Jonathan Franzen: „Crossroads“

Die Welt aus Schall und Rauch … Spiegel Belletristik-Bestseller 40/2021

Epen in Gesangsform sind längst aus der Mode gekommen. Die Zeit wird nicht mehr in Reimen besungen. Metrische Einschübe, Assonanzen, Apostrophen dienen nicht mehr, das eigene Zeitgefühl verlautbaren zu lassen. Kein neuer Homer mit einer weiteren „Odyssee„, noch ein Dante Aligheri mit einer neuen „Göttlichen Komödie„, oder ein nächster Hölderlin auf der Spur nach einer Fortsetzung des „Hyperion„s ist in Sicht. Das Epos der Neuzeit ist der Roman, die Epopöe des Gegenwärtigen. Georg Lukacs hat es bereits vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Theorie des Romans angekündigt. Walter Benjamin in Erfahrung und Armut analysiert. Leo Tolstoj mit Krieg und Frieden, Boris Pasternak in Doktor Schiwago bewiesen. Nun eben auch Jonathan Franzen in seinem neuen Roman „Crossroads“, den Auftakt einer Trilogie.

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Ariane Koch: „Die Aufdrängung“

Coming-of-Age Roman der besonderen Art … „aspekte“-Literaturpreis 2021

Coming-of-Age Romane erfreuen sich stets großer Beliebtheit. Das Erwachsenwerden bildet ein noch immer universell verbindendes Thema in einer zunehmend hochspezialisierten Welt. Trotz oder gerade wegen der hohen Komplexität und Verschiedenheit der Lebensumstände eignet sich der Übergang von der Jugend in die Mündigkeit, von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit stets aufs Neue, um das Weltganze in seiner unmittelbaren Gesamtheit zu beleuchten und auf seinen Sinn hin zu befragen. „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch reiht sich in diesem Sinne nahtlos in die Reihe der anderen Coming-of-Age Romane des Jahres, besitzt aber eine äußerst eigentümliche, beinahe bizarre Note und steht völlig für sich.

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Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“

An den Abgründen vorbeigeschrieben … Nobelpreis für Literatur 2021

Wer nach der Bekanntgabe des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers nach einem Buch von diesem gesucht hat, wird nur in Glücksfällen ein Exemplar ergattert haben. Abdulrazak Gurnahs Romane und Texte sind im deutschsprachigen Raum schon lange nicht mehr aufgelegt worden und waren zu diesem Zeitpunkt selbst antiquarisch eine Seltenheit. Mit „Das verlorene Paradies“ liegt nun eine Neuauflage der Übersetzung von Inge Leipold vor, die das erste Mal 1996 erschienen ist. Der Roman behandelt die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Tansania. Der Protagonist ist Yusuf, dessen Aufwachsen und Erwachsenwerden zwischen Gewalt, Einsamkeit, Verzweiflung und Sprachlosigkeit beschrieben werden. Das dominierende Problem lautet Geld, und um Geld geht es auch, als Yusuf am Anfang des Romans von seinen Eltern als Pfand einem Händler namens Aziz überlassen wird. Gleich zu Anfang des Romans wird also klar, dass die Umstände wenig Raum für Besinnlichkeit, Romantik und Sanftheit lassen.

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Marie NDiaye: „Die Rache ist mein“

Poetische Stille sanfter Verzweiflung – eindrucksvoll und nachwirkend.

Viele Gegenwartsromane behandeln Gewalt gegen Frauen. Beispielsweise Zeruya Shalev in „Schicksal“, in welcher Rachel, eine ehemalige Terroristin, mit ihrer Rolle als Mutter, als Witwe und Staatsbürgerin hadert und gegen emotionale Entfremdung kämpft; oder Leila Slimanis Roman „Das Land der Anderen“, in welchem ebenfalls Kolonisierung thematisiert wird, Befreiungskriege und -kämpfe und die gewaltsame Unterwerfung einer Frau unter die herrschenden Sitten und traditionellen Bräuchen in Marokko beschrieben werden. Beide Romane erzählen die Geschehnisse aus großer Distanz, beinahe nüchtern und kühl, journalistisch. Anders dagegen Hengameh Yaghoobifarah in „Ministerium der Träume“, das nicht nüchtern, eher wild dem Schmerz freien Ausdruck lässt und einen Staat anprangert, der junge Frauen nicht ausreichend vor sexuellen Übergriffen schützt. Zwischen hitziger Beschimpfung und sachlicher Beschreibung finden sich in der gegenwärtigen Literaturlandschaft alle möglichen Abstufungen. „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye lässt sich darin dennoch nicht einordnen. Der Roman verhandelt das Thema expressiv, sprachlich, weniger narrativ, inhaltlich und erschließt auf diese Weise eine eigene Schmerzzone emotionaler Gefangenschaft, vergleichbar mit der Fragment gebliebenen Romantrilogie „Todesarten“ von Ingeborg Bachmann.

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Jenny Erpenbeck: „Kairos“

Eine „Ästhetik des Widerstandes“ der Gegenwart … Spiegel Belletristik-Bestseller 40/2021

Die Nacherzählungen allgemeiner Geschichte enden allzu oft in sehr nüchternen, fragmentierten, blitzlichtartigen Zusammenstellungen und Kollagen von Ereignissen, die entweder weitestgehend bekannt sind oder unbekannt im Zusammenhang mit solchen stehen. Ein Beispiel ist Gerd Loschütz und sein Rechercheroman „Besichtigung eines Unglücks“ oder Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“, oder klassisch unwiederholbar in Trockenheit und Masse und Detailreichtum Thukydides „Der Peloponnesische Krieg“.  Geschichte, ob als Kollage oder Roman, lebt von Details, von vielen winzigen Einsprengseln verdichteter Temporalisierungsbemühungen. So auch Jenny Erpenbecks neuester Roman „Kairos“, benannt nach dem rechten Maß, die gute Gelegenheit, dem günstigen Augenblick. In ihrem Roman findet sie tatsächlich die Balance, das richtige Maß zwischen Persönlichem und Allgemeinem, zwischen Intimen und Politischen, zwischen Zeitgeschichte und Alltag eines mittlerweile verschwundenen Staates: die DDR.

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Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“

Eine Odyssee zwischen Mut und Ohnmacht … Deutscher Buchpreis 2021

Auktoriale Romane über Gewaltverbrechen pendeln notgedrungen zwischen den Extremen: zwischen Voyeurismus und Verzweiflung. Die meisten beuten das Geschehnis aus. Das Skandalon, die physische und psychische Gewalt obsiegt und bedient die Sensationslust. Die anderen ergeben sich zumeist der Ohnmacht und gleichen einem Stoßgebet, es möge Gerechtigkeit auf Erden herrschen, es möge sich nicht wiederholen. Die einen nehmen also für sich in Anspruch, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, um das pädagogische Potenzial des Schreckens und Erschreckens zu entfachen (als hervorragendes und fehlgeleitetes Beispiel hier: „Der Heimweg“ von Sebastian Fitzek); die anderen appellieren an die emotionale Macht der Sprache, um gegen Gewalt Einspruch zu erheben, um Kommunikation zu ermöglichen, wo Stummheit die Opfer nur ein weiteres Mal verwunden würde (so schmerzhaft in „Raum“ von Emma Donoghue vorexerziert). Von allen typischen Varianten gelingt Antje Rávik Strubel mit „Blaue Frau“ der bestmögliche Ausweg aus einer selbstgewählten Unmöglichkeit und ausweglosen Aufgabe: das Metalyrische.

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Hervé Le Tellier: „Die Anomalie“

Heiter weiter … Prix Goncourt 2020

Die französische Avantgardeliteratur nach dem Surrealismus, also seit den 1950er Jahren, hat viele Stilblüten und Sonderbarkeiten hervorgebracht. Man denke an die Besessenheit, Temporalisierungen aufzuheben, eines Michel Butor, oder szenische Filmdichtungen in einer Villenlandschaft zu kreieren wie Alain Robbe-Grillet, oder die Welt zu unterminieren, Subversion in dramengetriebener Rundum-sprachlichkeit zu demonstrieren, wie Marguerite Duras, oder das vollendete „Buch der Fragen“ von Edmond Jabès, das dem Geheimnis der Kommunikation nachspürt. Neben poetologischen Revolutionen und aufgebrachten Sprachrevolten zog als Antwort auch der Strukturalismus in die Gefilde der Romanlandschaft ein und es entstand eine Art Formalliteratur rundum die Gruppe Oulipo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle). Hervé Le Tellier ist einer von ihnen, und es liegt ein neuer Roman von ihm vor: „Die Anomalie“.

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Claudia Durastanti: „Die Fremde“

Mit dem Kopf durch die Wand ins fröhliche Leben … Shortlist der Premio Strega

Claudia Durastanti ist eine Journalistin, aktive Redakteurin, vielgereiste Person zwischen Europa und den USA pendelnd, und hat bereits einige Romane selbst geschrieben, und nicht nur über solche auf Festivals und Messen berichtet. Von ihren vier Romanen ist nur „Die Fremde“ ins Deutsche übersetzt. Zudem wurde der Roman auf der Shortlist der Premio Strega gesetzt und ist bislang Durastantis erfolgreichstes Buch. Sie beginnt ihren Roman „Die Fremde“ mit dem Wort „Familie“ als Überschrift, einem Motto von Emily Dickinson: „After great pain, a formal feeling comes“ und nach dem Wort „Mythologie“ mit den ersten Sätzen ihres Textes:

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Bernardine Evaristo: „Mädchen, Frau etc.“

Eine unpathetische Hymne auf die Vielfalt … (Spiegel Belletristik Bestseller 15/21)

Bernardine Evaristo bietet mit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ eine eigenartige und bemerkenswerte Kommunikation an. Ihr Roman handelt von zwölf Frauen, verwoben, fern wie nah, verwandt, über mehrere Ecken befreundet, bekannt mit einer Theatermacherin namens Amma, die über ihren rebellischen Schatten springt und ein Theaterstück namens „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre in London inszeniert. Dieses Theaterstück verbindet all diese Schicksale auf vielfältige Weise, bringt jene zusammen, die sich sonst nie kennenlernen oder über den Weg rennen würden: hochtrabende Intellektuelle, miesepetrige Lehrerinnen, drogensüchtige Eventmanagerinnen, abenteuersüchtige Teenager, karriere- und geldorientierte Bänkerinnen, alte wie junge Frauen und Männer aus den verschiedensten Lebenssituationen bunt zusammengewürfelt. Der Text ist so überladen, lang, in sich verknotet und verschlungen, dass er zu einer Momentaufnahme, ein Blitzlicht wird, ein kurzes Photo, ein post in einer langen Reihe von posts, eine story in der story, Gedankeneskapaden inmitten von vielen, anderen, gleichartigen, anderen, ähnlichen Erinnerungen, Eingebungen, Phantasien und Projektionen.  

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