Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

Lichtspiel
Ein Phantomschmerzspiel … Spiegel Belletristik-Bestseller (November 2023)

Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:

Mama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.

Daniel Kehlmann aus: “Lichtspiel”

Inhalt/Plot:

Die transatlantischen Beziehungen spielen in Lichtspiel eine große Rolle. Es geht um das Wettrennen zwischen dem europäischen Film und Hollywood, um die Ufa und die Warner Brothers, um Fritz Lang mit Metropolis (1927) und David W. Griffith mit Intoleranz (1916). Pabst spielt da eine eher unglückliche Rolle. Als er nämlich wegen der Machtübernahme der NSDAP in die USA emigrierte, halten ihn viele für Fritz Lang und nicht für den Regisseur von den Kinokassenschlagern wie bspw. Die freudlose Gasse (1925). Der Roman beginnt konsequenterweise auch nicht mit Pabst, den ewig verwechselten, sondern mit seinem vermeintlichen Assistenten:

Warum bin ich in diesem Auto?
Ich sitze still. Wenn man sich nicht bewegt, kommt die Erinnerung manchmal zurück.
Aber es funktioniert nicht. Fest steht nur, der Fahrer raucht. Das Fahrzeug ist voll von schwerem Qualm. Meine Augen brennen. Mir ist schlecht. Der Mann hat graue Haare, auf seinen Schultern liegen Hautschuppen. Am Rückspiegel pendelt ein kleines Kreuz an einer Perlenkette.

Verwirrt und schlecht im Erinnern wird Franz Wilzek, der getreue Assistent von G.W. Pabst in Lichtspiel, aus seinem Sanatorium ‚Abendruh‘ in ein Filmstudio gefahren, um dort an einer Livesendung mitzuwirken. Seine Erinnerungen gehen aber unterschiedslos ineinander über. Wilzek verhaspelt sich, kramt ein paar Anekdoten heraus, gerät etwas aus dem Ruder beim Erzählen eines Witzes über irgendwelche Pferde, schwankt und stockt. Nur als der Moderator Heinz Conrads nach dem Film Der Fall Molander fragt, verschwindet bei Wilzek jedes Zaudern, und er fährt diesem über den Mund:

«Bei eurem nächsten Film», liest [Heinz Conrads] von der Karte. «Der Fall Molander. Da hat Paul Wegener die Hauptrolle gespielt.»
«Den gibt es nicht.»
«Den Paul Wegener?»
«Diesen Film. Gibt es nicht, der wurde geplant, aber nie gedreht. […] Verdammt! Es ist nicht wahr, es gibt ihn nicht! Es ist ein Irrtum! Eine Lüge.»

In Sprache, Duktus und Thema nimmt hier Daniel Kehlmann die Erfolgsreihe von Susanne Abel Stay away from Gretchen und Was ich nie gesagt habe auf, in welchem die an Demenz erkrankte Gretchen um ihre Vergangenheit und die Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus ringt. Bei Kehlmann füllt nun der ansetzende Roman die Lücken in Wilzeks Gedächtnis selbst auf. Es beginnt mit einer Rückblende: G.W. Pabst in Hollywood unter Palmen am Pool. Er zieht den kürzeren bei seinen Verhandlungen mit den ihn besuchenden Produzenten. Das liegt zum Teil an Pabst selbst, als auch an der Ignoranz seiner Verhandlungspartner, die auf Pabst gebrochenes Englisch keine Rücksicht nehmen wollen:

Pabst nickte dankbar und nestelte an seiner Krawatte, um mehr Luft zu bekommen. Aber am besten, sagte der Mann, habe ihm Metropolis gefallen. Der sei nicht von ihm, sagte Pabst. Der Mann lobte ihn für seine Bescheidenheit. Er konnte nicht älter als dreißig sein, und er war so dünn, dass sein Anblick Pabst, der sich selbst seit seinem zehnten Lebensjahr übergewichtig vorkam, mit Neid erfüllte. Pabst brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das sein Stichwort war: Bescheidenheit. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die orange schillernden runden Gläser, in denen sich der Pool und sein eigenes schwitzendes Gesicht spiegelten. Plötzlich fiel ihm auf, dass der Vogel [von vorhin] immer noch über ihnen im Himmel klebte. Er holte tief Luft.

Pabst leidet an Minderwertigkeitskomplexen gegenüber Fritz Lang, aber auch an seiner Ehe mit Trude und sowieso an seiner viel zu großen Beleibtheit und Unfähigkeit, sich gegen die Produzenten in den USA durchzusetzen. Wie er es prophezeit hat, wird der Film, den sie ihn indirekt aufgezwungen haben, ein Flop, und die Rückkehr nach Europa trotz drohenden Krieges erscheint unvermeidlich, um die eigene Karriere zu retten. In der Atmosphäre am Pool, zwischen Greta Garbo und Louise Brooks, den Sehnsüchten von Pabst, den Cocktails und Schäkereien erinnert in dieser Passage vieles an Benjamin von Stuckrads-Barres eigene Hollywood-Hommage in Noch wach?, zumal Kehlmann ebenfalls sehr distanziert und nüchtern die Stimmung unter Filmleuten wie Stuckrad-Barre das Leben unter Journalisten beschreibt:

«David!», rief Zinnemann auf Englisch. «So großartig, dass du hier bist! Das ist Gertrude Pabst, die Frau meines großen Kollegen. Das ist David Samuelson, bis vor kurzem Paramount, jetzt MGM. Wie geht es Betty?»
«Geht ihr gut», sagte Samuelson. «Sie sind die Frau von Pabst? Ist er auch da? Wir bewundern ihn alle so, seit Metropolis.»
«Weiß Gott!», rief Zinnemann, bevor Trude etwas sagen konnte. «Der beste Film aller Zeiten!»

Zurück über den Atlantik, im Café mit anderen aus Deutschland Emigrierten, nimmt Kehlmann das Patchwork-Erzählen von Florian Illies aus Liebe in Zeiten des Hasses auf. Pabsts Filmträume platzen, aber die Nachricht aus Österreich, dass seine Mutter schwer krank sei, motiviert ihn dennoch, trotz Kriegsgefahr, mitsamt seiner ganzen Familie zurück nach Tillmitsch zu reisen, wo sich sein Anwesen das Schloss Dreiturm befindet, das, wie mehrmals erwähnt gar keine drei Türme besitzt. Dort haben mittlerweile aber die Hausangestellten, die Jerzabeks, die getreue Anhänger des neuen Regimes sind, das Sagen übernommen und Pabsts Mutter aufs Abstellgleis gestellt, wo sich alsbald auch schon die ganze Familie Pabst wiederfindet. Zuerst unwillig, aber von künstlerischen Ehrgeiz getrieben passt Pabst sich an das neue Regime an und dreht bald auf Geheiß des Ministeriums wieder Filme. Sein Konformismus verliert bald jede Hemmungen und Grenzen und erlaubt ihm sogar, Gefangene für den Film Der Fall Molander als Statisten zu zwangsverpflichten:

Da waren sie, reglos, weil man es ihnen befohlen hatte, schweigend, weil sie nicht sprechen durften, Reihe für Reihe, teils hier im Raum und teils jenseits der Spiegel, versuchten aufrecht zu sitzen, weil sie mussten, aber viele konnten nicht, und einige husteten, was sie zwar nicht durften, aber auch nicht unterdrücken konnten. Der Geruch war furchtbar. Franz trat unwillkürlich zurück, schloss die Autotür, ging auf das Studio zu, durchs Spalier der Wächter, aber er wusste, dass er eigentlich schon drinnen war; die Zeit hatte sich verwickelt wie eine Filmrolle […]

Bevor der Film jedoch in die Kinos kommen kann, geht der Krieg und die Filmdosen mit dem Film Der Fall Molander verloren.

Stil/Sprache/Form:

Daniel Kehlmanns Lichtspiel besitzt Episodencharakter. Nur sehr selten erscheint ein organisierender Erzähler. Oft gehen die Perspektiven nahtlos ineinander über, so dass nicht immer klar ist, wer wann was sagt. Zeitsprünge erschweren es zudem, die Entscheidungen der Figuren nachzuvollziehen. Sie geraten teilweise völlig aus dem Blick des Romans. So Trude, Pabsts Ehefrau, die über weite Strecken des Buches gar nicht mehr erwähnt wird; oder sein Sohn Jakob, dessen wachsende Begeisterung für den Nationalsozialismus allenfalls nur schematisch Erwähnung findet. Auf Psychologisierung verzichtet Kehlmann wohl bewusst. Das Who-is-Who-Potpourri, das Florian Illies gerne feuilletonistisch u.a. in Liebe in Zeiten des Hasses ausschlachtet, tritt auch bei Kehlmann auf, um Querschnitte und Silhouetten eines Zeitgeistes einzufangen, der sonst nur im Schatten des Romans herumlugt. Wo sich jedoch Illies mehr der Dekadenz und den Eifersüchteleien widmet, erhält die lakonische, gewollt, auf den Effekt hin empathielose Schreibweise von Kehlmann etwas Furchterregendes:

Und so kam es. Zuck wurde Bauer in Vermont, Wilhelm und Gertrude Pabst fuhren ins Reich, Walter Mehring und Hertha Pauli schafften es nach Amerika, und Adam Grosz erschoss sich in Marseille, als sein Transitvisum abgelaufen war, während Ilse Hochfeld gemeinsam mit ihrem Exmann und seiner neuen Frau noch den Marsch über die Pyrenäen schaffte und in einem spanischen Lager interniert blieb bis zum Ende des Kriegs, danach ging sie zurück und spielte Nebenrollen am Bremer Stadttheater. Maria Cornetti, dünner als je und nicht mehr rauchend, weil ihr die Zigarren ausgegangen waren, wurde aufgegriffen, als sie sich bei Cabriès in einem Heuschober versteckte. In einem Viehwaggon brachte man sie in den Osten und vergaste sie in Majdanek.

Kehlmanns Stil besitzt etwas Protokollartiges, Hastiges, Schnelles. Die Ereignisse verdichten sich teilweise ins Unüberschaubare. Ein inneres Lesechaos wühlt sich durch die Zeilen. Ein-Wort-Sätze, Zwei-Wort-Sätze und Dialog-Schablonen verleihen Lichtspiel eine rastlose, ruhelose, angespannte Stimmung, die dort glänzt, wo gesellschaftliche Zwangslagen beschrieben werden. Beobachtet vom ganzen Dorf in Tillmitsch, bewertet, beurteilt und bedroht von den Hausangestellten und den zwei Töchtern, erinnert der Aufenthalt in Schloss Dreiturm an Stephen Kings Shining. Hier passt der atemlose, ans Filmische angelegte Stil, sobald er Paranoia, Flucht und Angst vor den gewaltbereiten Mitmenschen und den drohenden Lynchmobs zum Ausdruck verhilft:

Er habe die Koffer gestern selbst hereintragen müssen, sagte Pabst. Regen sei eingedrungen, die Kleider seien durchnässt, der Tabak sei ruiniert. Aus dem Ausland zurückkommen und stänkern, sagte Jerzabek. Zurückkommen und den großen Herrn spielen, als sei nichts passiert. Es sei aber eine Menge passiert, und in dem Ton brauche man einem Ortsgruppenleiter Jerzabek nicht zu kommen, oder man werde sich schnell anderswo wiederfinden. Die Pendeluhr an der Wand füllte die Stille mit trägem Ticken. Der Hirschkopf starrte.

In Kehlmanns Lichtspiel bleiben sich alle Figuren untereinander fremd, und alle führen den jeweils anderen und auch sich selbst an der Nase herum. Sie spielen ein falsches Spiel. In diesen Verhältnissen wirkt der ehrliche Hass des Jerzabek, eine hervorstechende Szene im Buch, wie ein kalter Schock.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Daniel Kehlmanns Lichtspiel, wie auch Die Vermessung der Welt, besitzt eine eigenartige Trotzigkeit in Bezug auf geschichtliche Vorgänge und glaubwürdige Szenarien. Er hält sich einerseits strikt an historische Figuren und Kulissen, sammelt Details, collagiert diese, aber lässt keinen auktorialen, organisierenden Erzähler darüber gleiten wie andere, eher historistisch orientierte Autoren, bspw. Illies, die sich am Bewerten und Vergleichen amüsieren und auch vor psychologische Übergriffigkeiten nicht zurückschrecken:

Ja, dieser scheinbar so friedliebende, sanftmütige Autor [Hermann Hesse] mit Strohhut und sonnengegerbter Haut ist tatsächlich ein ziemlicher Neurotiker, wenn er sich bedrängt fühlt (und das fühlt er sich eigentlich immer). Selten, wenn er gute Laune hat (und die hat er eigentlich nie), dann malt er auf die Hausbriefe sogar ein Vögelchen drauf oder aquarelliert einen Baum in seinem warmen Kinderbuchstil.

Florian Illies aus: „Liebe in Zeiten des Hasses“

Andererseits erzählt Kehlmann auch abstrus und schnell, etwas gehetzt und zackig, wie es für das postmoderne Schreiben üblich geworden ist, in Alltagssprache, Stenographien, in Ausrufen, Interjektionen, aber ohne diese Freiheit in einen popliterarischen Witz eines Christian Krachts oder Stuckrad-Barres umzumünzen:

Die Feelgood-Managerin, die mich tatsächlich zu dem Schluss brachte, es sei kaum möglich, dass sie NICHT komplett bekifft war, vielleicht ja auch IN ANLEHNUNG ANS SILICON VALLEY durchgängig mit MICRODOSING unterwegs und da heute einfach versehentlich macrodosiert, die Feelgood-Managerin also sagte: Es gibt unendlich viel Platz, viel frische Luft und ein Innen, das fast wie ein Außen aussieht oder fast draußen ist!

Benjamin von Stuckrad-Barre aus: „Noch wach?“

Kehlmann, der Dritte im Bunde, verbindet in Lichtspiel historische Fiktion mit Gegenwartsalltagssprache, Ernst mit Unernst, Beliebigkeit mit eigenartiger, sich selbst auferlegter Materialstrenge, indem er auf Altes rekurriert, das Alte evoziert, ohne jedoch diesem einen zuverlässigen Zusammenhang zu verleihen. Dies geschieht mit vollem Bewusstsein des Autors, der jegliche Form narrativer Verbindlichkeit suspendiert, wenn dieser, hier über Die Vermessung der Welt, sagt:

Selbst wenn es zufällig so gewesen sein sollte, wie ich es schildere – was ich, unter uns gesagt, durchaus für möglich halte –, so wäre [der Roman] trotzdem nicht in landläufigem Sinn „zutreffend“.

Daniel Kehlmann aus: „Diese sehr ernsten Scherze“

Es lässt sich dann jedoch fragen, wieso Figuren wie Georg Wilhelm Pabst oder Alexander von Humboldt gewählt werden. In diesem Sinne lässt sich Daniel Kehlmann als literarisch-legitimierter Tratsch verstehen, oder als Verdachtshermeneutik, die über historische Figuren Annahmen in die Welt setzt, die jeder Faktenbasis entbehren, zum anderen die Freiheit aber nicht nutzt, um fröhlich über die Stränge zu schlagen und köstlich wie Illies mit Bonmots zu unterhalten, wie es ihm nach Erzählanlage ja möglich wäre. Ernsthaft und doch komplett unverbindlich, diese eigenartige Mischung zeichnet auch Daniel Kehlmanns neuesten Roman Lichtspiel aus, historische Distanz jedenfalls nicht, sonst würde er Adolf Hitler beim Namen nennen und ihn nicht als „Führer“ bezeichnen:

Pabst hatte ein großes Büro erwartet, nicht aber ein so großes. Der Raum hätte über hundert Menschen fassen können; aber alles, was er enthielt, war ein riesiger Teppich und, weit entfernt, ein Schreibtisch mit einem Telefon und zwei Stühlen. An der Wand dahinter – so weit weg, dass man blinzeln musste, um es zu erkennen – hing ein golden gerahmtes Bild des Führers.

Weder schreibt Kehlmann in Lichtspiel personal, noch aus der Ich-Perspektive. Er schreibt aus einer freischwebenden Kameraperspektive, diese aber würde lediglich einen grimmig dreinblickenden Mann mit Schnurrbärtchen sehen. Es bleibt dem Publikum überlassen, zu entscheiden, was wahr, was nicht wahr, was erfunden oder was es für wahrscheinlich hält. Eine Meinung oder Haltung seitens des Autoren schimmert jedenfalls nicht durch. Die Rolle des getreuen, aber unzuverlässigen Korrepetitoren hat Kehlmann mit Lichtspiel jedenfalls einmal wieder nicht verlassen.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 12. September 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Bespreche ich Thomas Hettches Roman Die Sinkenden Sterne.

Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

16 Antworten auf „Daniel Kehlmann: „Lichtspiel““

  1. Eine großartige Rezension *Hutzieh*
    Es scheint mir, dass der Kehlmann so gut nicht bei dir wegkommt *g*
    Bei mir übrigens auch nicht. Seine bisherigen Bücher kamen mir irgendwie verkwer …
    LG vom Lu

    1. Ja, ich habe mir wiederum viel Mühe gegeben – Kehlmanns Stil zündet bei mir nicht. Schon Vermessung der Welt hinterließ den faden Beigeschmack, dass Kehlmann über jemanden, den er Alexander von Humboldt, herzieht. Dieses Mal ist es Pabst gewesen. Ich verstehe das Buch nicht. Es besitzt aber diese sehr kurze, interessante Passage, in der die Pabst Familie zurück in die Heimat kommen (Kehlmann nennt dies “zurück ins Reich”) und dort diese gespenstische Umwälzung vorfinden. Ich hätte das Buch sehr gerne in dieser dörflichen Situation weitergelesen. Mir standen die Haare zu Berge, aber nun muss ich weiterhin mit Hermann Brochs “Die Verzauberung” vorliebnehmen, in welchem das auch stattfindet. Ich werde nicht mehr häufig zu Kehlmanns Texten greifen. Ich bin wahrscheinlich auch nicht sein Publikum, habe ich das Gefühl, und verstehe ich deine Worte richtig, du auch nicht 🙂 Viele Grüße und Inspiration wünsche ich!

      1. ja, ich auch nicht (mehr), wobei ich mich durch die vermessung der welt noch habe blenden lassen, nicht mehr aber durch den tyll … herzliche grüße vom lu

    2. “Kehlmann versucht erst gar nicht glaubwürdig zu sein und erreicht dadurch, zumindest gemessen an den Kommentaren und Kritiken, eine eigenartige Glaubwürdigkeit.” Noch einmal – zum letzten Mal 🙂 – über historische Romane: Wer über eine historische Figur schreibt, hat wohl eine Beziehung zu ihr, wird also net völlig daneben liegen. Bei Kehlmann mag das eigenartig sein, bei anderen net…..

      1. Ich denke, “Lichtspiele” kann auf seine Weise auch sehr unterhaltsam und kurzweilig empfunden werden – viele Rezensionen bezeugen dies. Ich bin für produktive Lesearten dieser quasi-historischen Prosa sehr offen – ich verfolge gar kein anderes Ziel, als mich Bücher zu öffnen. “Lichtspiele” blieb mir hermetisch verschlossen. Es wäre mir eine Freude zu wissen, was ich verpasst habe. “Tyll” habe ich leider noch nicht gelesen. Vielleicht hole ich das nach! Vielen Dank und Grüße!

  2. Habe Kehlmanns Buch nicht gelesen, würde es wohl gerne, wie auch Florian Illies…(“”Liebe in den Zeiten…”), besonders nach Deinen Besprechungen. Tja, was ist Geschichtsschreibung? Ist nicht alle Geschichtsschreibung auch Roman? Selbst Theodor Mommsen war in der Schlacht bei Lützen nicht dabei, genausowenig wie Leo Perutz (“Der schwedische Reiter” – historischer Roman
    ). Nun höre ich den Einwand: “aber Geschichtsschreibung fusst auf glabwürdigen Quellen…”. Hm, was ist denn “glaubwürdig”? Etwa die Berichte der Medien über den Krieg in der Ukraine? Welcher Reporter war denn da? Und ferne Vergangenheit ist es nicht, wir müssten also erfahren können “wie es wirklich war”. Doch jede Seite in einem Konflikt berichtet parteiisch. Frag Trump.

    1. In Bezug auf Geschichtsschreibung habe ich mich nicht auslassen wollen, da das sicherlich in die sehr schwierige Bestimmung des Glaubwürdigen und Ideologischen abgleitet. Kehlmann versucht erst gar nicht glaubwürdig zu sein und erreicht dadurch, zumindest gemessen an den Kommentaren und Kritiken, eine eigenartige Glaubwürdigkeit. Das wiederholt das Prinzip der romantischen Ironie auf dem Gebiet der Historiographie – die Frage, die sich mir stellt, wieso überhaupt noch an Namen, Begebenheiten anschließen, warum diese permutieren, verschlieren, wenn nicht Konfusion und völlige Orientierungslosigkeit das geheime Ziel des Schreibens darstellt? Ich habe das Gefühl, nachdem Lesen von Kehlmanns Buch, das eigentlich gar nichts richtig verständlich ist, und dass die Entlastungsstrategie sehr befreiend wirkt. Viele Grüße.

  3. Wie du Kehlmanns Stil in diesem Buch beschreibst, kommen mir Filmschnipsel beim Cut in den Sinn. Um entscheiden zu können, ob es sich um die hinausgeworfenen oder erhaltenen Schnipsel handelt, müsste man das Buch erst lesen. Es klingt bei dir aber nicht so, als habe sich Kehlmann die Mühe gemacht, die Stücke wieder zusammenzukleben.
    Braucht der Autor für sein Vorgehen eine historisch verbürgte Figur? Wäre nicht ein fiktiver Protagonist günstiger?
    Vielleicht braucht es die Anmutung von Tratsch über einen realen Menschen, um LeserInnen festzuhalten, wenn man ansonsten die Kohärenz verweigert?
    Oder geht es vielleicht gar nicht um eine Person, sondern um eine Collage typischer Momente einer bestimmten Branche in der Zeit des Nationalsozialismus?
    Ich habe Kehlmans Vermessung der Welt damals sehr gern gelesen – es genügte mir die Fantasie darüber, wie es gewesen sein könnte. Aber es war eher die Atmosphäre, die der Text schuf, als die äußeren Ereignisse, die mich fesselten.

    1. Ich denke, bei solchen Werken wie die von Kehlmann, dass sie zu inkohärent, formal zu gewollt, inhaltlich zu konstruiert sind, als dass sie einen innigeren Begriff von Form und Inhalt anstreben. Es ist reine Unterhaltung, die aber durch ihre Verweisstruktur (symbolisch) auf eine mögliche tiefere Beschäftigung verweist, die dann aber (nur als Versprechen) im Inneren (als in die Zukunft verschobener Eigenanspruch) den Autor wie das Publikum im Jetzt beruhigt: “Später mehr, aber jetzt ist erst einmal das geschafft” (Regieanweisung: Verschnaufen). Ich denke, dass die Idee einer leichten, skizzierten, fröhlichen Aneignungsweise mit komplexen Stoffen wie eine Karotte vor der Nase hängt (allen Beteiligten). Wer nur ein wenig von Gauß weiß, nur ein wenig von Alexander von Humboldt gelesen hat, den ziehen sich die Zehennägel hoch, wenn Kehlmann über sie zu schwadronieren beginnt, aber d.h. nicht, dass das in irgendeine Weise verwerflich wäre – es ist die Fröhlichkeit des Nichtbeteiligtseins, im Grunde genommen ein für sich elaborierter Versuch des völligen Vergessens und Verschiebens – (“ach der Humboldt, der Schlingel, und der Pabst, na ja, der zarte dickliche, ganz böse, ganz gut war er auch nicht”). So hat meine Oma gerne geredet und die hab’ ich gern und denke gerne an sie zurück, wenn sie einen Keks in ihren Kaffee taucht und sich dem Tratsch hingibt. Jetzt bin ich auch ihr fast gewollt, Kehlmann erneut nur dieses Mal unter dem Aspekt als großmütterliche Kaffeetisch-Szenerie wieder zu entdecken. Friedlich und fröhlich. Viele Grüße!

  4. Seit Kurzem lese ich mit wachsender Begeisterung diesen Blog, der mich manchmal an das Kind erinnert, das im Märchen ruft: Der hat doch gar keine Kleider an.
    Bei den Bemerkungen zu Kehlmann und dem Umgang mit historischen Stoffen fällt mir (ohne ihn gelesen zu haben) ein, was hier noch nicht zu stehen scheint, wie gut sich nämlich so etwas verkauft. Romane über Künstler*innen oder ihre Werke (gerade im Buchhandel: “Das Geheimnis der Mona Lisa”) vermitteln ein wohliges Gefühl wie der Durchgang durch die neueste (überlaufene) Monet-Ausstellung: Da scheint Bildung stattzufinden, ohne dass man sich dabei sonderlich anstrengen muss. Und bei den großen Namen sind sich alle einig, dass das Kunst ist.
    Von den Autoren und Autorinnen kommen diejenigen auf die Bestsellerlisten, die keine Scheu davor verspüren, sich an diese Themen zu wagen, vielleicht gerade deshalb, weil sie eigentlich nicht das Format dafür besitzen. Wichtig für den Verkauf ist vor allem, das jede*r schon einmal von den Protagonisten gehört hat.

    1. Ja, diese Beobachtung trifft ziemlich den Kern – es geht um eine Entdifferenzierung der Vergangenheit, um eine auch etwas überhebliche Haltung dem Vergangenen gegenüber, da nun ja alles klar ist und sich alles in einem deutlichen Licht zeigt. Warum also nicht ein paar Striche und aus die Maus. Kehlmann schreibt über Angstthemen auf eine Weise, die einem vorgaukelt, es gab nie Gründe zur Angst – die gibt es auch nicht, aber aus anderen Gründen. Die Überhöhung als solche ist das Problem, das freiwillige Unterordnen, das aber betreibt Kehlmann auf seine Weise noch immer, nur indem er Götzen ex negativo kreiert. Aber als bildungsgesättigte Unterhaltungsliteratur dient es zur Freude von vielen. Wer mehr darin sieht, mehr Schuld, also ja, ich teile die Sicht. Danke für den wichtigen Kommentar!! Viele Grüße!

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