch eine Freundschaft, die auch explizit von beiden eingestanden wird:
„Keine geöffneten Bars mehr, keine Toiletten, vor denen man anstehen muss, keine Künstlergarderoben, kein Warten, keine Ängste zu besiegen, keine Proben, keine schnellen F*cks. Das alles haben wir gemeinsam erlebt, du und ich. Das Leben hat durchaus Sinn für Humor. Wenn ich an den Anfang unseres Briefwechsels denke, sprach wenig dafür, dass du mein Leben verändern würdest. Und dass du deines veränderst.“
Als Themen werden gestreift die Corona-Pandemie, Social-Media-Shitstorms, TikTok-Videos, Metoo-Diskussionen, Weinberg, die Film- und Kulturbranche und vor allem und jedem Drogen. Das Hauptthema beider Briefschreibenden bleibt das Sich-Wegballern und beide begreifen über die Dauer des Briefwechsels, dass sie damit aufhören müssen. Rebecca, um ihre Karriere als Schauspielerin zu retten, Oscar, um die Beziehung mit seiner Tochter nicht zu verlieren. Diesbezüglich ergehen sich die beiden über jedwede mögliche Form der Drogeneinnahme und -wirkung. Die sozialen Umstände bilden nur den Rahmen für den Rausch:
„Sich wegballern ist ein Extremsport. Man muss wirklich den Wunsch haben, seine sämtlichen Identitäten in die Luft zu jagen. Geschlecht, soziale Schicht, Religion, Sippe. Du möchtest im Gegenteil das bisschen Ansehen bewahren, das du dir erworben hast.“
Stilistisch jedenfalls, wie die Zitate belegen, ereignet in Despentes‘ Roman nichts. Formalästhetisch gibt es nur das überraschende Merkmale, gerne auf Kommata bei Aufzählungen zu verzichten: „Facebook Twitter Google Amazon Microsoft Apple“ als Beispiel. Die Sprache unterscheidet sich nicht vom gesprochenen Wort. Der Textkorpus könnte eine Transkription eines langen Gesprächs unter Freunden sein. Kompositorisch ereignet sich auch nicht. Am Anfang befeindet, am Ende befreundet, aber kein Friede-Freude-Eierkuchen.
„Am Abend habe ich The Crown gesehen. Die ganze Nacht. So viele Folgen, bis es wieder hell wurde, und ich habe geweint. Ich habe geweint bei dem Gedanken, dass ich nie mehr die Prinzessinnen spielen werde. Ich war todtraurig, aber ich hatte nicht mehr den Reflex, die Nummer eines Dealers rauszusuchen. Es ist wie mit einem abgehängten Waggon. Der Antrieb, sich wegzuballern, ist außer Betrieb. Und ich bleibe zurück mit diesem unangenehmen Gefühl, aber ich habe nichts genommen.“
Wer also anderen beim Drogennehmen gerne zuhört, sie belauscht, wer gerne schmutzige Wäsche wäscht, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, der kommt voll auf seine Kosten. „Liebes Arschloch“ Literatur und Roman zu nennen, verballhornt jedoch diese Begriffe und kommt dem Versuch nahe, Whatsapp als zeitgenössische Enzyklopädie zu bezeichnen. Es gibt schlicht nichts, was formalästhetisch Despentes Stil von der Umgangssprache unterscheidet. Wer sich daran nicht stört, wird seine Freude haben. Flüssig und gefällig geschrieben ist der Text nämlich.
Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Nostalgisches Erinnerungsmosaik mit beinahe poetischen Zügen.
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Annie Ernaux’ Text „Der junge Mann“ lässt sich in einem Zug problemlos durchlesen und kann der Gattung Novelle zugeordnet werden, denn die Kürze und die erzählte Begebenheit deuten auf ein unerhörtes Ereignis an. Ob sich darin tatsächlich ein Normenbruch verbirgt, um den Begriff Novelle nach Goethes Begriff zu begründen, lässt sich jedoch kaum sagen, denn die erzählte Begebenheit handelt lediglich um die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann:
„Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“
Die Erzählzeit liegt in den 1990er Jahren, kurz vor Anbruch des neuen Jahrtausend. Die Ich-Erzählerin sagt zu Anfang, dass sie vierundfünfzig Jahre alt sei. Fällt also der Geburtstag der Ich-Erzählerin mit dem verbürgten der Autorin zusammen, spielt sich die Begebenheit im Jahr 1994 ab und dauert knapp fünf Jahre. In dieser Zeit pendelt die Ich-Erzählerin zwischen ihrem Wohnort und Rouen, wo der junge Student lebt und studiert wie seinerseits die Ich-Erzählerin. Sein Umzug nach Paris markiert das Ende der Beziehung:
„Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch. Er zog von Rouen nach Paris.
Ich begann die Erzählung meiner heimlichen Abtreibung, die ich lange umkreist hatte. Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis, das vor seiner Geburt stattgefunden hatte, vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen.“
Annie Ernaux‘ Ich-Erzählerin rekapituliert also eine implizite Entstehungsgeschichte des Buches „Das Ereignis“, das 2000 erschien und von der heimlichen Abtreibung handelt. Die Beziehung zum jungen Studenten wirkt als Katalysator, sich dieser Phase ihres Lebens wieder zu öffnen, den Problem mit dem Klassenbewusstsein, zur Bildungsbürgerschicht oder zum Proletariat zu gehören. Als Schriftstellerin hat sie diese Ambivalenz aufgelöst und ihre Reise aus dem Proletariat beendet, denn sie kann nun angesichts des jungen studierenden Proleten sagen:
„Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin. Er war Träger der Erinnerungen an meine erste Welt.
Das hauptsächliche Merkmal dieses sehr kurzen Textes besteht in der Form der Erinnerungsführung – sie ist nicht chronologisch, nicht raumhaft, nicht äußerlich, sondern körperlich, eine Art diaphane Erinnerungsmembran, die durch die Worte angespielt wird. Hier ähnelt der Text keiner Novelle, da keine Fabel erzählt wird. Einen wirklichen Plot gibt es auch nicht. Es erscheint mir als filigrane Selbstbespiegelung eines autonom gewordenen Gedächtnisfragment, also einer Art mnemosynthetische Ballade.
„Bei mir streifte er den Morgenmantel mit Kapuze über, den schon andere Männer angezogen hatten. Wenn er ihn trug, sah ich keinen von ihnen vor mir. Beim Anblick des hellgrauen Frotteestoffs empfand ich lediglich das warme Gefühl meiner eigenen Dauer und der Beständigkeit meines Begehrens.“
Annie Ernaux‘ Text lohnt als Lektüre. Die Ich-Erzählerin spricht frei, rund und unumwunden von sich, von dem sehr Privaten, das ein sehr Öffentliches wird. Die Allegorie einer Inspiration in Form eines jungen Mannes trägt sich knappe dreißig Seiten lang, ohne Anfang und Ende, ein Erinnerungsfragment und Mosaikstein im Gesamtwerk des Schreibunterfangens von Annie Ernaux und ihrer Vivisektion des eigenen Lebens. Auf ihre Weise stellt ihr Schreiben ein Umkehrakt zum Werk Claude Simons dar. Wo er sich im Räumlichen verliert, wie in „Die Trambahn“, verliert sie sich im Körperlichen und nähert sich auf eigentümliche Weise einer nostalgischen Friederike Mayröcker mit “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”.
Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Von der einfachen und fröhlichen Lust am Erzählen.
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Das einfache Prinzip des Erzählens lautet, nichts erklären, einfach beschreiben. Nur wenige Romane halten sich seit dem Einbruch des Rationalen in die Welt der Kunst daran. Sie begründen ihre Figuren. Sie legen Rechenschaft darüber ab, wieso weshalb irgendetwas passiert oder wahrscheinlich geworden ist. Hierbei geht etwas verloren, was dem Erzählen im Grunde von Anfang angehaftet hat, der Zauber, das Neue, das Unverhoffte. In Ina Kramers „Im Farindelwald“ gibt es dies noch:
„So blieb ich sinnend stehen und ließ meinen Blick über die schwarzen Wipfel der Bäume schweifen. Plötzlich hörte ich ein Brausen wie von einer heftigen Bö, und dann sah ich die Person, auf einem Reisigbesen reitend, sich rasch in die Höhe erheben und davonfliegen. Sie sang (oder lachte), und obwohl es sehr helle, liebliche Töne waren, schauderte mir. Sie ist nach Nordosten gezogen, dorthin, wo meine alte Heimat liegt und wo in hellen Efferdnächten die Töchter Satuarias ihre düsterwilden Feste feiern.“
Der Roman „Im Farindelwald“ erzählt viele Geschichten in einer. Der Roman webt sich zusammen aus im wesentlichen drei Handlungssträngen: Die Reise von Sylphinja, die von Anselm und die Tagebucherinnerungen vom Vater Anselms, eines Medicus, aus der die soeben zitierte Stelle stammt. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte findet sich in der Angst und Verfolgung von Hexen in Aventurien, genauer in der Gegend Albernia. Sie setzt ein in Abilacht, als Anselm nachdem Tod seines Vaters loszieht, die Welt zu erkunden, und dort Zeuge von einer Hexenverbrennung wird. Später wird Anselm die Tochter der Hexe kennenlernen, namentlich Sylphinja, und mit ihr ein Abenteuer im Farindelwald erleben, in dessen Mitte ein unheimlicher Weiher prangt:
„In die Sprache der Worte übersetzt lautete [die Antwort des Weihers] etwa folgendermaßen: Ich bin, wie ich bin. Und sie war von einem so fremdartig kalten Hauch begleitet, daß Sylphinja es rasch zurückzog. Außer den Pflanzen, die am Ufer wuchsen, barg der Weiher kein Leben, kein noch so kleines Tierchen tummelte sich in seiner Tiefe, und doch, das spürte Sylphinja, war das Wasser nicht vergiftet. Eher schien es ihr, daß der Teich keine Lebewesen in sich dulden wolle, weil deren geschäftige Betriebsamkeit – das Lieben, Sich-Fortpflanzen, Wachsen und Vergehen – ihn darin störte, was er sein wollte: finster.“
Wie die Textstellen andeuten, beschränkt sich der Erzählstil nicht auf kurze Sätze, auf Andeutungen und Dialoge. Es gibt viele Naturbeschreibungen und einen in sich verwobenen, reflektierten Plot, der die Hauptfiguren bis zum Ende begleitet und in die Welt einbettet. Die schlichte Erzählung bekommt allegorischen Charakter, sobald die Verspiegelung der Handlungsverfügungen beachtet werden. Die Erzählung reflektiert ihr eigenes Geheimnis und Thema, beginnend mit dem Tod der Hexe, bleibt das ewige Leben. In seiner Genre-haften Beschränktheit führt Ina Kramer nun alles aus, was eine Geschichte und Plot vorantreibt, ihn verdichtet, intensiviert und über sich hinaus in die Imagination führt. Es geht dem Lesen wie Sylphinja beim Fliegen auf ihrem Besen:
„Wie lange sie flogen, wußte Sylphinja nicht, ob Stunden oder Augenblicke, denn seit sie in die Schwärze der Waldpfade eingetaucht waren, hatte sie nicht nur die Orientierung, sondern auch ihr Zeitge-fühl verloren. Doch unversehens lichtete sich das Dickicht, ein Kreis fahlen Himmels tat sich über ihr auf, und sie landeten, so sanft, daß Sylphinja ganz überrascht war, als sie plötzlich festen Boden unter den Füßen spürte.“
Plötzlich ist das Buch vorbei, und die nicht ganz geschlossene Handlung verweist auf das nächste Buch „Der Reise nach Salza“, was mehr ein Grund zur Freude als zur Enttäuschung ist. Literatur verbirgt sich und gedeiht in den seltsamsten Ecken.
Ursula Knoll: „Lektionen in dunkler Materie“

Episoden zu einem Gegenwartsbild zusammengeschüttelt. Ein Kessel Buntes.
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Um der Komplexität der Welt ein wenig gerechter zu werden, greifen mehr und mehr Schreibende zum Episodenroman. In einzelnen, kleinen seriellen Bruchstücken setzt sich auf diese Weise ein kaleidoskopisches Szenario zusammen und führt eine Realitätsauslotung durch. Klassische Beispiele führen John Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ oder die USA-Trilogie an, oder noch früher Eugène Sues „Die Geheimnisse von Paris“. In der Gegenwartsliteratur gibt es viele Romane dieser Art. Hier seien Hervé Le Telliers „Die Anomalie“, Eva Menasses „Dunkelblum“ oder Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“ von vielen angemerkt. Ursula Knolls Debütroman „Lektionen in dunkler Materie“ gehört dazu. Er bemüht sich um eine Standortbestimmung:
„Die Menschen in dieser Stadt, Trottel, alles Trottel. Sie braten sich selbst wie Hendln am Grill. Dass niemand hier den Hintern hochkriegt und etwas anderes versucht, dass alle das so gottergeben ertragen. Im Winter wird es schon wieder frieren.“
Eine der Protagonistinnen des Romans heißt Katalin. Sie ist Astronautin und hat eine Schwester, Eszter, die Finanzterroristin und Polizistin ist. Diese lebt getrennt von ihrer Ex-Freundin und Lebenspartnerin Heide, die das gemeinsame Kind Linus aufzieht. Linus geht in den Kindergarten, wo er von Fatima betreut wird, die wiederum eine Affäre mit Ines beginnt, einer Immigrationsbeamtin, die ihren Job verliert, und mit Milka zusammenwohnt, einer Aktivistin für gerechte Arbeitsmarkt- und Handelspolitik. All dies wird zusammengeschüttelt und zusammengehalten von der dunklen Materie:
„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält. Es ist unklar, woraus es besteht, woraus es entstanden ist oder was es sonst noch tut. Man kennt nur seine Funktion. Es ist einfach da und der Grund für unsere Existenz.“
In dem Roman von Knoll geht es aber weder um die dunkle Materie noch um Physik, oder das Universum oder dem Versuch, den Grund der Existenz nachzuspüren. Es geht vor allem um die Probleme des Alltags, Beziehungskrisen, übers Allein- und Verzweifeltsein, über Armut, Zeitmangel, über Wut auf die Verhältnisse, aufs System, auf die Familie und all die, die alles missverstehen und nichts ändern wollen.
„Wenn, dann steht es ihr, Katalin, zu, das Leben der anderen zur Hölle zu machen. Zu zerstören, was sich zerstören lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt. Menschen sind nun einmal so, das steht in jedem Psychologiewälzer.“
Am Ende fliegt alles irgendwie auseinander und fällt auch irgendwie zusammen. Die Figuren begegnen sich, lieben sich, zerstreiten, verlieren sich. In unmanierierter Sprache mischt Knoll die Handlungsstränge etwas beliebig zusammen, was vor allem dem Genre Episodenroman geschuldet ist, der eine in sich kohärente Erzählweise gar nicht voraussetzt und eine gewählte Komposition stets als optional erscheinen lässt.
Wer den Titel nicht ernst nimmt, sich in Ereignissen und Tomatenwerferei treiben lassen möchte, macht mit der Lektüre von „Lektionen in dunkler Materie“ nichts falsch. Überraschungen und Innovationen gibt es nämlich keine. Und ob diese oder jene Figur mehr oder weniger, spielt dann auch keine Rolle mehr. Die Welt bleibt in Bewegung, wahrscheinlich wegen der dunklen Materie.
Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“

Literarisch widersprüchliche Reise durch ein zerstörtes Ich.
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Reproduziert sich Gewalt durch Mimesis, durch Enttäuschung, durch Unvermögen? Diese Frage stellt sich Claudia Schumacher in ihrem Debüt „Liebe ist gewaltig“, das weniger von Liebe als von Aggression handelt. Der Titel mag daher etwas irreführend sein. „Liebe“ in ihrer klassisch vorgestellten Form wie in Benedict Wells „Hard Lands“ oder „Vom Ende der Einsamkeit“ oder Irvin D. Yaloms und Marilyn Yaloms „Unzertrennlich“ taucht in Schumachers Roman nicht auf:
„Ich wünschte, ich hätte deine positive Ader, wie Anikó es nennt. Deinen Selbstglauben, dein beschissenes Alles-ist-möglich. Aber ich bin Jules, das schwarze Loch, das sich selbst frisst. Ich wünschte, ich wäre jemand, den du lieben kannst. Ein Dichter, auf die stehst du doch. Wäre ich ein Dichter, dann wäre diese Misere in der Pfütze nicht nur ein Tiefpunkt, nein, sie wäre auch ein Grund für ein neues Gedicht, und zwar ein Gedicht für dich. Aber ich hasse Gedichte.“
Schumachers Roman entwickelt sich um die Widersprüche: Positiv/Negativ, Liebe/Hass, Allein/Zusammen, Gewalt/Zärtlichkeit. Die Hauptfigur heißt Jules und studiert Mathematik und verdient ihr Geld mit Ego-Shooter-Wettkämpfen. Ihr Leben kreist um Gewalt gegen sich selbst und andere, zumal sie nichts anderes aus ihrem Elternhaus gelernt hat. Ihre vier Geschwister gehen völlig auf Abstand oder sind ihr ähnlich. Hier wieder die Janusköpfigkeit und Dichotomie. Der Widerspruch:
„Eigentlich mag ich keine coolen Menschen. Diese Leute mit ihren elaborierten Geschmäckern und harmonierenden, sorgsam geführten Garderoben – wo ist die Ehrlichkeit, die Anarchie der Authentizität? Hören die nachts heimlich Britney Spears? In meiner Brust stecken unzählige Menschen, eigenartige Menschen, lustige Menschen, widersprüchliche Menschen. Ich kann mich nicht auf eine Formel bringen und sagen: Blur, ganz klar Blur – niemals Oasis.“
Die Widersprüchlichkeit markiert sich in der Textgestalt auch durch changierende Erzählposition. Das Für und Wider pendelt hin und her und erhält keine Ruhe und bekommt keine Perspektive. Der Plot bricht sich gegen Ende des Buches bahn und überzeugt gerade dort, wo er nichts erklären, nichts eruieren, begründen, konzentrieren will, wenn das Erzählen überhand gewinnt und die Gefahr beschrieben wird, in die Jules gerät, ein selbiges Leben wie ihre Mutter zu führen:
„Als Thilo fragte, ob sie ihn heiraten wolle, quiekte die Mutter vor Freude, der Vater lächelte weinselig, Max sah auf seine Uhr, der Arsch, und Clementine machte ein Foto. Julia schwitzte. Sie starrte ihn an, sie konnte nicht sprechen, er lachte schüchtern. Julia? Schatz?, sagte er leise.
Okay, sagte sie schließlich und fragte sich gleichzeitig, ob man das so sagte.“
Claudia Schumachers Erstling verdichtet sich dort, wo er Stil und Rhythmus eines typischen Genreromans annimmt wie Nancy Prices Roman „Der Feind in meinem Bett“ oder Bret Easton Ellis‘ „American Psycho“. Das Erzählerische spielt mit Farben und Formen und hüllt die Ereignisse unter einen gruseligen Schleier ein. Wo aber aus der Ich-Perspektive Jules/Julias erzählt wird, bleibt der Text dem eigenen Motto verhangen, das Louise Glücks Gedicht von der unzuverlässigen Sprecherin (The Untrustworthy speaker) zitiert:
„Man kann mir nicht trauen.
Denn ein verwundetes Herz
ist auch ein verwundeter Geist.“
Am Ende bleibt dann eben die Frage, ob über Gewalt überhaupt reflektierend geschrieben werden kann, oder ob Gewalt nicht eben ein Fremdes bleibt, etwas, das ein Ich zwar erfährt, aber ein Ich, das sich seiner selbst bewusst ist, gar nicht ausüben kann. Diese Frage so minutiös herauszuarbeiten, bleibt Schumachers verdienst, auch wenn literarisch über weite Strecken der Funke nicht überspringt.
Annika Büsing: „Nordstadt“

Literarisch antizipierter Ausbruchsversuch
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Annika Büsings Debütroman zeichnet sich vor allem durch seine Unumwundenheit aus. Die Ich-Erzählerin Nene nimmt kein Blatt vor dem Mund und plaudert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie springt zwischen den Erinnerungen und Themen umher und berichtet von ihren Erfahrungen mit Boris, in den sie sich verliebt und der an einer verkrüppelten Fuß leidet. Sie stört sich aber weniger an seinen Fuß als ein wenig an seinen Zähnen:
„[Boris] hatte keine guten Zähne. Also gut waren sie schon, aber schief, und schiefe Zähne, die brandmarken einen Menschen irgendwie, finde ich. Aber vielleicht finde ich das nur, weil ich mit Zac Efron und Florian David Fitz aufgewachsen bin. Deren Zähne sind einfach perfekt. Und wenn ihre Leben noch so scheiße sind, einsam und erbärmlich, ihre Zähne rocken. Boris fand das oberflächlich.“
Wie der Abschnitt zeigt, handelt es sich bei „Nordstadt“ um eine besondere Form des Jugendbuches in Jugendsprache. Die Sätze sind kurz. Die Themen klar um Sexualität, um Eltern, Schule und das langsame Hineingleiten in das Erwachsenenleben zentriert. Die Erinnerungen an die Kindheit dominieren die Assoziationsverläufe und der Bezug zu den Eltern die relevanten Werthorizonte:
„Boris hasst Menschen im Allgemeinen. Das unterscheidet uns stark voneinander. Ich hasse einige Menschen bis aufs Blut: meinen Vater und meine Mutter, obwohl sie tot ist, und alle Menschen, die anderen Menschen (oder Tieren) wehtun.“
Büsing behandelt in ihrem Roman die Themen Impfen, häusliche Gewalt, Leistungsdruck, Altersarmut und weitere Problembereiche in einer sozial ausdifferenzierten, von sozioökonomischer Ungleichheit geprägten Welt. Literarisch wird „Nordstadt“ ab der Hälfte seines sehr knappen Umfanges, wenn über Wiederholungen deutlich wird, dass es sich eher um eine Ballade, um eine Art Prosagedicht, Rap oder Rezitativ handelt, denn um einen breitangelegten fiktionalen Text:
„Dann gibt es noch all die Erlebnisse, bei denen er [Boris] festgestellt hat, dass er Dinge nicht kann, die andere können. Und das ist jetzt ein ständiger Schluckauf: Das kannst du nicht. Es kommt hoch und er kann nichts dagegen tun. Das kannst du nicht. Rammt sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, in alles Schöne. Das kannst du nicht. Leute haben es gesagt oder er hat es festgestellt.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.“
„Nordstadt“ von Annika Büsing besitzt insofern viel mehr Ähnlichkeit mit Julia Engelmann und ihren Sprech- und Poetryslam wie in „Lass uns mal an uns selber glauben“ als etwa mit einer Valerie Fritsch und ihrem Debütroman „Winters Garten“. Büsing lotet den Graubereich zwischen Sprechen und Schreiben, zwischen Gedicht und Erzählung aus und gewinnt am Ende einen gewissen Mut dadurch, dass Grenzen aufgewiesen werden, die allzu einengend beim Lesen empfunden werden können. Die Hoffnung besteht in antizipierten literarischen Ausbruchsversuchen, der als antizipierter hier noch nicht vollzogen wurde.
Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Ein Anti-Entwicklungsroman: Das Chthonische schlägt zurück.
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Neben den vielen aktuellen Coming-Of-Age-Romanen lohnt sich hier und da ein Blick zurück. Als gegenwärtige wären da u.a. zu nennen: Ariane Kochs „Die Aufdrängung“, Benedict Wells „Hard Land“, Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig“, Eckhart Nickels „Spitzweg“ oder Stephen Kings „Später“. All diese konzentrieren sich sehr auf die emotionale Berg- und Talfahrt im Erwachsenenleben, weniger aber auf das sogenannte Intellektuelle oder Geistige. Anders hier, in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“:
„Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg, den [Törleß] gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini misshandelt? – so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint. Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.“
Der Plot lässt sich schnell umreißen. Zwei Jugendliche quälen, missbrauchen einen vierten, und Törleß als Vierter, springt mal dem Opfer, mal den Tätern unentschieden und mal aus geistiger, begehrlicher, moralischer oder zufälliger Hinsicht zur Seite. Die Struktur speist sich aus dem Ungenauen, das sich in Törleß abspielt, der kein Held gewöhnlicher Gestalt ist. In ihm verkörpert sich vielmehr ein gewisses zivilisatorisches Erlahmen, eine vorweggenommene Gestalt dessen, was als gescheiterte Aufklärung knapp zwanzig Jahres später Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ umreißen sollte. Auf den Text bezogen, Törleß vermag nicht mit intellektuellen Mitteln sein Begehren, seine Leidenschaft, seine Lust zu durchschreiten und verfällt er deshalb umso barbarischer und verantwortungsloser:
„Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, – aber hastig und ohne mehr auf die Form zu achten. »Ich fühle«, notierte er, »etwas in mir und weiß nicht recht, was es ist.« Rasch strich er aber die Zeile wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: »Ich muss krank sein, – wahnsinnig!« Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet sich angenehm pathetisch. »Wahnsinnig, – oder was ist es sonst, dass mich Dinge befremden, die den anderen alltäglich erscheinen? Dass mich dieses Befremden quält? Dass mir dieses Befremden unzüchtige Gefühle« – er wählte absichtlich dieses Wort voll biblischer Salbung, weil es ihn dunkler und voller dünkte – »erregt? «“
Dieser Coming-of-Age-Roman beschreibt, wie kein anderer, das Nicht-Coming-of-Age, denn Törleß verbleibt unentschieden, pendelnd, unsicher inmitten der Dinge, ohne Verantwortung und Selbstbewusstsein zu erlangen. Das Kalte und Leere, das sich in den Versuchen von Törleß widerspiegeln, steigern im Text sich zum Gespenstigen, zu einer Art unheimlichem Nachvollzugs eines Scheitern, eines Selbst, das vor sich zurückschreckt und letztlich in sich zusammenfällt. Das Grauen erinnert an Edgar Allan Poes Der Fall des Hauses Usher oder Das verräterische Herz. In Musils Debütroman vereist sich das Denken zu einer psychopathologischen Pattsituation, aus dem Törleß nicht mehr herausfindet:
„So wie ich [Törleß] fühle, dass ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, dass etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist ….“
Musil beschreibt das Heranwachsen eines unempfindlichen Individuums, das sich nur für die eigenen Sensationen, für den eigenen Thrill interessiert, und bereitet den Weg für die Darstellung von Figuren wie Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho“ oder wie in Truman Capotes „Kaltblütig“. Auf seine Weise steht Musils Entwicklungsroman sehr eigenständig dar, eine vorweggenommene Ausdeutung dessen, was später die Dialektik der Aufklärung genannt wird und begrifflich das Scheitern der Aufklärung selbst zementiert. Das Chthonische hallt nach und schlägt in der Persona Törleß, ohne ein Wässerchen zu trüben, ungemindert zurück.
Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“

De- und Re-Radikalisierung als poetisch-ästhetisches Prinzip
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Juli Zeh und Simon Urban haben einen Brief-, also E-Mail-/Whatsapp-Roman verfasst. Die Gattungsbezeichnung „Roman“ auf dem Cover verweist darauf, dass die beiden Hauptfiguren und/oder die Handlung selbst allein der Imagination der Autorin und des Autoren entsprungen sind. Der Umstand, dass zwei Namen, einer groß und rot, Juli Zeh, der andere kleiner und schwarz, Simon Urban, auf dem Cover gedruckt worden sind, klärt über eine schwebende Autorenschaft auf. Es bleibt auf diese Weise völlig im Unklaren, wer für was sich verantwortlich zeichnet und hierin steckt wohl auch die versteckte Botschaft des Romans, die fehlende Zurechenbarkeit, und daher sein Name „Zwischen Welten“:
„Es ist schön, hier zu sitzen. Nur ich und der Bildschirm. Draußen ist es noch ganz ruhig, keine Leute auf dem Hof, kein Maschinenlärm. Manchmal schreit eine Kuh. Ich kann abtauchen in meine innere Welt. In den unendlichen Kosmos der Wörter. Für dich ist das normal. Für mich ist es wie vier Wochen Tauchurlaub auf einer inneren Insel.“
Die „Zwischen Welten“ beziehen sich insofern auf den digitalen Kosmos zwischen den Briefschreibenden. Von Bildschirm zu Bildschirm findet die Kommunikation zwischen Theresa Kallis und Stefan Jordan statt. Beide haben gemeinsam studiert und über Literatur diskutiert, lebten in einer Wohnung, aber führten damals keine Liebesbeziehung. Zumindest Stefan betrauert dies explizit. Theresa brach ihr Studium ab, um den Bauernhof ihres Vaters zu übernehmen, und Stefan stieg zum stellvertretenden Chefredakteur der, innerhalb der Romanwelt bedeutsamen, Wochenzeitung „Der Bote“ auf. Hier setzt die Handlung an. Vielmehr das Gespräch:
„Hallo Tessa, normalerweise stört es mich nicht, dass ich allein lebe – alleine bin, muss man wohl sagen. Aber jetzt fällt mir plötzlich auf, dass da niemand ist, wenn ich nach Hause komme. Niemand, dem/der ich Herz und Hirn ausschütten könnte. Ich sitze mit dem dritten Gin Tonic am Fenster und starre raus zum Wasserturm. In meinem Kopf ein Gedanken-Stausee, und niemand da, um den Stöpsel zu ziehen. Die Stille in der Wohnung ist aufdringlich. Ich habe es mit lauter Musik versucht. Aber man kann die Einsamkeit nicht per Spotify abschalten. Dadurch wird sie nur noch größer.“
In völlig unvermittelter Alltagssprache deckt der Roman den Zeitraum vom 05. Januar bis 04. Oktober 2022 ab. In E-Mails und Whatsapp-Nachrichten beleidigen, bekriegen, umflirten und umschwärmen sich Theresa und Stefan gegenseitig, suchen den Halt im anderen, den sie aus sich heraus nicht mehr zu finden vermögen. Sie kommen aus verschiedenen Welten. Sie haben verschiedene Lebensrealitäten. Sie reden aneinander vorbei, radikalisieren sich auf ihre Weise, de-radikalisieren und re-radikalisieren sich bunt umher. Planlos sind beide. Überfordert, mitgenommen, von Problemen und Herausforderungen der Gegenwart aus dem Gleichgewicht gebracht, wirken sie wie Marionetten und Spielbälle unbekannter, unsichtbarer Kräfte, nämlich der digitalen, entfremdeten, unnahbaren Globalisierungs- und Internet-Welt. Theresa:
„Während der Fahrt habe ich an dich gedacht. Ich bin immer noch wütend auf dich, dabei sollte ich vor allem auf mich selbst wütend sein. Der Depp bin ich. Normalerweise lege ich solchen Wert auf Sachlichkeit, aber von dir habe ich mich voll aufs Glatteis führen lassen. Ein digitaler Flirt, ein bisschen träumen. Ponyhof für Erwachsene.“
Und als vermittelte Antwort irgendwann Stefan:
„[Die Illusion] lindert den Schmerz für einen kleinen Moment. Wir haben beide gekämpft und verloren, Theresa – jeder auf seine Weise.“
Zehs und Urbans „Zwischen Welten“ thematisiert alles, was gegenwärtig in den digitalen Sphären Rang und Namen hat. Der Roman kreiert zwar Figuren, aber er hat keinen eigentlichen Plot. Der gegenteilige Fall tritt häufiger auf, nämlich bei Unterhaltungsromane, die mit viel Handlung, aber wenig Figuren aufwarten können. Dies allein erlaubt es „Zwischen Welten“ jedoch nicht, sich von anderen Texten dieser halbjournalistischen Machart abzuheben. Die Sprache kratzt nicht an der Oberfläche. Sie wischt an ihr vorbei.
„Man könnte ja auch sagen: Cooles Projekt, eindeutig politische Kunst. Genauso muss man es machen – eingefahrene Kommunikationsbahnen verlassen, aufrütteln, die Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien bedienen. Nur so geht etwas voran.“
Zudem, was in der Gegenwartsliteratur häufiger der Fall ist, verrät der Roman seine eigenen Figuren. Er fällt ihnen ins Kreuz und lässt sie erbärmlich und schwach und lächerlich dastehen. Beide, Theresa wie Stefan rennen Anerkennung, Lobhudelei hinterher, schmollen, tanzen, leben in einem manisch-depressiven Auf-und-Ab durch den Tag und träumen von der ganz ganz großen Liebe. Sie träumen von einer gemeinsamen Pilgerreise zu Martin Walsers-Haus am Bodensee oder von einer Flucht verkleidet als Bonny und Clyde nach Palermo. Sie träumen von einer besseren Welt, während um sie herum, so der Roman, alles in Schutt und Asche fällt.
Kurz: Zeh und Urban mögen die gegenwärtige Debattenkultur genauso wenig wie ihre Hauptfiguren. Wer also Freude daran hat, etwas nicht zu mögen, wird in „Zwischen Welten“ fündig werden.
Arno Geiger: „Das glückliche Geheimnis“

Von Altpapiertonnen und anderen Hindernissen, sich selbst zu finden.
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Ralph Waldo Emerson schrieb 1841 in sein Tagebuch: „An die Stelle von Romanen werden schließlich Tagebücher oder Autobiographien treten […]“ – die Veröffentlichungen dieser mehren sich tatsächlich; aber was sich auch mehrt, sind Bücher, die weder in die Schublade Romane noch in die von Erzählungen oder Autobiographie oder Sachbuch fallen. Sie sind vielmehr Interjektionen, lange Briefe, öffentlich zugängliche Transkripte von einem Monolog, wie es scheint. Arno Geigers neuestes Buch „Das glückliche Geheimnis“ gehört dazu. Es besitzt die Form eines Bekenntnisses, einer öffentlichen Beichte, wie das Grass’sche Häuten einer Zwiebel:
„In der Welt der Geheimnisse gibt es jetzt ein Geheimnis weniger. Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet. Der dunkle Deckmantel meines Doppellebens liegt am Boden. Weil ich es so will. Und warum? Um zu versuchen, endlich der zu sein, der ich bin? Oder um mich endgültig abzusondern und zu sagen, ich gehöre nicht zu euch? Vermutlich ein bisschen von beidem. Auf alle Fälle erfordert es Überwindung, mich zu zeigen. Gleichzeitig weiß ich, dass das Sichzeigen andere Möglichkeiten birgt, andere Freiheiten.“
Das Geheimnis, das Geiger nun öffentlich preisgibt, besteht in seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung: Er klettert gerne in Altpapiertonnen und sucht nach Büchern, Briefen, Dokumenten aller Art. Er untersucht sie, liest sie, verwendet sie selbst für seine Texte oder verkauft sie dann auf Flohmärkten. Anhand dieses, seines bislang geheim gehaltenen Hobbys, erzählt er von der Geschichte und Entstehung seines bislang veröffentlichten Gesamtwerkes. Chronologisch werden die Inspirationsquellen seiner Romane abgeklappert und mit Hintergründen versorgt. Es ist also im Grunde eine Retrospektive mit privat-intimem Einschlag:
„Mir ist klar, ein Buch über mich selbst, das ist schwierig, schwieriger als ein Roman. Ich bringe das Erlebte in eine erzählbare Ordnung und bin gleichzeitig viel zu sehr Künstler, als dass eine Art Chronik entstehen könnte. Ich bemühe mich um Aufrichtigkeit, ja klar. Aber auch Aufrichtigkeit ist eine persönliche Sicht der Dinge und nicht realisierbar, selbst nach den strengsten Richtlinien. Das Erzählte ist nie wahr.“
Geiger bespricht alles kursorisch, nichts gründlich. Er verharrt nirgendwo länger und schreitet schnell voran. So erzählt er sein Leben und seine verschiedenen Liebesbeziehungen, die Geschichte seiner Eltern und die Krankheiten, die diese im Alter ereilen. All dies aber nie detailliert und langsam genug, dass sich ein Eindruck ergäbe. Vielmehr scheint Geiger davon auszugehen, dass sein Publikum bereits alles über ihn weiß bis eben auf sein Altpapiertonnen-Herumwühlerei. Nur sehr selten wird die Sprache etwas narrativer, stilistisch-raffinierter:
„Doch während meine Vorfahren diesen finster heraufkriechenden Morgen auf dem Land kannten mit Feuermachen und den im Stall sich rührenden, rumpelnden Kühen, kenne ich ihn in der Großstadt, wo die Füchse geduckt, scheu um sich spähend, zu ihren Bauten zurückkehren, bevor die Leute mit den selbstbewussten Hunden Spaziergänge machen. Die Eichkatzen suchen sich ein Frühstück.“
Diesen Morgen kennt er von seinen Runden durch die Innenhöfe, um die Mülltonnen nach Brauchbaren zu durchsuchen, und solche Sätze sind Mangelware in dem kurzen und knapp gehaltenen Buch über Geigers glückliches Geheimnis. Die meisten Sätze sind so kurz wie der Inhalt offensichtlich ist. Wer also schon immer mal mit Arno Geiger eine Unterhaltung führen wollte, ist mit dem Kauf dieses Buches gut beraten, und wer immer schon einmal von Arno Geigers Liebesgeschichten mehr wissen wollte, der erfährt auch ein paar pikante Details, wer aber Arno Geiger im Grunde nicht kennt und höchstens seine Bücher interessant findet, wird es vielleicht schwerer haben, die Lektüre voranzutreiben.
Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“ ähnelt sehr Emmanuel Carrères „Yoga“, Martin Walsers „Das Traumbuch“, Jan Faktors „Trottel“ oder Ferdinand von Schirachs „Nachmittage“. Es besteht aus kleinen Anekdoten rundum sein Leben, nur wohlerzogener und sprachlich etwas vorsichtiger und auch humorloser.
Marie Gamillscheg: „Aufruhr der Meerestiere“

Lakonische Traumaverarbeitung mit dystopischen Abgründen
Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…
Mit „Die Verwirrungen des Zögling Torleß“ debütierte einst Robert Musil. In ihm ging es um die Abgründe beim Aufwachsen innerhalb eines Internats, um die Probleme, die Welt intellektuell und emotional zu verarbeiten. Mit anderen Worten, es wurde die Entwicklung eines mehr oder weniger anschlussfähigen Narratives nachvollzogen, mittels dessen sich der Jugendliche zu orientieren und der Erwachsenenwelt zu stellen versuchte. Marie Gamillscheg unternimmt in „Aufruhr der Meerestiere“ Ähnliches, nur etwa ein Jahrzehnt um die Studienjahre an der Universität verzögert und mit Luise, einer Nachwuchswissenschaftlerin, als Protagonistin:
„Luise musste raus aus dieser Wohnung. In Eile legte sie sich Schicht um Schicht auf, dunkle Schminke, helle Schminke, Puder, übermalte das Kind, zog sich die Erwachsene mit einer leichten khakifarbenen Jacke an, fast Blazer, aber eben doch nicht, gerade noch Jacke, gerade noch schick genug, gerade noch so, dass es aussah, als würde man sich keine Gedanken machen. Sie strich ihre Augenbrauen gegen den Strich und wieder zurück, sie fasste sich an die Wangenknochen. Würdest du für ein schöneres Gesicht töten? Die Landschaft sagte: Natürlich.“
Luise forscht an der Meerwalnuss, einer Qualle, deren lateinische Bezeichnung „Mnemiopsis leidyi“ lautet und an die Worte „Mnemosyne“ und „Leid“ gleichermaßen erinnert. In der Tat handelt es sich bei Gamillschegs Roman um eine Spurensuche in der Vergangenheit. Die Protagonistin versucht mittels Introspektion eine Standortbestimmung durchzuführen, zwischen Graz und Kiel, zwischen Wissenschaft und Privatleben, zwischen der Erwachsenenwelt und ihren Kindheitserinnerungen. Motiviert wird die Introspektion durch das Leid an ihren Essstörungen, an ihren Beziehungsproblemen, an den im Dunklen liegenden, verstörenden Kindheitserlebnissen mit dem Vater und der Untreue der Mutter, die in der Scheidung der Eltern gipfelten.
„[Luise] hörte, wie die Mutter sich von der Musik wegbewegte, wie sie eine Tür öffnete und schloss, dann sagte sie: Ich glaube, die Männer sind mit mir zusammen, weil sie vor dem Tod weglaufen. Und du bist mit ihnen zusammen, weil du nicht alleine sein willst? Ich bin mit ihnen zusammen, damit ich mehr über den Tod weiß als alle anderen. Luise legte auf. Dieser Abend im Wohnzimmer, als sie von der Trennung der Eltern erfuhr. Vor ihr der Fernseher, in dem jeden Samstagvormittag Schilling die Welt erklärte, jetzt war der Bildschirm schwarz.“
In lakonischer Weise werden die Tage einer Dienstreise nach Graz erzählt. Luise pendelt zwischen der Wohnung des Vaters und dem Grazer Zoo hin und her, hält Vorträge, erinnert sich, besucht die Mutter und sorgt sich um den Vater, der bei Luises Bruder nach einem Herzinfarkt gepflegt wird. Vermittelt wird der Plot durch Beschreibungen und Spekulationen rundum die Meerwalnuss:
„[Luise] erzählte [Juri] von der Meerwalnuss, diesmal nicht, um ihn zu beeindrucken, sondern um ihm zu beweisen, dass es ihr wirklich nicht um Titel und Einladungen ging, sondern dass es für die Welt wichtig war, von diesen Tieren zu erfahren und zu lernen, wie sie sich so massiv ausbreiten und selbst im schlimmsten Gewässer überleben konnten. Juri schwieg dazu. Verstehst du denn nicht, sagte Luise. Da ist ein Aufruhr in den Ozeanen, von dem niemand wissen will.“
Zwischen Anorexie, angedeutetem Kindesmissbrauch, zwischen Klimawandel und Naturkatastrophen und den Problemen einer jungen Wissenschaftlerin, innerhalb der akademischen Forschung ernstgenommen zu werden, pendelt der Roman stilistisch konsequent unentschieden herum. Die Welt liegt zersplittert vor der Protagonistin und lässt sich so einfach nicht mehr zusammenfügen. Das Narrativ existiert schlichtweg nicht. Die Ordnung der Dinge rückt in weite Ferne.
Auf seine Weise bildet der Roman die Zusammenhangs- und Haltlosigkeit von Luises Welt formal wie inhaltlich sehr überzeugend ab. Er erinnert deshalb an Sylvia Plaths „Die Glasglocke“, nur ohne die intensiven Bilder, und auch Musils „Törleß“, nur ohne die philosophischen Einlagen und psychologischen Reflexionen, oder an Judith Hermanns „Sommerhaus, später“, nur ohne Nostalgie und sich selbst genügsamer lyrischer Sentimentalität. Der Roman bleibt in seinen Abgründen stecken, und das ist wahrscheinlich auch so gewollt.
Robert Menasse: “Die Erweiterung”

Ungeduldiges Erzählen den Nachrichtenticker entlang
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Romane haben es in der Tat schwer im Zeitalter der aufmerksamkeitserheischenden Schnellmeldungen und -medien. Ihnen fehlt es oft an Pointiertheit, Schnelligkeit, an Rasanz. Wie nun diese Forderung mit der modernen Erzählhaltung der Zeitdiagnose verbinden? Wie von einer unübersichtlichen Welt knapp und schnell übersichtlich berichten? Es hört sich wie die Quadratur des Kreises an, und ist es auch. Robert Menasse nimmt den Stier dennoch bei den Hörnern und versucht das Unmögliche:
„Darunter die Blätter zum Abreißen. Auf jedem war untereinander vermerkt: Monat, Woche, Tag, Wochentag, Geburtstage, Namenstage und ein Sinnspruch, Zitat oder Aphorismus. Schwarz auf weiß, nur die Sonntage waren rot. Er riss das Blatt vom Vortag ab. Heute war September, 39. Woche, der 23., Mittwoch, geboren war an diesem Tag Jimi Hendrix (1942), Namenstag hatten Jakob, Ute, Virgil und Modestus. Darunter stand der Satz des Tages: »Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. G. W. F. Hegel«“
Menasses neuester Roman „Die Erweiterung“ handelt von einer Balkankonferenz mit dem Thema EU-Südosterweiterung, die Polen veranstaltet und in die Albanien große Hoffnungen setzt, um das Ziel EU-Mitgliedschaft schnell zu erreichen. Vorangetrieben wird die Handlung durch Polens und Albaniens Spiegelhaftigkeit. Polen, bereits Mitglied der EU, beugt sich nicht den Justizreformen. Albanien, noch kein Mitglied, setzt alle Mittel in Bewegung, um alsbald eines zu sein. Träger der Handlung sind hauptsächlich Adam aus Polen nun in Brüssel und Ismail in Tirana, beide sind jeweils von ihren besten Freunden, Mateusz und der ZK, jeweils Ministerpräsidenten, enttäuscht worden. Beide haben sich Großes erhofft. Beide müssen der Realität in die Augen sehen:
„Adam und Mateusz, die blutjungen Widerstandskämpfer, noch halbe Kinder, standen an diesem Tag an einem Fenster der Anwaltskanzlei Guciński i Synowie, der anerkannten Rechtsvertreter der Solidarność, an der Ulica Marszałkowska, und blickten hinunter auf die Fahnen schwingende Menge. Neben ihnen, als Zeugen des grotesken Gesprächs zwischen Adam und Mateusz, standen Senior-Anwalt Jakub Guciński und der Soldat der Kämpfenden Solidarność Piotr Szczęsny – der kurz vor der Befreiung euphorisch, nach der Wende aber enttäuscht war, depressiv wurde und sich später selbst verbrennen sollte.“
„Die Erweiterung“ zeichnet sich durch einen kriminologischen Stil aus. Viele Cliffhanger verlocken zum schnellen, fast oberflächlichen Lesen. Ein-Wort-Sätze jagen einander. Dialoge, nur skizziert, zeigen, dass die Erzählhaltung alles zur Sprache kommen lassen will, aber deshalb, unterschiedslos, nur eine Makulatur von Erzählung, Roman, ja Literatur zustandebringt. Die Figuren doppeln sich. Ganze Sätze wiederholen sich. Wie auf einem Reißbrett entworfen hangelt sich der Plot von einer Pointe zur nächsten. Leicht lesen lässt es sich durch die Vielzahl an Handlungsfäden. Die zur Chiffren reduzierten Sätze lassen so etwas wie Langeweile gar nicht erst aufkommen.
„Kommissar Franz Starek war ein zutiefst lethargischer Mann. Man durfte aber seine Lethargie nicht mit Gemütlichkeit verwechseln, er konnte sehr ungemütlich werden. Er hatte seine unverbrüchlichen Vorstellungen von Moral, vom korrekten Leben, von Anstand, und nach zwanzig Jahren in leitender Position, die zugleich wegen seines Mauerblümchen-Daseins in der Institution eine Karriere-Sackgasse war, jene Gelassenheit, die in Wien mit »sich nix sch[…]ßen« bezeichnet wurde. Wenn ihn etwas hochgradig irritierte oder wenn er etwas für falsch hielt, dann konnte er selbst hochrangige Beamte im Bundeskriminalamt so anbrüllen, dass sie mit Verdacht auf Tinnitus in Krankenstand gingen.“
Selbstredend lässt sich ein lethargischer Mann mit cholerischen Anfällen genauso wenig vorstellen, wie jemand, der gelassen und gemütlich ist und unverbrüchliche Vorstellungen von Moral, von Anstand besitzt, aber seine Kollegen ins Krankenhaus schreit. Diese Skizzierung zeigen schon die Schwächen wie die Stärken von Robert Menasses neuestem Roman „Die Erweiterung“. Er versucht erst gar nicht eine verbindliche, überzeugende Welt zu schaffen. Dem Effekt wird alles untergeordnet. Franz Starek, bspw., kann aufgrund solcher Beschreibung keine Figur werden, da ihr alles und jedes zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu tun erlaubt ist. Langweilig wird der Roman genauso wenig wie Fahrstuhlmusik. Sie gibt dazu keinen Anlass. Menasse auch nicht. „Die Erweiterung“ gleicht in vielerlei Hinsicht Orhan Pamuks „Die Nächte der Pest“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Diese Romane kapitulieren vor ihrem eigenen Erzählgegenstand und verlieren sich in Selbstironie und Selbstbezichtigung. Ihnen geht es wie Franz, der über ein Bier mit seinem Cousin über die Vergänglichkeit räsoniert:
„Sie philosophierten über das Vergehen der Zeit, und darüber, dass sie plötzlich nicht mehr offen vor ihnen lag. Manchmal denke ich, nicht die Zeit vergeht, wir vergehen, bis wir nicht mehr hineinpassen in die Zeit, wie sie ist. Du mit deinen Sprüchen! Dann wieder Schweigen, Nippen am Bier. Am Ende eine Umarmung. Danke, hat er gesagt.“
Aber vielleicht ist es ein unterschätztes Kunststück, ein langes Buch zu schreiben, das nichts zurücklässt. Sollte dem so sein, ist es Robert Menasse als Zeitkritik durchaus gelungen.
Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“

Von Mitmenschen und anderen Hindernissen
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Slata Roschals Roman „153 Formen des Nichtseins“ beginnt beschwerlich. Die Sprache ist trocken, einfach, fast schnöde und einfallslos zu nennen. Dokumentarisch, in Copy&Paste-Manier wird von den Zeugen Jehovas, von dem Leben einer russischsprachigen Familie in Nordostdeutschland, von den Wünschen und Träumen, den Siegen und Niederlagen eines heranwachsenden Teenagers geschrieben, der zudem früh Mutter wird und sich zugleich in der akademische Landschaft zu behaupten versucht. Keiner Wunder, dass da viel auf der Strecke bleibt:
„Auch wünschte ich mir vieles, Unsterblichkeit zum Beispiel für Emil und Artur, oder meinen Tod als ersten, dann wären sie aus meiner Perspektive unsterblich geworden, ich wünschte mir, endlich ein Buch und dann ein zweites zu schreiben, meiner Existenz damit einen Sinn zu verleihen, sie umzuleiten ins Produktive, ich wünschte mir immer schon eine Katze und guten Tee in einer antiken Keramikdose, die nie leer wird, wünschte mir, sechs Kilo weniger zu wiegen, einmal in die Karibik zu fahren, nach Australien zu ziehen, aber deswegen erlaubte ich es mir noch immer nicht, an eine Neue Welt zu glauben.“
Thematisch wird alles durcheinander gewürfelt und stilistisch auch. Es gibt Dialogformen wie in einem Theaterstück. Es gibt Wörterbuchausschnitte, Tabellen. Es gibt Briefe, E-Mails und Zeitungsannoncen, auch Ebay-Inserate und Lobgesänge aus den Gesangbüchern der Zeugen Jehova, sogar Interviews und Sprachbögen zum Selbstausfüllen und eine Seite für eigene Notizen. Nur richtig erzählt wird nicht. Erzählung, Plot, Spannung, narrative Einbettung? Fehlanzeige. Literatur als bloßer Selbstverständigungsprozess:
„Immer schon hatte ich gesagt, ich will Schriftsteller werden, nicht Bankkauffrau, nicht Bibliothekarin, auch keine Schriftstellerin, immer Schriftsteller, seit der Grundschule. Und wenn ich es immer gesagt und ernst gemeint habe und es nachweisbar ist durch Tagebücher, Schulzeitungen und Zeugenaussagen, warum, wie sollte ich etwas anderes werden, wo es das Einzige ist, das ich jemals werden konnte.“
Die Voraussetzung, es werden zu müssen, weil nichts anderes möglich ist, ist denkbar schlecht, auch für gelungene Prosa. Um Prosa handelt es sich auch kaum, eher um eine sehr avancierte Form eines epischen modernen Gedichtes, in denen die aperçus, Aphorismen, kurzen Kapitel und Abschnitte wie Strophen gleichen, balladeske Verformungen des Alltags, eine Ode auf den Selbstbehauptungsversuch mit allen Fallstricken und Niederlagen und kleinen Siegen.
„Ausgerechnet am gleichen Tag fragt mich eine Konferenzteilnehmerin, wo ich herkomme, ursprünglich. Ich erröte, zucke, öffne weit den Mund und spucke aus: Aus Sankt Petersburg. Sie nickt, sie kennt die Stadt, viel besser als ich, und ich hasse sie dafür ‒ und für ihre Frage. Sie ist dick, denke ich mir sofort, mit einem riesigen Hintern, was soll sie mir zu sagen haben, aber der Stachel bleibt und ich bin froh, dass die Konferenz zu Ende geht und diese Frage nur einmal gestellt wird. Damit es auch dabeibleibt, setze ich mich in der Mittagspause von allen weg und ziehe ein so grimmiges Gesicht, dass es keiner wagt, sich neben mich zu setzen.“
Gehasst wird in „153 Formen des Nichtseins“ sehr viel, die Eltern, das System, die Not, die Armut, das sinnlose Jobben, die Verlogenheiten und Erbärmlichkeiten der Mitmenschen. Was aber dürftig beginnt, muss so nicht enden. Slata Roschal gelingt das Kunststück, dass eine Art Sound entsteht, eine Weltgefühl transportiert, tatsächlich eine Färbung und Konkretion entsteht, die Authentizität nicht zur bloßen Phrase verurteilt. Pointillistisch und impressionistisch ergibt sich eine verschrobene Form, die Lust auf mehr macht. In Schreibhaltung und Emphase Marlen Haushofers „Die Wand“ und Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ sowie Ingeborg Bachmanns „Malina“ verwandt, erreicht sie stilistisch nicht deren Intensität und Kondensiertheit, aber vieles deutet darauf hin, dass „153 Formen des Nichtseins“ viele Schritte (153?) in die Richtung gewesen sind.
Noemi Somalvico: „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“

Farm der Tiere, nur friedlich.
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Verlorenheit, Sinnlosigkeit, Einsamkeit kennen alle irgendwie. Noemi Somalvico verlässt geschlechts- und kulturspezifische Kontexte, Zeit und Raum lokalisierte Klischees, indem sie diese Gefühle von Tieren ausleben und aussprechen lässt. Hier spielt nichts mehr als der emotionale Gefühlszustand eine Rolle. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ impliziert keine exkludierende Ursprungssuche. Gott und die Welt der Tiere leiden und wissen das auch:
„Zu Hause setzt Gott sich vors System. Er schaut zu, wie sich die Erde dreht. Er schaut zu, wie der Mond leuchtet. Dann setzt er die Fernbrille auf und guckt in eine Stadt. Guckt in ein Haus, in eine Wohnung, schaut einem Schwein zu, das mit geschlossenen Augen, genau wie er gestern, an einem Tisch, vor einem leer gegessenen Teller sitzt. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.“
Die Sprache ist pointiert, kurz, rhythmisch, schnörkellos. Sie agiert bauklötzenhaft, stereotypisch, atomar gleichförmig und unterstützt das erzählerische Setting, das den Tieren das Geheimnisvolle lässt. Die ganz und gar nicht psychologisierende, reflektierende, in sich zurückgebogene Beobachterperspektive hält einfach die Kamera aufs Geschehen. Das Schwein leidet. Der Dachs erfindet. Gott langweilt sich. Das Reh ist traurig. Hirsch und Biber sind gemein und nicht an dem Reh, respektive dem Schwein interessiert. Was also tun? Zum Glück hat Dachs eine Maschine entwickelt, die eine Reise zu Gott erlaubt und Gott selbst überrascht:
„Er gab den Apparat Gott. Sein Gewicht war beachtlich für die unauffällige Grösse. Ein Hebel, links stand Hin und rechts Zurück. Darunter leuchtete ein Lämpchen grün.
»Sie sind quasi mein Erzeuger«, sagte Dachs.
Da hätte Gott das Ding beinahe fallen lassen. So was hatte in aller Ewigkeit noch nie jemand zu ihm gesagt.“
Der locker und leicht geschriebene Roman besitzt heitere und traurige, teilweise sehr bedrückende Momente. Leicht hat es weder Schwein noch Reh noch Gott. Der Kosmos spielt irgendwie nicht mit. Zum Glück haben sie einander, und so bilden sie eine unwahrscheinliche WG, die sich insbesondere darin auszeichnet, dass sie sich gegenseitig nicht zu bekehren, zu verändern, zu manipulieren versuchen. Schlussendlich gehen sie auf eine Reise in das Jenseits, das sich als Wüste und dann als 3-Sterne-Ressort entpuppt, in welchem jedoch Gott schwer erkrankt:
„Am folgenden Abend ist es Dachs, der fragt: »Was ist das für ein Ort?«
Schwein meint dieses Mal, es spiele wohl kaum keine Rolle, wo sie sich aufhalten. Es wäre ihm bei bestem Wille nichts Schöneres eingefallen fürs Jenseits. Der Himmel in der Ferne wird bisschen rot, bisschen violett.
Gott fröstelt.“
Der kurze Roman überzeugt durch seine Pointiertheit. Die Maschine vom Dachs wird genauso wenig erklärt, wie die Probleme der Hauptfiguren auf Situationen und Konflikte zurückgeführt werden. Es passt nicht. Es klappt nicht. So ist es, und alle bleiben irgendwie traurig und verdattert zurück. Die Moral von der Geschichte lautet vielleicht, dass der Blick zurück wenig einbringt, zu hadern nicht lohnt und eine Reise viele Wunden heilt und Narben zum Verschwinden bringt. Der melancholische Unterton bleibt. Die Stilsicherheit überzeugt. Somalvico belehrt nicht. Sie erzählt und zwar eine Fabel wie George Orwell nur ohne alle Tragik und politische Konnotationen. Auf diese Weise gelingt ihr, was vielen nicht gelingt, ein Kosmos zu erschaffen, in welchem das Leiden von Schwein zutiefst betrübt und Gott sympathisch erscheint. Von unter 150 Seiten mehr zu erwarten, wäre schlichtweg unfair.
Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Ist das noch Literatur, die Gegenwartsliteratur?
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Moritz Baßler, seines Zeichen Literaturwissenschaftler an der Universität Münster, fühlt in seinem neuesten Buch „Populärer Realismus“ den aktuellen Bestsellern und Buchpreisbüchern auf den Zahn. Die Gegenwartsliteratur zeichne sich durch Realismus aus, und Realismus bedeutet für Baßler, dass die Sprache als Medium nicht in Erscheinung tritt, sondern nur als Mittler, als unsichtbares Zeichensystem, das direkt in die Welt der Erzählung leitet:
„Der Realismusbegriff, der in diesem Buch verwendet wird, bezieht sich also ausdrücklich auf die Machart der Texte und nicht auf ihren Inhalt. Gespenstergeschichten, Science-Fiction und Fantasy-Romane enthalten zwar Dinge, die in unserer Realität womöglich nicht vorkommen (Gespenster, Vampire, Androiden, Drachen, Zauberer). Sie sind aber trotzdem realistisch erzählt […]“
Die Differenz, die Baßler anbietet, besteht zwischen Diegese, die Allheit der erzählten Welt, und Mimesis, die Anverwandlung an die Erzählposition. Traditionelle Romane wie von Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“ oder Hermann Broch „Der Tod des Vergils“ betonen qua Wortwahl und Rhythmus ein situatives, dechiffrierendes Lesen, in welchem das Lesen sich als Tätigkeit stets bewusst bleibt, also eine Vermittlungsleistung zwischen Schreiben und Lesen im Akt vollzogen wird. Romane des Populären Realismus, so Baßler, lassen die Zeichenwelt verschwinden und ziehen ihr Publikum direkt in die verhandelte Welt, d.h. das Universum von Romanen wie „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ oder Christian Krachts „Eurotrash“ ist bereits das bekannte, durch Medien und andere Bücher vorverdaute Universum, auf das nur verwiesen, das nicht mehr beschrieben zu werden braucht. Laut Baßler handelt es sich hier strenggenommen nicht mehr um Literatur:
„Überhaupt trifft alles hier Gesagte für Fantasy-Literatur, als Inbegriff des Populären Realismus, ziemlich genau zu. Um also auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen, ob Fantasy überhaupt noch in einem emphatischen Sinne Literatur ist, muss die ehrliche Antwort wohl lauten: Nein!“
Was übrigbleibt, im Kontext der neuen Schreibweise, besteht im direkten Bejahen dieser Ambivalenz, das wäre die Popliteratur nach Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre, oder das Verschleiern dieser Ambivalenz durch Übernahme von Topoi, Duktus und Stil, ohne je den Zeichencharakter des Textes in den Fokus geraten zu lassen, das wäre Populärer Realismus im Sinne von Daniel Kehlmann oder Martin Mosebach. Beide Formen erzählen realistisch. Beide Formen haben nichts mit dem Versuch der Literatur gemein, neue Sinnlichkeitsformen poetisch emergieren zu lassen. Der Unterschied besteht nur in der sich selbst zugedachten Rolle. Ironisiert Kracht, belehrt Kehlmann. Setzt sich Stuckrad-Barre nicht mehr in die Tradition eines Thomas Mann, imitiert Mosebach gerade diesen:
„Populärer Realismus und Pop-Literatur, deren beider Merkmale sich in „Tschick“ [von Wolfgang Herrndorf] finden, sind also, so betrachtet, Alternativen auf dem Feld einer neuen realistischen Erzählliteratur. Leitkunst des Populären Realismus ist der Spielfilm: Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung und Naturalisierung. Er macht dabei tendenziell unsichtbar, was die Pop-Literatur ausdrücklich betont: die Äquivalenz, die Nebenordnung von Möglichkeiten: Dominanz der Diegese, des Archivs, Markenparadigmen, Parallelwelten, auch Serialität, verbunden mit einer Schwächung der Handlung, oft des Narrativs selbst.“
Baßler stellt sich klar auf die Position der Pop-Literatur. In diesem Sinne untersucht er u.a. Sebastian Fitzeks „Der Heimweg“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ und andere in der Kategorie Populärer Realismus, und Dietmar Dath „Gentzen“ und Christian Krachts „Eurotrash“ und Wolfgang Haas‘ „Müll“ für selbstkritische, selbstreflektierte Pop-Literatur. Die traditionelle Literatur gerät hier unter die Räder, und es wird schlicht und ergreifend behauptet, dass sich die Gegenwartsliteratur nicht mehr mit den Begriffen der klassischen Literatur beschreiben lässt. Diese scharfe Trennungslinie wirkt aber überhastet und verengt Moritz Baßlers Text auf eine gelungene Beschreibung der Gegenwartsästhetik, ohne Anschluss aber an eine kommunikative Produktivmachung dieser dominanten Erzählstrategien für Publikum und Schreibende. Hierfür hätte es eines weniger klassischen Kommunikationsbegriffes bedurft, der kybernetisch auf der Höhe der technologischen Entwicklung sein Ziel nicht in Bewertung und Beurteilung, sondern in der Entfaltung von Mitteilungsmöglichkeiten sieht.