
Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:
„Daniel Kehlmann: „Lichtspiel““ weiterlesenMama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.
Daniel Kehlmann aus: “Lichtspiel”