Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Monstrosa
Monstrosa … ungeminderte Lebensbejahung.

Die enge Lokalisierung in Zeit und Raum, wie bei einem Kur- oder Krankenhausaufenthalt, führt zu Ausbruchsphantasien und surrealistischen Aufbegehrungsdynamiken bei der eng aufeinander bezogenen, sich gegenseitig nicht entkommen könnenden Beleg- oder Patientenschaft. Literarische Beispiele finden sich in Thomas Manns Beschreibung des Schneesturmes in Der Zauberberg, in Olga Tokarczuks Empusion, in welchen jedem Spätherbst eine Art Opferfest unter den Kurgästen ausbricht, oder auch Rainald Goetz‘ Roman Irre, wo der Arzt selber ausbricht und es nicht mehr aushält. Mit Bettina Wilperts Herumtreiberinnen hat Rhea Krčmářovás Monstrosa gemein, dass hauptsächlich die Gruppendynamik junger Frauen narrativ bearbeitet wird. Bei Wilpert in den sogenannten Tripperburgen, bei Krčmářová im Klinikum Gertraudshöhe, nahe Wien, wo Wege aus Essstörungen heraus gesucht werden:

An das, was danach passiert war, hatte ich mich nur in Bruchstücken erinnern können: zusammengekauert am Fliesenboden im Bad sitzen, sich das Leid aus dem Leib würgen, hoffen, dass der grobe Brei aus Essen, Trauer und Magensäure die Stimme nicht allzu sehr angreift. Danach den Kühlschrank plündern wollen, leer vorfinden, spüren, wie das Loch sich bis ins Unendliche ausdehnt. Aufstehen, in mein Zimmer gehen, den Klavierdeckel öffnen, wo alles in der WG Verbotene versteckt war. Chips in meinen Mund schieben, zwei Tüten, nicht schmecken, ob das Paprikaaroma war oder Zwiebel oder Sauerrahm, dann noch eine Packung Kekse, halb gekaut im zitternden, schmerzenden Magen, gegen das Loch ankämpfen, für einige Minuten zumindest. Dann wieder würgen, alles entleeren. Die Monster blubbern und lachen hören.

Rhea Krčmářová aus: „Monstrosa“
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Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“ (Das Debüt 2023)

Zeiten der Langeweile
Zeiten der Langeweile …   Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Zurückweisung in romantischen Angelegenheiten wird in der Literatur auf verschiedenste Weise verarbeitet. In Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) erschießt sich der gleichnamige Protagonist; wie auch die Protagonistin Marie aus Maria Borrélys Mistral (1930) die Heirat ihres Angebeteten nicht anders ertragen kann, als sich in einem See zu ertränken. Heinrich Bölls Hans aus Ansichten eines Clowns (1963) entschließt sich zu einem Leben als Landstreicher und Straßenmusiker, wohingegen der Ich-Erzähler aus Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1822) lieber das Weite sucht und so zurück zu seiner Herzensdame findet. In Jenifer Beckers Romandebüt Zeiten der Langeweile verarbeitet die Ich-Erzählerin Mila die Trennung von ihrem Freund Nicki auf radikale Weise. Sie zieht sich aus allen sozialen Beziehungen mehr und mehr zurück:

Zuerst digitaler Detox und dann der Anfang eines analogen, eintönigen Lebens, wo ich in einem unaufgeregten Büro ohne Social-Media-Auftritt arbeiten würde, dem Druck enthoben, ständig irgendjemanden beeindrucken zu müssen. Als mich mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nie einhielt.

Jenifer Becker aus: „Zeiten der Langeweile“
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Benjamin Labatut: „Maniac“

Maniac
Maniac von Benjamin Labatut … Krachend,
fesselnd, explosiv
substanzlos.

Die Wissenschaft als hintergründiges Schema, das unsere Welt beherrscht, der sprichwörtliche Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr loswird, die er gerufen hat, beschäftigt die Literatur in vielen Formen. Zumeist wird die der Biographie gewählt, eine Persona inszeniert, die die Welt auf seinen Schultern trägt, verantwortlich zeichnet und sowohl Fortschritt wie Angst vor der eigenen Courage vereinigt. Dietmar Daths Gentzen oder: Betrunken aufräumen oder Dirac stehen für eine solche Literatur Pate; auch Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, oder Steffen Schroeders Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor. Benjamin Labatut legt nun mit Maniac einen weiteren Versuch vor, in welchem es unter anderem um Johann (John) von Neumann geht:

Zum Dank, dass ich [Theodore von Kármán] mich für ihn eingesetzt hatte, schickte mir von Neumann seine Dissertation. Sie hätte nicht ehrgeiziger sein können. Er trachtete nach dem Heiligen Gral. Von Neumann hatte sich vorgenommen, die reinsten und grundlegendsten Wahrheiten der Mathematik zu finden und als unanfechtbare Axiome auszudrücken, Aussagen, die nicht widerlegt werden könnten und die widerspruchsfrei wären, Gewissheiten, die niemals verblassten oder entstellt würden und somit – einer Gottheit gleich – zeitlos wären, unwandelbar und ewiglich.

Benjamin Labatut aus: „Maniac“
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