Ursula Knoll: „Lektionen in dunkler Materie“ [Das Debüt 2022]

Lektionen in dunkler Materie
Zwischen allen Stühlen in einer kühlen Welt … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022”

Die Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft verwischen schnell, sobald die Rede auf Raum und Zeit, auf Relativitätstheorie oder Quantenmechanik kommt. Moderne Theorien besitzen durch ihre allegorischen Motive eine hohe poetische Anziehungskraft. So handelt Juli Zehs Roman Schilf von Physikern, die die Viel-Welten-Theorie erforschen. In Anomalie von Hervé Le Tellier wird diese bereits Realität. Zukunft und Vergangenheit mischen sich und führen zu einer Verdopplung eines Flugzeugs, indes im vergleichbar bescheidenen Buch Immer wieder die Zeit von Alan Lightman der junge Albert Einstein verträumt durch Bern wandelt und von Turmuhrschläge zu seiner Gravitationstheorie inspiriert wird. Zurück in die Quantenwelt handelt Dirac von Dietmar Dath von der Renitenz des gleichnamigen Grundlagenforschers gegen herrschende Meinungswelten, und selbiges zieht Ursula Knoll nun aus der allgemeinen Relativitätstheorie und legt mit Lektionen in dunkler Materie ihren Debütroman vor:

Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält. Es ist unklar, woraus es besteht, woraus es entstanden ist oder was es sonst noch tut. Man kennt nur seine Funktion. Es ist einfach da und der Grund für unsere Existenz.

Ursula Knoll aus: “Lektionen in dunkler Materie”
„Ursula Knoll: „Lektionen in dunkler Materie“ [Das Debüt 2022]“ weiterlesen

Sibylle Berg: „RCE“

Sibylle Berg hat einen Text geschrieben. Auf dem knallpinkfarbenen Cover steht „RCE“ und darunter „#RemoteCodeExecution“ und etwas versteckt und ganz weit unten auf dem Rand des pinkfarbigen Buchdeckels „Roman|Kiepenheuer&Witsch“, als wäre es ein Zugeständnis, eine Art disponierbarer Zusatz an eine Öffentlichkeit, die schließlich wissen will, was das ist, was sie da kauft. Manifest oder Literatur? Gehackte Wirklichkeit? Oder Fiktion? Berg macht es einem nicht leicht. Sie will es einem nicht leicht machen. Sie will es 700 Seiten lang und 700 Gramm schwer, zäh und widerborstig konkret. Nur mit der Welt macht sie kurzen und schmerzlosen Prozess:

In diesem Moment. Es könnte auch der nächste Moment sein oder morgen.
Sind überall auf der Welt, in Geschäftsetagen, in Genossenschaften, in Wohnungen, Konzernen, an der Börse in Hinter- und Vorderzimmern, auf Märkten, im Netz, auf Heiratsschwindlerbörsen, Geschlechtsverkehrplattformen, Enkeltrickbetrüger-Foren, in Galerien und Banken, Menschen damit beschäftigt einander zu betrügen.

Sibylle Berg aus: “RCE”
„Sibylle Berg: „RCE““ weiterlesen

Kalenderwoche 20: Lesebericht.

Kalenderwoche 20: Lesebericht.

Diese Woche stand ganz im Zeichen von Ágota Kristóf, Sibylle Berg und Gotthard Günther. Eine seltsame Mischung: Kristóf ganz versunken im Weltwahrnehmungs-Jetzt, Günther über die Zukunft einer transplanetarischen, kybernetischen Kultur schwadronierend, während Berg mit Semantik und Sinnstiftung kurzen Prozess mit Vergangenheit und Zukunft macht. Die Fetzen flogen auf dem Schreibtisch. Trotzdem haben sie sich irgendwie verstanden. Oft stelle ich mir ein lebhaftes Gespräch zwischen den Autoren und Autorinnen, die ich gerade lese, vor, wie sie voreinander sitzen und sich geduldig zuhören, den Kopf nicken, hier und da inspiriert, dann und wann verdattert. Kristóf war von allen die offenste und interessierteste.

„Kalenderwoche 20: Lesebericht.“ weiterlesen